Sonntag, 2. Juli 2017

Arglose Leserinnen

Beim Gurkenschneiden


In einem schönen Absatz seines Buches D‘autres vies que la mienne kommt Emmanuel Carrère auf die arglosen Leser zu sprechen. In Vorbereitung auf seinen, des Autors, Besuch hatte man der Mutter seines Schwagers L’adversaire zu lesen gegeben. Im gewohnten Pariser Umfeld hatte niemand Anstoß an dem in diesem Buch geschilderten Horror genommen, man hatte darin einen Beweis seines Mutes gesehen und es ihm als Verdienst angerechnet. Les lecteurs plus candides aber, wie die alte Frau, der Carrère, dem die aufrichtige Teilnahme am Todesfall in der Familie anzusehen ist, freundlich und wohlerzogen, wie er ist, gerade beim Gurkenschneiden hilft, können nicht anders, als etwas Verdrehtes (tordu) in ihm zu vermuten, etwas Unglückliches, en tout cas quelque chose chez lui qui ne va pas. Und wie, so fragt sich Carrère, sollte er diesen Lesern, die offenbar vertrauenswürdiger sind als seine Pariser Kumpane, nicht recht geben. Der verquere Autor mit seiner arglosen Leserin beim gemeinsamen Gurkenschneiden, eine schönere literarische Symbiose ist schwer vorstellbar.

Der von Schwindelgefühlen geplagte Dichter, der am liebsten mit arglosen Kollegen wie Robert Walser und Ernst Herbeck verkehrt, wird auch unter den Lesern die arglosen bevorzugen. Luciana Michelotti ist die allererste überhaupt, die, über seine Schulter hinweg, seine Prosa zu Gesicht bekommt. Ohne Zweifel hat er ihr ein Exemplar des fertiggestellten Werkes zugesandt. Vielleicht im Winter darauf hat sie, die während der Saison lückenlos an der Rezeption und an der Theke zu wirtschaften hatte, Zeit für die Lektüre gefunden, geäußert hat sie sich nicht dazu. Auch sie mag den seltsamen Gast, freundlich und wohlerzogen wie er zweifellos war, gleichwohl un poco torto gefunden haben. Nach dem Tode der Mathild Seelos war dem Dichter ihre die hinterlassene Bibliothek zugefallen, die ihm immer wichtiger geworden war. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun. Wo mag er die Schwindel.Gefühle eingereiht haben, um die Mathild zu seiner posthumen Leserin zu bestellen? Daß er sie eingereiht hat, steht außer Frage, nicht außer Frage steht allerdings, ob die Mathild wie die Luciana, bei der wir allen Grund für diese Annahme haben, zu den arglosen Leserinnen zu rechnen war, wir wissen einfach zu wenig über sie.

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