Dienstag, 25. Dezember 2018

Feuersbrunst

Letzte Stunde

Von der Vielzahl der Ansichtskarten, die der Engelwirtin Rosina Zobel im Laufe der Jahre zugeschickt worden waren, ist die eine hervorgehoben, die den rauchenden Kegel des Vesuvs zeigt. Der Dichter hat als Kind die Engelwirtin immer wieder besucht und die Karten jedesmal aufs Neue betrachtet. Von dem Bild des Vesuvs mag seine spätere Vorliebe für Brände, große und kleine, wie auch für den Vorgang der Verbrennung als solchen ihren Ausgang genommen haben. Vor allem anderen für den Herrn und seinen dunklen Kumpan, für die Hölle und das Purgatorium ist das Feuer unverzichtbar, Officium für die abgestorbenen Seelen, brucia continuamente. Brucia di continuo, auch für nomadische Frühmenschen war es einfacher das Feuer zu bewahren als es neu zu entfachen, auf den Streifzügen durch Savanne und Prärie wurde es immer mitgetragen, Witschascha peta, Lordfeuerbewahrer, die vermutlich erste Beamtenstelle der Menschheitsgeschichte.

Für den metaphysischen Bereich ist ein gleichmäßiger, kontrollierter Brand anzunehmen, von Brandschäden in der Hölle oder im Purgatorium ist nie etwas bekannt geworden, abgesehen von den beabsichtigten und immer wieder abheilenden Brandwunden an den Schattenleibern der Verdammten. Anders sieht es aus in der Natur und in den Wohnbezirken der Menschen. Vulkanausbrüche, Gewitter und Dürrezeiten können Brände verursachen, ebensogut menschliche Unzulänglichkeit oder technische Pannen. Der Große Brand von London geht wohl auf beide Ursachenquellen zurück, eine langanhaltende Dürre einerseits und Fahrlässigkeit beim Entfachen und Bewahren von Haushaltsfeuern andererseits. Und nun brennt alles zugleich, die Kirchen, Häuser, Holz und Mauersteine. Am Gottesacker die immergrünen Bäume fangen Feuer. Ein rasend kurzer Fackelbrand, ein Krachen, Funkenstieben und Erlöschen. Ist dies die letzte Stunde? Ein dumpfer, ungeheurer Schlag, das Pulverhaus fliegt auf. Um uns der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. - Der Dichter ist offenbar angetan von der Art, wie Pepys den großen Brand schildert, über seine eigenen Gedanken läßt er uns im Unklaren.

An dem Brand des Luzerner Bahnhofs fühlt er sich dagegen auf eine geradezu mystische Weise beteiligt. Es macht einen Unterschied, ob man von etwas liest, was vor langer Zeit geschah, oder ob man sozusagen Tatzeuge ist. Während eines kurzen Besuchs in der Schweiz sei er am späten Abend auf der Luzerner Seebrücke stehengeblieben und habe zum Bahnhof hinübergeschaut. Ein paar Stunden später dann, als er längst in tiefstem Schlaf in seinem Zürcher Hotelzimmer lag, sei dann in dem Luzerner Bahnhof ein mit großer Geschwindigkeit sich ausbreitendes und den Kuppelbau gänzlich zerstörendes Feuer ausgebrochen. In den nächsten Tagen habe sich dann in seinem Kopf die Vorstellung verdichtet, er sei der Schuldige oder zumindest einer der Mitschuldigen gewesen an dem Luzerner Brand. - Die deklarierten Schuldgefühle waren aber wohl nicht sehr tief, in erster Linie wurden sie, so der Eindruck, der Schönheit wegen ersonnen.

Wie Schiffe trieben nun in der Düsternis die Schemen der Kraftwerke, in denen die Braunkohle glühte, kalkfarbene Quader, Kühltürme, hochaufragende Schlote, über denen weiß gegen den in krankhaften Farben gestriemten Himmel die reglosen Rauchfahnen standen. Nur an der nachtfahlen Seite des Firmamentes zeigten sich ein paar Sterne, rußig blakende Lichter, die eines um das andere ausgingen und Schorfspuren hinterließen in den Bahnen, durch die sie immer gezogen sind. Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen Vulkane, von denen er sich in diesem bösen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles überziehen möchten mit schwarzem Staub. - Der Dichter läßt Austerlitz diese Worte sagen, aber es ist er, der sich den rauchenden Kegel des Vesuvs auf der Ansichtskarte erinnert. Schon immer sind bei Bränden mehr Opfer erstickt als verbrannt. Wie in der Hölle und im Fegfeuer brennen auch auf Erden vor allem die Toten, ein totenstilles Betongehäuse unter einen weißen Rauchfahne, brucia di giorno e di notte.

Donnerstag, 20. Dezember 2018

Te kury

In der Asche

Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Ja, diese Hühner, te kury, immer müssen sie irgendwo graben, wenn nicht in der Erde, dann in den Blättern, wenn nicht im Gras, dann in der Asche. Sie scharren mit dem linken Fuß und picken, sie scharren mit dem rechten Fuß und picken in maßvollem Feuereifer und ruraler Anmut. Immer muß irgendetwas sein. Wenn nicht im Wachen, dann im Traum. Wenn nicht das große Geld, dann das kleine. Etcetera, i tak dalej.

Mittwoch, 19. Dezember 2018

Riding Done

Auflösung

Jugendbilder zeigen den Dichter auf dem Fahrrad, dann wieder auf einem Traktor oder auf einem Pferd, in der Prosa wird von diesen Transportmitteln kein Gebrauch gemacht. Immerhin träumt der Erzähler während einer kurzen jugendlichen Phase der Amerikabegeisterung davon, den fernen Kontinent auf dem Rücken eines Pferdes zu durchmessen. Unter reiterlichen Gesichtspunkten fühlte er sich dafür gewappnet. Kafka stand dem Zeitalter des Pferdes noch weitaus näher, von einer persönlichen Nähe des Prager Dichters zum Reitsport ist nichts bekannt, und doch wünschte er seine Verwandlung in einen berittenen Indianer herbei. Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. – Der Sattel war bei den Indianern kaum in Gebrauch und auch mit dem Zaumzeug war man sparsam, Sporen ließen sich an den Mokassins nicht anbringen, kein Wunder also, wenn es sie nicht gab. Verwunderlich ist aber, daß auch die Zügel fortgeworfen wurden, die es, noch verwunderlicher, ebenfalls gar nicht gab. Wenn schließlich auch Hals und Kopf des Pferdes fehlen, kann eine fatale Auflösung und Zerbröselung der Einheit von Pferd und Reiter sowie insbesondere des Pferdes nicht länger weggeredet werden. Der Umstand, daß für das Land der Indianer keine Heidelandschaften ausgewiesen sind, fällt da kaum noch ins Gewicht. Nur kurz also währt der Wunschtraum des Landarztes vom pfeilschnellen Indianerpferd, denn wer sonst sollte im Auftrag Kafkas diesen Traum geträumt haben. Das eigene Pferd des Arztes war in der letzten Nacht infolge der Überanstrengung im eisigen Winter verendet. Zwei Pferde, mächtige flankenstarke Tiere, die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, treten nun unheildrohend aus dem alten Schweinestall hervor, Rösser nicht nach dem Geschmack der Indianer.

Donnerstag, 13. Dezember 2018

Wunderhund

Indianer sein

Der Dichter hat mit Indianern nicht sonderlich viel im Sinn. Austerlitz kommt auf die in der grünen Wildnis lebenden kleinen, kupfrig glänzenden Leute zu sprechen, aber die sind üblicherweise nicht gemeint, wenn von Indianern die Rede ist, vielmehr die hochgewachsenen Prärieindianer zu Pferde, vornehmlich die Sioux. Als der Dichter sich in der kurzen amerikanischen Phase seiner Jugend auf einem Pferd die Weite des Landes durchmessen sieht, bleibt offen, ob damit für ihn die Verwandlung in einen Indianer verbunden war, wie Kafka sie rundheraus anstrebt: Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. – Dabei waren die Indianer erst seit kurzem beritten, zuvor stand ihnen als Helfer aus dem Tierreich allein der Hund zur Seite. Von den überwältigenden Möglichkeiten, die ihnen das Pferd bot, waren sie so hingerissen, daß sie es Wunderhund, Schunka wakan, tauften. Die Dichter haben sich seit jeher auf den Wunderhund Pegasus verlassen. Der Lakota Tatscha Huschte meinte daher, sozusagen von der anderen Seite aus, das gleiche wie Kafka, als er zu Protokoll gab: Künstler sind die Indianer des Waschitschu, des weißen Mannes. Ja, wenn man den Pegasus zu reiten verstünde wie Kafka oder wie einst die Indianer den Wunderhund.

Dienstag, 11. Dezember 2018

Dux

Chevalier de Seingalt

Zweimal läuft Casanova uns über den Weg, ein schiefes Bild, denn beide Mal ist er am Laufen gehindert. Wenn die Schwindel.Gefühle nach der Erläuterung des Autors ein Buch über die Liebe sind, kann Casanova als der führende Vertreter der sportlich-athletischen Variante auf diesem weithin geschätzten, wenn auch nicht immer komplikationsfreien psychosomatischen Betätigungsfeld nicht fehlen. Auch Stendhal, so sehr er sich müht, fällt ihm gegenüber deutlich ab. Für den Augenblick ist der Held allerdings vom Spielfeld genommen und sitzt ein in den Bleikammern des Dogenpalastes. Die Decke des Gefängnisses ist so niedrig, daß er darin nicht stehen kann. Es herrscht eine furchterregende Hitze, nicht einfach, unter diesen Bedingungen die körperliche Kondition und die geistige Beweglichkeit zunächst für einen erfolgreichen Ausbruchversuch und für alles andere dann später zu bewahren. Mithilfe des Orlando Furioso und einer schwindelerregenden Zahlenakrobatik gelingt es ihm, den richtigen Tag für das Unternehmen zu bestimmen und den Palast sowohl wie die Stadt Venedig zu verlassen. Ob der Chevalier in seiner Spezialdisziplin dann wieder zur alten Größe zurückgefunden hat, darüber läßt der Dichter nichts verlauten.

Als wir ihn Jahrzehnte später erneut treffen, und zwar im böhmischen Dux, ist seine Hochleistungskarriere jedenfalls längst abgeschlossen. Der gealterte Roué ist auf die Größe eines Kindes geschrumpft. Auf dem Schloß des Grafen Waldsteins ist er rastlos beschäftigt mit der Niederschrift seiner Memoiren, zahlreicher mathematischer und esoterischer Traktate sowie eines fünfteiligen Zukunftsromans. Die Puderperücke hat er abgelegt, und sein eigenes schütteres Haar schwebt gleichsam als Zeichen der Auflösung seiner Körperlichkeit wie ein kleines weißes Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schreibt er ununterbrochen fort, man hört nichts als das Kratzen der Feder.

In den Ringen des Saturn finden wir uns unversehens nach China versetzt, dann wieder nach Afrika oder auch nach Amerika, in den Schwindel.Gefühlen werden nur Motive aufgegriffen, die am Wegrand liegen. Für einen Italienreisenden liegt Dux in Böhmen nicht am Wegrand, niemand aber ist gehindert, die in Austerlitz erzählte Episode auch bei der Lektüre der Schwindel.Gefühle im Sinn zu haben. Zum einen ist es die entfernte Fortsetzung der Episode in den Bleikammern des Dogenpalastes, andererseits radikalisiert der Chevalier einen Wandel, der auch bei den anderen drei Autoren zu beobachten ist. Stendhal schildert eine Reise an den Gardasee in Begleitung der imaginären Mme Gherardi, der Umgang mit erdachten Damen ist oft leichter als der mit realen, jedenfalls stören sie kaum beim Schreiben. Kafka ist letztlich froh, als sie Schweizerin aus Genua abreist, nun kann er sich literarisch mit dem Schicksal des Jägers Gracchus beschäftigen. Dem Dichter begegnen auf seiner zweiten Italienreise ständig bezaubernde Frauengestalten, auf allen Stationen der Reise aber sehen wir ihn gebeugt über seine Schreibkladde.

Sonntag, 2. Dezember 2018

Aufschub und Unterbrechung

Leseerlebnis

Dann verstrichen drei Tage: diesen Satz will Sted in der Erzählprosa nicht gelten lassen, kein Tag darf übersprungen werden, jeder Tag hat denselben, durch nichts geschmälerten Anspruch, erzählt zu werden in seinem Verlauf. Tatsächlich vermeidet der Dichter diesen oder ähnliche Sätze, unterbricht andererseits aber den Erzählverlauf abrupt für sieben Jahre, mehr als zweitausendfünfhundert Tage: 1987, sieben Jahre nach der Flucht aus Verona habe er die Reise nach Verona noch einmal gemacht. Auf die Nachricht vom Tod Bereyters hin kommt die Erzählung zunächst erst gar nicht in Gang, nur in Gedanken hat er sich zunächst in den nachfolgenden Jahren vermehrt mit Bereyter beschäftigt und später erst die Recherchen aufgenommen. Dem amerikanischen Onkel, Adelwarth, ist der Erzähler 1951 als Kind persönlich begegnet, kein Wunder, wenn er erst dreißig Jahre danach den Faden wieder aufnimmt, um ihn dann weitere drei Jahre später fortzuspinnen. Genau ein Jahr nach dem Beginn der englischen Wallfahrt ist er ins Spital eingeliefert worden und dort hat er sich zum ersten Mal Gedanken über eine Niederschrift gemacht, die er erst nach einem weiteren Jahr dann tatsächlich in Angriff nimmt. - Aufschübe und Unterbrechungen scheinen zum erzählerischen Programm zu gehören. Gleichzeitig aber fehlen die Unterbrechungen betonende Sätze wie: Sieben Jahre gingen ins Land. Die Sätze ziehen gleichmäßig auf ihrer schönen vor uns aufgerollten Bahn dahin, der Fluß der Prosa tritt an die Stelle der fließenden Zeit, wenn man nicht ausdrücklich auf die Zeitangaben achtet, nimmt man einen deutlich kürzeren Zeitverbrauch an. 

Naturgemäß stehen nur die Unterbrechungen der Präsenz des Erzählers zur Debatte, daß die Biographien der Ausgewanderten, darunter auch Austerlitz, nicht lückenlos aufgeführt werden können, ist ohnehin klar. Bei den zur Erzählzeit noch lebenden Probanden, Selby, Aurach, Austerlitz stellt sich allerdings eine gewisse Synchronizität zu den Ab- und Anwesenheiten des Erzählers ein. Geht man von ein und demselben Erzähler in den vier Prosabänden aus und bildet die Summe der Abwesenheiten, so ergibt sich wohl eine Zahl, die über die menschliche Lebensdauer hinausgeht. Die Summenbildung wäre aber irreführend, die Abwesenheit in einer Erzählung kann mit der Anwesenheit in einer anderen zusammenfallen. 1966, in seinem einundzwanzigsten Jahr, trifft der Erzähler in Manchester ein und noch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre trifft er in Antwerpen mit Austerlitz zusammen. Die erzählte Bekanntschaft mit Austerlitz hält an bis zum Ende der neunziger Jahre. Alle anderen Erzählungen sind also zeitlich in Austerlitz eingebettet, vielfach sind sie zudem ineinander verschränkt, so fällt die erste Beschäftigung mit Bereyter in die siebenjährige Karenzzeit zwischen der ersten und der zweiten Italienreise. Eine sorgfältige wissenschaftliche Untersuchung könnte die verschiedenen Erzählteile ihrer zeitlichen Abfolge nach ordnen und reihen. Die Veröffentlichung des so enstehenden übergreifenden Prosawerks würde zu ganz neuen Leseerlebnissen führen.