Montag, 15. Oktober 2018

Norditaliener

Rudimentäre Typologie

In einer Bar an der Riva kommt der Dichter mit einem Venezianer namens Malachio, Astrophysiker seines Zeichens, ins Gespräch. Malachio sieht alles aus größter Entfernung, nicht nur die Sterne. Astrophysikalischer Erkenntnisgewinn und altmetaphysische Überlegungen zur Auferstehung des Fleisches sind ihm gleich nah und fern. Der Leser, genauer gesagt der Sebaldleser, ist davon angetan, auch wenn er sich keinen rechten Reim darauf machen kann. Salvatore Altamura, den der Dichter vor einer Bar auf der Piazza in Verona trifft, sieht alles aus größter Nähe, zumindest, wenn er seine Lesebrille nicht dabei hat. Er las, die Fernbrille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwa zu entziffern vermochte. Am Feierabend, so Salvatore, rette er sich unter allen Umständen in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag säße er in der Lärmflut der Redaktion, am Abend aber setze er über auf eine Insel, und wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, so käme es ihm jedesmal vor, als rudere er weit auf das Wasser hinaus. Naturgemäß ist der Sebaldleser auch von Altamura angetan. Eine Vorstellung vom Aussehen der beiden wird nicht vermittelt, Malachio scheint heller zu sein, Altamura dunkler.

Norditalien ist nicht ausschließlich von Intelligenzlern bewohnt, die volkstümlichen Schichten legen größeren Wert auf die äußere Erscheinung. Am linken Handgelenk trägt der Brigadiere im Polizeiposten eine riesige Rolexuhr, am rechten Handgelenk ein schweres Goldarmband. Beeindruckend ist der demonstrative Schwung, mit dem er das fertiggestellte Dokument aus der Walze reist. Sein Name wird nicht mitgeteilt, auf dem abgelichteten Blatt ist er kaum zu entziffern. Der Gesprächsertrag ist gering, auf die Frage, ob man mit dem Dokument auch ausreisen könne, ist die lapidare Antwort nur: No siamo in Russia, signore. Vollends sparsam mit den Worten ist der Taxifahrer in Mailand. Die Einordnung Mailands als gefährliches Pflaster beantwortet er nur mit einer Geste der Hilflosigkeit. Das Schmuckbedürfnis ist nach außen verlagert in Gestalt eines bunten Medaillons Unserer Lieben Frau zwischen den Armaturen. Mit einiger Sicherheit kann man zusätzlich eine unterm Hemd verborgene Kette mit dem christlichen Kreuz vermuten.

Zwei Augenpaare sind immer wieder auf den Dichter gerichtet, in Venedig und dann in Verona, er glaubt, es sind immer dieselben. Die Augen sind so groß wie die der Lemuren, die Gesichter bleiben dahinter verborgen. Sind es oberitalienische Augen und Gesichter? Falls es, beängstigend aber sehr unwahrscheinlich, die Augen der GRUPPE LUDWIG gewesen sein sollten, so war Furlan der Sohn eines italienischen Primarius an der Abteilung für plastische Chirurgie, Abel dagegen der Sohn eines deutschen Juristen, er zumindest kein waschechter Oberitaliener.

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