Sonntag, 2. Dezember 2018

Aufschub und Unterbrechung

Leseerlebnis

Dann verstrichen drei Tage: diesen Satz will Sted in der Erzählprosa nicht gelten lassen, kein Tag darf übersprungen werden, jeder Tag hat denselben, durch nichts geschmälerten Anspruch, erzählt zu werden in seinem Verlauf. Tatsächlich vermeidet der Dichter diesen oder ähnliche Sätze, unterbricht andererseits aber den Erzählverlauf abrupt für sieben Jahre, mehr als zweitausendfünfhundert Tage: 1987, sieben Jahre nach der Flucht aus Verona habe er die Reise nach Verona noch einmal gemacht. Auf die Nachricht vom Tod Bereyters hin kommt die Erzählung zunächst erst gar nicht in Gang, nur in Gedanken hat er sich zunächst in den nachfolgenden Jahren vermehrt mit Bereyter beschäftigt und später erst die Recherchen aufgenommen. Dem amerikanischen Onkel, Adelwarth, ist der Erzähler 1951 als Kind persönlich begegnet, kein Wunder, wenn er erst dreißig Jahre danach den Faden wieder aufnimmt, um ihn dann weitere drei Jahre später fortzuspinnen. Genau ein Jahr nach dem Beginn der englischen Wallfahrt ist er ins Spital eingeliefert worden und dort hat er sich zum ersten Mal Gedanken über eine Niederschrift gemacht, die er erst nach einem weiteren Jahr dann tatsächlich in Angriff nimmt. - Aufschübe und Unterbrechungen scheinen zum erzählerischen Programm zu gehören. Gleichzeitig aber fehlen die Unterbrechungen betonende Sätze wie: Sieben Jahre gingen ins Land. Die Sätze ziehen gleichmäßig auf ihrer schönen vor uns aufgerollten Bahn dahin, der Fluß der Prosa tritt an die Stelle der fließenden Zeit, wenn man nicht ausdrücklich auf die Zeitangaben achtet, nimmt man einen deutlich kürzeren Zeitverbrauch an. 

Naturgemäß stehen nur die Unterbrechungen der Präsenz des Erzählers zur Debatte, daß die Biographien der Ausgewanderten, darunter auch Austerlitz, nicht lückenlos aufgeführt werden können, ist ohnehin klar. Bei den zur Erzählzeit noch lebenden Probanden, Selby, Aurach, Austerlitz stellt sich allerdings eine gewisse Synchronizität zu den Ab- und Anwesenheiten des Erzählers ein. Geht man von ein und demselben Erzähler in den vier Prosabänden aus und bildet die Summe der Abwesenheiten, so ergibt sich wohl eine Zahl, die über die menschliche Lebensdauer hinausgeht. Die Summenbildung wäre aber irreführend, die Abwesenheit in einer Erzählung kann mit der Anwesenheit in einer anderen zusammenfallen. 1966, in seinem einundzwanzigsten Jahr, trifft der Erzähler in Manchester ein und noch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre trifft er in Antwerpen mit Austerlitz zusammen. Die erzählte Bekanntschaft mit Austerlitz hält an bis zum Ende der neunziger Jahre. Alle anderen Erzählungen sind also zeitlich in Austerlitz eingebettet, vielfach sind sie zudem ineinander verschränkt, so fällt die erste Beschäftigung mit Bereyter in die siebenjährige Karenzzeit zwischen der ersten und der zweiten Italienreise. Eine sorgfältige wissenschaftliche Untersuchung könnte die verschiedenen Erzählteile ihrer zeitlichen Abfolge nach ordnen und reihen. Die Veröffentlichung des so enstehenden übergreifenden Prosawerks würde zu ganz neuen Leseerlebnissen führen.

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