Sujet traité, thème inconscient
Niemals kann das sujet traité, sujet conscient, Träger der künstlerischen Wahrheit sein kann, sondern immer nur les thèmes inconscients, les archétypes involontaires, où les mots, mais aussi les couleurs et les sons prennent leur sens et leur vie: wohl kein Prosawerk hätte Deleuze* nachhaltiger in dieser Auffassung bestätigen können als dasjenige Sebalds. Mehr noch als für seine anderen Bücher gilt das für die Schwindel.Gefühle, fast könnte man meinen, das Buch käme ganz ohne sujet traité und sujet conscient aus. Man wird nicht unterstellen wollen, das Buch sei im Zustand der Bewußtlosigkeit geschrieben worden, aber der Dichter hat wohl mehr nach innen gelauscht als nach außen geschaut. Er hört und sieht, wie der Jäger Gracchus und andere Jäger sich von Kafka zum Erzähler bewegen und auch, obwohl Kafka sie doch erst erfunden hat, zu Stendhal, der Erzähler begegnet dem heiligen Georg, nachdem er ihn zunächst auf Bildwerken alter Meister bewundert hat, in überraschender Reinkarnation im deutschen Konsulat zu Mailand, er spürt wiederholt zwei ihm offenbar nicht wohlgesonnene Augenpaare auf sich gerichtet, in Hotels und Museen trifft er auf die eine oder andere Weise beeindruckende Empfangsdamen, in den Zügen wunderschöne weibliche Mitreisende, im Bus Kafkas verdoppelten Doppelgänger und so fort, er sieht ein weißes türkisches Taubenpaar, das mehrmals hintereinander mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel sich erhebt, eine kleine Ewigkeit stillsteht in der blauen Himmelshöhe und dann, vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut, herabsegelt: was ist bei all dem das übergreifend behandelte Thema?
Als unverfälschtes literarisches Werk ohne ersichtliches Sujet traité müßten die Schwindel.Gefühle vor allen anderen Werken des Dichters geschätzt werden, da es aber den wenigsten Lesern um Literatur und den meisten um Themen geht, bei denen sie mitreden können, ist das naturgemäß nicht der Fall. Als Chef-d'œuvre wird gemeinhin Austerlitz angesehen, ein ordentliches Buch, fast ein Roman, mit einem ordentlichen Thema, mehr noch, mit dem Thema schlechthin, dem Holocaust. Einige haben den Dichter wegen der würdigen Behandlung dieses Sujets zum Prince littéraire de la Shoah ernannt, und man hat ihm auch unterstellt, mit seinem gesamten Schaffen habe er nichts anderes angestrebt als eben diese Ernennung. Wieder andere sind verwirrt von der ungewöhnlichen Behandlung des Großen Themas: Man müsse die Hälfte des Textes, gut zweihundert Seiten, hinter sich bringen, um auch nur auf die Spur eines Gehalts zu treffen, bis dahin Reise- und Begegnungsbanalitäten, die die einzige Funktion haben, die Seiten zu füllen. – Was aber hat den Dichter veranlaßt, überflüssige Seiten zu füllen? Richtig ist, Reise- und Begegnungsbanalitäten, wenn man sie denn so nennen will, die Empfangsdamen an den Rezeptionen der Hotels und den Kassen der Museen, die Mitreisenden in den Zügen und Flugzeugen, die Bahnhöfe und Flughäfen zählen bei Sebald zu den unverzichtbaren archétypes, où les mots prennent leur sens et leur vie. Austerlitz ist nicht anders zu lesen als die Schwindel.Gefühle, dann füllen sich die vermeintlich leeren gut zweihundert Seiten wie von selbst. Grundsätzlich ist auch die umgekehrte Lesart möglich, daß nämlich die kaum mehr als zweihundert Seiten starken Schwindel.Gefühle leer und ganz ohne Spuren eines Gehalts sind. Trifft man auf diese Einschätzung, ist allerdings, wie der Volksmund ganz richtig sagt, Hopfen und Malz verloren.
Ein anderer Kritiker, weniger radikal, merkt an, der Holocaust eigne sich nicht für embroidery. Man kann dem die Zustimmung nicht ganz versagen, gilt doch für das Holocaustthema die erste Position des Dekalogs: Ich bin das Thema aller Themen, du sollst nicht andere Themen haben neben mir. Das Große Thema erdrückt alles unter seiner Last, die umgebende Motivflora verdorrt oder, richtiger noch, sie wird von der themenbewußten Leserschaft als Unkraut gejätet. War der Dichter gut beraten, mit den Mitteln seiner Prosa, die ihren Kunstcharakter keinem Sujet traité opfert, das Große Thema anzugehen?
*Ähnlich Cioran: La valeur intrinsèque d'un livre ne dépend pas de l'importance du sujet, mais de la manière d'aborder l'accidentel et l'insignifiant, de maitriser l'infime. L'essentiel n'a jamais exigé le moindre talent.
Niemals kann das sujet traité, sujet conscient, Träger der künstlerischen Wahrheit sein kann, sondern immer nur les thèmes inconscients, les archétypes involontaires, où les mots, mais aussi les couleurs et les sons prennent leur sens et leur vie: wohl kein Prosawerk hätte Deleuze* nachhaltiger in dieser Auffassung bestätigen können als dasjenige Sebalds. Mehr noch als für seine anderen Bücher gilt das für die Schwindel.Gefühle, fast könnte man meinen, das Buch käme ganz ohne sujet traité und sujet conscient aus. Man wird nicht unterstellen wollen, das Buch sei im Zustand der Bewußtlosigkeit geschrieben worden, aber der Dichter hat wohl mehr nach innen gelauscht als nach außen geschaut. Er hört und sieht, wie der Jäger Gracchus und andere Jäger sich von Kafka zum Erzähler bewegen und auch, obwohl Kafka sie doch erst erfunden hat, zu Stendhal, der Erzähler begegnet dem heiligen Georg, nachdem er ihn zunächst auf Bildwerken alter Meister bewundert hat, in überraschender Reinkarnation im deutschen Konsulat zu Mailand, er spürt wiederholt zwei ihm offenbar nicht wohlgesonnene Augenpaare auf sich gerichtet, in Hotels und Museen trifft er auf die eine oder andere Weise beeindruckende Empfangsdamen, in den Zügen wunderschöne weibliche Mitreisende, im Bus Kafkas verdoppelten Doppelgänger und so fort, er sieht ein weißes türkisches Taubenpaar, das mehrmals hintereinander mit einigen wenigen klatschenden Flügelschlägen steil über die Wipfel sich erhebt, eine kleine Ewigkeit stillsteht in der blauen Himmelshöhe und dann, vornüberkippend mit einem kaum aus der Kehle dringenden gurgelnden Laut, herabsegelt: was ist bei all dem das übergreifend behandelte Thema?
Als unverfälschtes literarisches Werk ohne ersichtliches Sujet traité müßten die Schwindel.Gefühle vor allen anderen Werken des Dichters geschätzt werden, da es aber den wenigsten Lesern um Literatur und den meisten um Themen geht, bei denen sie mitreden können, ist das naturgemäß nicht der Fall. Als Chef-d'œuvre wird gemeinhin Austerlitz angesehen, ein ordentliches Buch, fast ein Roman, mit einem ordentlichen Thema, mehr noch, mit dem Thema schlechthin, dem Holocaust. Einige haben den Dichter wegen der würdigen Behandlung dieses Sujets zum Prince littéraire de la Shoah ernannt, und man hat ihm auch unterstellt, mit seinem gesamten Schaffen habe er nichts anderes angestrebt als eben diese Ernennung. Wieder andere sind verwirrt von der ungewöhnlichen Behandlung des Großen Themas: Man müsse die Hälfte des Textes, gut zweihundert Seiten, hinter sich bringen, um auch nur auf die Spur eines Gehalts zu treffen, bis dahin Reise- und Begegnungsbanalitäten, die die einzige Funktion haben, die Seiten zu füllen. – Was aber hat den Dichter veranlaßt, überflüssige Seiten zu füllen? Richtig ist, Reise- und Begegnungsbanalitäten, wenn man sie denn so nennen will, die Empfangsdamen an den Rezeptionen der Hotels und den Kassen der Museen, die Mitreisenden in den Zügen und Flugzeugen, die Bahnhöfe und Flughäfen zählen bei Sebald zu den unverzichtbaren archétypes, où les mots prennent leur sens et leur vie. Austerlitz ist nicht anders zu lesen als die Schwindel.Gefühle, dann füllen sich die vermeintlich leeren gut zweihundert Seiten wie von selbst. Grundsätzlich ist auch die umgekehrte Lesart möglich, daß nämlich die kaum mehr als zweihundert Seiten starken Schwindel.Gefühle leer und ganz ohne Spuren eines Gehalts sind. Trifft man auf diese Einschätzung, ist allerdings, wie der Volksmund ganz richtig sagt, Hopfen und Malz verloren.
Ein anderer Kritiker, weniger radikal, merkt an, der Holocaust eigne sich nicht für embroidery. Man kann dem die Zustimmung nicht ganz versagen, gilt doch für das Holocaustthema die erste Position des Dekalogs: Ich bin das Thema aller Themen, du sollst nicht andere Themen haben neben mir. Das Große Thema erdrückt alles unter seiner Last, die umgebende Motivflora verdorrt oder, richtiger noch, sie wird von der themenbewußten Leserschaft als Unkraut gejätet. War der Dichter gut beraten, mit den Mitteln seiner Prosa, die ihren Kunstcharakter keinem Sujet traité opfert, das Große Thema anzugehen?
*Ähnlich Cioran: La valeur intrinsèque d'un livre ne dépend pas de l'importance du sujet, mais de la manière d'aborder l'accidentel et l'insignifiant, de maitriser l'infime. L'essentiel n'a jamais exigé le moindre talent.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen