Dienstag, 18. Juli 2017

Wohnstuben

Willkür der Erinnerung

Auf die Wohnung in W. und vor allem auf das Wohnzimmer, in dem er seine Kindheit verbracht hat, schaut der Erzähler mit Vorbehalten, aber mit aller Klarheit und Detailfreude zurück: ein massiver Wohnzimmerschrank, in dem die Tischdecken und vieles mehr aufbewahrt wurde; eine Kredenz, auf welcher eine in seltsamen Farbtönen lasierte irdene Bowle und zwei Blumenvasen symmetrisch angeordnet waren, ein ausziehbarer Eßtisch mit sechs Sesseln; eine Couch mit einem Sortiment handgearbeiteter Kissen; zwei kleine Alpenlandschaften in schwarzlackierten Rahmen, ein Rauchtischchen mit Zigarren- und Zigarettendosen; Vorhänge und Stores, Deckenleuchte und Stehlampe und diverse Zimmerpflanzen. Was immer der Heranwachsende in der Fremde vermißt haben mag, als er beizeiten das Elternhaus verlassen hatte, das Wohnzimmer mit den genannten Einrichtungsgegenständen war es nicht, gleichwohl oder auch gerade wegen der inneren Distanz hat er es mit photographischer Genauigkeit vor Augen.

Aurach dokumentiert das elterliche Wohnzimmer der Einfachheit halber mit einer Photographie und erspart sich so weitere Worte. Im Traum war er durch eine mit erstaunlicher Kunstfertigkeit gemalte trompe-l'œil-Türe in ein tief verstaubtes, seit Jahren offenbar nicht mehr betretenes Kabinett gelangt, das er nach einigem Zögern erkannte als das Wohnzimmer seiner Eltern. Wer hat das dazu passende Photo eingestellt, hatte Aurach es aus seinem Archiv beigesteuert oder hat der Erzähler ein ihm als passend erscheinendes Bild hinzugetan? Aurach geht auf das Bild nicht weiter ein und widmet seine Aufmerksamkeit dem ein wenig seitwärts auf dem Kanapee sitzenden Herrn zu, der als Traumgestalt naturgemäß auf dem Bild nicht zu sehen ist. Herr Frohmann, gebürtig aus Drohobycz mit einem Modell des Tempels Salomonis auf dem Schoß. Man müßte in den Sklepy cynamonowe, den Zimtläden des Bruno Schulz nach Frohmann suchen. Auch Hamburger kehrt im Traum in die elterliche oder auch die großelterliche Wohnung zurück, Traumfetzen aus der Vergangenheit mischen sich mit gegenwärtigen. Zögernd tritt er über die Schwelle, und schon weiß er nicht mehr, wo er ist. Es braucht in der Traumzeit wohl eine Stunde und mehr, bis er begreift, daß er sich nicht in dem Haus in Middleton befindet, sondern in der weitläufigen Wohnung der Eltern der Mutter in der Bleibtreustraße. Und jetzt ist hier alles versammelt, die Berliner Verwandtschaft, die deutschen und die englischen Freunde, seine Schwiegerleute, seine Kinder, die Lebendigen und die Toten. Vom Fenster aus erblickt er in der Ferne eine schlesische Gegend. This is Myslowitz, a place somewhere in Poland, hört er seinen Vater sagen.

Als der Erzähler in jungen Jahren die elterliche Wohnung verläßt, verbleibt sie ihm wie eine im Gedächtnis abgelegte und dort jederzeit abrufbare Akte. Für Aurach und Hamburger war der Auszug aus der elterlichen Wohnung gleichbedeutend mit der Zerstörung des bisherigen Lebens und zugleich begann die schleichende Zerstörung der Erinnerung, die doch besonders gefragt gewesen wäre. Nur undeutliche Traumbilder steigen auf. Was man eher vergessen will, kann man nicht vergessen, und was man als einen Schatz im Gedächtnis behalten möchte, vergißt man. Vielleicht ist es aber auch nur eine bloße und unberechenbare Willkür des Vergessens und Erinnerns. Hinter dem Vergessen tauchen slawische Orte auf, Drohobycz, Myslowitz, so als habe man heimgefunden in ein verheißenes Land jenseits der Erinnerung und des Vergessens. Selwyn stammt wahrhaftig aus der Gegend von Grodno, die Wohnung hat er nur noch im ausgeräumten Zustand vor Augen, besser erinnert er sich an den Cheder.

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