Samstag, 29. August 2020

Auf den Gleisen, in der Luft

Unterwegs mit Fremden

Das Fliegen ist dem Gespräch nicht zuträglich, man sitzt eng in einer Dreierreihe, links und rechts jemand, mit dem man eher keine Worte wechseln möchte. Bei langen Flügen und turbulenzenfreien Wetter mögen Passagiere im Mittegang zu Gesprächen zusammenfinden, von derartigen Erlebnissen berichtet der Dichter nicht. Beim Nachtflug nach Manchester, dem ersten Flug des Dichters überhaupt, befinden sich nur wenige Passagiere an Bord, die, in ihre Mäntel gehüllt, weit voneinander entfernt in dem halbdunklen und ziemlich kalten Gehäuse saßen. Beim Überseeflug nach Newark setzt die Erzählung überhaupt erst nach der Landung ein, viel Meinungsaustausch, lange Gespräche gab es wohl nicht im Flugzeug. Im Flugzeug nach Calvi sitzt einen Mann mit einem riesigen Buckel vor, auf dem Flug nach Wien eine von der Bechterewschen Krankheit arg getroffene ältere Dame neben ihm, Gespräche kommen nicht auf. Stachura hat Fernreisen geschätzt, geht literarisch aber keinen Schritt über die Grenzen Polens hinaus, mögliche Erlebnisse in der Luft werden uns in seinen Büchern vorenthalten. (In Się, einer Sammlung später Erzählungen, bereits im Bann der Ganzen Wahrheit, der Fabula rasa, öffnen sich die Grenzen, es trägt das in ein Się (man) verwandelte Ich (ja) bis San Luis Potosi, die einzigartige Prosa aber hat einer fragwürdigen Philosophie Einlaß gewährt und ihren Glanz verloren. Się hat sich verfahren, die Kraft des Einfachen, potęga prostoty, ist verloren.)

In den Zügen geht es deutlich angeregter zu. Dostał się pod koła, pokatulkało go i kaput, alle Fahrgäste scheinen an der Diskussion über Zbigniew Cybulskis Unfalltod zu beteiligt, alle mit Ausnahme Jan Praderas, den Cybulskis Tod so hart trifft, daß er ihn während der ganzen Zeit bei den Holzfällern nicht aus dem Kopf bekommt. Szerucki fährt mit der Bahn am Tag, Dzienna jazda pociągiem, und er fährt in der Nacht, Nocna jazda pociągiem, er erreicht sein Ziel, wenn er denn ein Ziel hat, am frühen Morgen, Jeden dzień. Während der Nachtfahrt entwickelt Szerucki eine wahre Theorie des Gesprächs in Zügen. Die meisten würden zunächst stumm beieinander sitzen und erst nach einiger Zeit die ersten Worte wechseln. Es gebe aber auch die andere Fraktion, die gleich loslegt und alsbald wieder verstummt. Meistens würde sich dann eine Zwischenraum der Ruhe ergeben, weil die ersten schon wieder und die zweiten noch schweigen. Er selbst gehört zu keiner der beiden Gruppen, als Schwarzfahrer, dem nicht an der Fahrt, sondern an einer Unterkunft für die Winternacht gelegen ist, schweigt er beharrlich, um nicht aufzufallen, ja byłem najcichszy, ich war der allerstillste. Während der Zugfahrt am Tage sitzen sechs Fahrgäste im Abteil, das Gespräch wird vorwiegend von zwei Handwerkern geführt, einem Frisör und einem Bauarbeiter sowie von einer Frau, die immer erklärt, was ihr Mann dazu sagen würde, wenn er denn im Zug säße. Szerucki schweigt.

Im Fall des Dichters wurden die Gespräche und, mehr noch, die auch in seinem Fall ausbleibenden oder verpaßten Gespräche in der Bahn unter der Rubrik Mitreisende bereits sorgfältig aufgezeichnet. Da ist die alte Frau, die mit ihrem Federmesser Schnitz um Schnitz ihren Apfel zerteilte, die abgeschnittenen Stücke zerkiefelte und die Schale in ein Papiertuch spuckte, man will nicht unbedingt mit ihr sprechen, weniger noch mit dem schwer vor sich hin schnaufenden Mitreisenden, der in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herumwälzte. Dumm und stumm ist man dann wiederum dagestanden, ohne auf das Gesprächsangebot der Winterkönigin einzugehen. Auf der Fahrt nach Mailand ist das Abteil erfüllt von beredtem Schweigen, der Franziskanerin und des bunt gekleideten Mädchens, dem leisen Geräusch beim Umblättern der Buchseiten. Ac ati.

Donnerstag, 20. August 2020

Die ganze Wahrheit

Los niezłomny: Unbeugsames Schicksal

Całej prawdy nie znam, die ganze Wahrheit kenne er nicht. Er sei immer bereit und bemüht, so Szerucki, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. Die ganze Wahrheit aber könne er nicht sagen, weil er sie nicht kenne. Kto zna, niech powie, wer sie kennt, möge von ihr berichten, er könne der bekannten Gerichtsformel nicht genügen. Ein Hauch von Kafkas Gerichtsmaschinerie steigt auf, aber das ist es nicht, nie tyle to, darum geht es nicht. Ein Wahrheitsbegriff wird nicht vorgestellt. Gibt es einen Begriff der Ganzen Wahrheit? Wer auf die alte Frage antworten könnte, warum Etwas ist und nicht vielmehr Nichts, der wüßte womöglich die ganze Wahrheit. Die Unzugänglichkeit der Wahrheit löst einen Bewegungszwang aus, an die vierzig Kilometer habe er hinter sich gebracht, bevor er sich auf einem Hügel im Gras niederlassen konnte. Sich wälzen auf den Blättern am Boden und dann stilliegen. Naturgemäß ging es bei all dem nicht um Wahrheitssuche, sondern um Erschrecken und Flucht. Denken kann er nicht, w głowie lekki szum, im Kopf ein leises Rauschen, Schwindelgefühle. Szedlem w kółko, im Kreis sei er im übrigen gegangen, das Ziel, der Hügel nur wenig entfernt vom Ausgangspunkt der langen Wanderung. Ganz ähnlich ergeht es dem Dichter in der Heide von Dunwich. Wie betäubt von dem wahnsinnigen Blühen wandert es auf der hellen Sandbahn dahin, bis er zu seinem Erstaunen sich wiederfindet vor demselben verwilderten Wäldchen, aus dem er vor etwa einer Stunde hervorgetreten war. Ob vielleicht eine zusätzliche Beschäftigung mit Fragen der Wahrheit und zumal der ganzen Wahrheit die Unaufmerksamkeit des Wanderers weiter beflügelt und vom Weg abgebracht hatte, davon verlautet nichts, der Dichter war in der Frage der ganzen Wahrheit wohl ein wenig abgeklärter. Bewegung und dann Ruhe, beides im Wechsel, im Gras liegen wie auch der vom Dichter behütete Kafka, der allerdings nicht auf einem Hügel lagert, sondern drunten am See, vor sich die Wellen im Schilf, zur Rechten die Landzunge. Auch den im Gras Liegenden erschließt sich die Wahrheit keineswegs. Der Erzähler kann im Vorbeigehen, im Fluß der Erzählung nur flüchtige Wahrheiten auffangen, daran ändert das anschließende Lagern auf dem Hügel oder am See nichts.

Stachura hat die Bemühungen um die ganze Wahrheit nicht aufgegeben und schließlich geglaubt, sie in Anlehnung an die Lehren des indischen Guru Jiddu Krishnamurti gefunden zu haben. Dem eher ratlosen Leser hat er die ganze Wahrheit in Fabula Rasa vorgesetzt. Stachura selbst war dem, was er für die ganze Wahrheit hielt, nicht auf Dauer gewachsen.

Donnerstag, 13. August 2020

Ansichtskarten

Unterschiedliche Nutzung

Der alte Engelwirt hatte vor seiner Heirat mit der Rosina Zobel einen Großteil seines Vermögens in der Weltgeschichte verfahren und als Beleg und Ertrag seiner Anstrengungen eine mehrere hundert Stück umfassende Ansichtskartensammlung angelegt, für den Dichter as a young child, yn fachgen ifanc, ein wahres Studienparadies. Schwerpunkte der Sammlung waren einmal Abbildungen aus dem südlichen Deutschland samt Österreich und der Schweiz sowie den angrenzenden östlichen Bereichen, sodann Karten aus Italien mit einem Bild des rauchenden Vesuvs als Höhepunkt und schließlich Karten aus verschiedenen Überseegebiete, vor allem dem Fernen Osten. Es fällt auf, daß Stachura, der in der Rzeczpospolita Ludowa als Genie für die Beschaffung von Auslandsstipendien galt, genau diese Bereiche eher ausgelassen und sich stattdessen auf Amerika, insbesondere Mittel- und Süd-, aber auch Nordamerika, den Nahen Osten mit Schwerpunkt Syrien und Nordeuropa spezialisiert hatte. Es heißt, er habe von seinen Reisen Ansichtskarten an sich selbst verschickt hat, genauer gesagt an seine Wohnadresse in Warschau, nicht aber adressiert an seinen Namen, sondern an Edmund Szerucki, Jan Pradera und Michał Kątny und damit an die verschiedenen Erscheinungsformen seiner selbst in den Romanen Cała Jaskrawość und Siekierezada. Einzelheiten zu den Bildansichten und den schriftlichen Mitteilungen Stachuras an sein über die Doppelgänger verstreutes Selbst nennt die Quelle nicht. Einfache Urlaubsgrüße wird man nicht vermuten. Eher wird er die Verdreifachung genutzt haben für die Verteilung von Aufträgen und für die Bearbeitung offener Frage, Szerucki etwa für die Frage von Leben und Tod und das umfassende, von gleißender Helligkeit durchdrungende Ganze, Pradera für die Entscheidung zwischen Zählen des Geldes und Wägen des Schicksals, Kątny für die Frage, wann man weinen darf und wann nicht.

Dienstag, 11. August 2020

Einsam

Freundschaft

Wenn man bei sehr unterschiedlichen Erzählern auf ähnliche Motive stößt, öffnen sich Einstiegsluken zum Untergrund der Prosa. Verschiedene Andeutungen weisen darauf hin, daß der Erzähler, Adroddwr, eine Familie hat, wir lernen sie so gut wie nicht kennen. In den Schwindel.Gefühlen und den Ringen des Saturn ist er allein unterwegs, in den Vier langen Erzählungen hat er je einen Gefährten, zwei, Bereyter und Adelwarth, sind bereits tot, Selwyn stirbt kurze Zeit nach der ersten Begegnung und Aurach erwartet seinen Tod. Nur Austerlitz ist über Jahrzehnte hin ein wahrer Gefährte, auch wenn oft Jahre bis zu einem erneuten Treffen vergehen. Stachuras Erzähler hat in den beiden Romanen jeweils ein enges, fast schon ekstatisches Freundschaftsverhältnis. Michał Kątny lernt er allerdings erst gegen Ende der Siekierezada kennen und wird ihn nach dem Abschied wohl nicht wieder treffen. In den Erzählungen ist der Erzähler meist allein, oft bitter allein, kto mnie ochrania, kto opiękuje sie z mną, wer beschützt mich, wer behütet mich?

Jak przyjemnie jest opowiadać o tych niewinnych sprawach, wie angenehm ist es, von den unschuldigen Dingen zu erzählen, von verläßlichen, unbestreitbaren Dingen, sollte man meinen, und so ist es wohl auch im Zusammensein und im Gespräch mit den beiden alten Wirtsfrauen, Babcia Potęgowa in Cała Jaskrawość und Babcia Olenka in Siekierezada. Bogdan Loebl* findet in seinen Erinnerungen an Sted in der Prosa eine gewisse stilistische Manier, miał on pewną manierę, die ihm die Lektüre verarge, vermutlich ist es genau das, was die Besonderheit der Prosa Stachuras ausmacht, das ständige Gefühl der Irrealität des Realen, ein unbegreifliches Gefühl der Unverbundenheit und der Erkenntnis, wie leicht kann man sich aus dem Leben entfernen kann.

Przyjechalem tam, mit einem gewissen Menschen bin ich dorthin gefahren. In der Erzählung Jak mi bylo na Mazurach, Wie es mir in Masuren erging ist Szerucki nicht allein, der Name des Begleiters wird nie genannt, offenbar ist es niemand, an dem ihm liegt, kein Vergleich mit Witek in Cała Jaskrawość oder Michał Kątny in Siekierezada, eher jemand, den er bald wieder loswerden möchte. Kto mnie ochrania, kto opiękuje sie z mną, gründlich allein ist er dann in der nachfolgenden Erzählung Jasny pobyt nadrzeczny, Der helle Aufenthalt am Ufer, als Bewohner einer ohne Baugenehmigung selbsterrichten primitiven Feldhütte. Am Abend sitzt er vor der Hütte, bereitet sich ein frugales Abendmahl und schaut auf zum gestirnten Himmel über ihm. Ob sich vielleicht in einer anderen Galaxie, auf einem anderen Erdplaneten jemand vor einer ähnlichen Hütte sitzt und sich ein ähnliches Mahl bereitet, ein Gefährte, ein Freund, ein Double im All. Der Blick in die endlose Weite offenbart jedem die Unwirklichkeit unseres Daseins, und was kann im Reich des Unwirklichen nicht wirklich sein? Der Dichter ist in der großen Stadt Wien ähnlich einsam wie Szerucki in der Abgelegenheit seiner Feldhütte, nur mit den Dohlen und mit einer weißköpfigen Amsel hat er gesprochen. In Venedig trifft er auf seinen Michał Kątny mit Namen Malachio. Zur Frage des Doubles im All würde der gelernte Astrophysiker Malachio antworten, die Möglichkeit ließe sich weder beweisen noch ausschließen. Er selbst sei mit einer ähnlich diffizilen Frage beschäftigt, der der Auferstehung nach dem Tode. Antworten bleiben auch hier aus, aber bereits die Fragen stellen ihn zufrieden.

*In Teraz oto jestem

Freitag, 7. August 2020

Zigarettenzeit

Sigarét mudlosgi

Auf Photos gibt sich der Dichter als Freund von glimmendem Tabak und Nikotin zu erkennen, als Motiv in seiner Prosa tritt die Zigarette so gut wie nicht auf, nur Ernst Herbeck, dem nach seinen eigenen Worten das scharfe Denken schon früh die Nerven zersetzt hatte, beweist sich als erprobter Raucher. Das ist in anderen Werken der Literatur und darstellenden Kunst anders. Jean Paul Belmondo sieht man in À bout de souffle so gut wie nie ohne Zigarette, gleiches gilt für Philip Marlowe alias Elliott Gould in Altmans The Long Good Bye. Marlowe läßt sich überdies nicht bei der Einnahme fester Nahrung überraschen, allein der Rauch als Lebenselixier, das verleiht ihm einen Zug ins Entrückte, Transzendente. Im Medium des Films ist das pausenlose Rauchen, wenn man die möglichen gesundheitlichen Schäden der Darsteller ignoriert, leicht umzusetzen, nicht aber in der Prosa, schlecht kann in jedem Satz an die sigarét mudlosgi, die glimmende Zigarette, erinnert werden.

Paliłem papierosa, byłem niezależny, ich rauchte eine Zigarette, ich war mein eigener Herr. In Stachuras Roman Cała Jaskrawość (All das gleißende Licht) hat die Zigarette an die vierzig Auftritte, statistisch auf jeder vierten Seite macht sie sich bemerkbar, man wird ihrer dennoch nicht überdrüssig. Die Zigarette begleitet einzelne Szenen und auch das ganze Buch. In Stachuras zweitem und zugleich letztem Roman Siekierezada (Axtzauber) ist es kaum anders, und auch in den Erzählungen fehlt die Zigarette nicht. Kaufen, anzünden, rauchen, vor allem anzünden, zapalić. Jak przyjemnie jest opowiadac o tych niewinnych sprawach, wie angenehm ist es, von den unschuldigen Dingen zu erzählen, von der allmorgendlichen Fahrt zur Arbeitsstelle und anderen Alltagsbanalitäten. Die unschuldigen Dinge werden überlagert und übertönt von ständigen metaphysische Eruptionen und Attacken, wenn man unter Metaphysik das versteht, was nicht zu verstehen ist, allem voran die Zeit und der Tod, so eng ineinander verstrickt wie kaum etwas sonst. Siekierezada ist ein einziger Aufstand gegen die auch nicht ausnahmsweise rückläufige Zeit, eine einzige Weigerung, den Unfalltod Zbigniew Cybulskis hinzunehmen. Die Zigarette ist eher den unschuldigen Dingen zuzurechnen, zugleich aber ist sie ein Spiel mit der Zeit und hat damit eine vermittelnde Position. Wie Austerlitz verweigert auch Stachuras Icherzähler Szerucki das Tragen einer Uhr, die einen gleichmäßigen Verlauf der Zeit suggeriert, die Zigarette verleiht der Zeit verschiedene Tempi, wechselnde Rhythmen.

Zapalić, anzünden, ist das Verb, das die weitaus meisten Auftritte der Zigarette einleitet und gewissermaßen auch beendet, die weiteren Stationen, inhalieren, Asche abstreifen, zerdrücken im Aschenbecher werden weit weniger genannt, selten nur fällt der Blick auf den Verlauf, paląc papierosa, des Rauchens. Der Beginn hat eine besondere Tiefe, der Beginn des Tages, das Anzünden einer Zigarette. Die Zigarette ist eine stille Begleiterin, anders als der Wodka, von dem es heißt, er sei ein Mensch, mit dem sich gut reden läßt, wodka jest człowiek, z ktorym można porozmawiać. Die Zigarette nimmt nicht den Platz einer Gesprächspartnerin ein, sie bleibt still, weht als Begleiterin hinweg über das Erleben, über Gespräche. Der auffälligste Rhythmuswechsel ist der von Arbeit und Pause. Szerucki, der Erzähler, und sein Freund Witek sind einige Wochen als Gelegenheitsarbeiter mit der Säuberung eines für den Augenblick entwässerten Teichgrundes in einem Kurort beschäftigt. Je mehr Schlick entfernt wird, je tiefer wird die Grube und desto schwerer die Arbeit, umso willkommener dann die Pause. Wychodzić od czasu do czasu z grobu na papierosa, i, paląc papierosa, rozgłądać sie po swiecie, malo jest przyjemnieszych chwil w życiu człowieka: Ab und zu aus dem Grabe steigen für eine Zigarette und, während man die Zigarette raucht, sich umsehen in der Welt, wenig ist angenehmer im Leben eines Menschen. Die Grube wird gleichsam zur Hölle, ihr obere Rand zum Paradies, eine modernisierte Kurzfassung der Divina Commedia. Nicht unterschätzt werden darf die leitende, ja magische Kraft der Zigarette. Einem gewissen Poznański, zu diesem Zeitpunkt völlig mittellos, wird im Traum verheißen, am kommenden Tag würde er auf der Straße einen größeren Geldbetrag finden. So sehr er an die Verheißung glaubt, so wenig will sie sich erfüllen. Schließlich wirft er enttäuscht seine letzte, gerade erst angerauchte Zigarette fort, besinnt sich aber eines Besseren, geht dem kostbaren Tabak nach und findet im Gebüsch neben der noch glimmenden Zigarette, sigarét mudlosgi, einen nicht unbedeutenden Złotyschein.

Wenn Marlowe, der des Buches, nicht der des Films, wenn Marlowe, eigentlich ein Zigarettenraucher, einsam an seinem Büroschreibtisch eine Pfeife anzündet, weiß man, die Ermittlungen haben ein kritisches Niveau erreicht, und er muß in Ruhe längere Zeit grübeln über den Stand der Dinge. Schon das Anzünden der Pfeife unterscheidet sie nachhaltig von der Zigarette, die, bevor die Pfeife richtig brennt, schon fast zu Ende geraucht wäre. Die Pfeife ist auf ganz andere Rhythmen eingestellt, sie ist nicht geeignet für kurze Arbeitspausen am Rand der Grube. Zigarette und Pfeife kommen nicht nur aus unterschiedlichen Anlässen zum Einsatz, sie vermitteln auch unterschiedliche Weisen des Erlebens und formen unterschiedliche Charaktere, Szerucki mit Pfeife ist schlechterdings nicht denkbar.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, in einer dieser steinernen Burgen zu wohnen mit nichts beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber niemand wirklich still nur für sich sein kann, fand ich mich schon bald in der Eingangshalle des Musée Fesch. Leicht wird überlesen, daß die Nagelprobe ausgeblieben ist, der Erzähler hatte nicht die Gelegenheit, in einer der Burgen zu wohnen. Wäre ihm, hätte er denn für immer Platz genommen in einer der korsischen Burgen, die Zigarette oder eher, angesichts ihrer deutlich längeren Brenndauer, die Pfeife ein zuverlässiger Begleiter geworden in der Einsamkeit? Ein guter Proband wäre als strenger Eremit der Major Le Strange, zu seinem Verhältnis zur Zigarette oder anderen Formen des Rauchens wird aber nichts gesagt. Der Richter Farrar, war vermutlich Raucher, wie wäre sonst das Feuerzeug, das ihm zum Verhängnis wird, in seine Hosentasche geraten. Einzelheiten werden uns aber vorenthalten.

Der Wodka, ein Mensch, mit dem sich gut reden läßt. Der greise Gast im Café auf Korsika hat als Gesprächspartner keinen Wodka, sondern Pastis im Glas, das macht, sollte man meinen, keinen entscheidenden Unterschied. Der Gast blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Das Gespräch zwischen dem Greis und dem Pastis verläuft lautlos, das Thema ist vermutlich die Frage von Sein und Zeit, kto zyl, kto umieral, die Frage, wer lebt und wer stirbt.

Samstag, 1. August 2020

Heimkehr im Bus

Totenfuhre

Der Bus war stark überheizt. Einmal, als ich mich umwandte, waren die Fahrgäste, wie ich dachte, in den Schlaf gesunken, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnten und hingen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts in den Nacken gekippt. Mehrere röchelten leise. – Auch wenn von scheinbar nur Schlafenden die Rede ist, die Leser wissen, es ist eine Fuhre von Sterbenden und Toten.

Stachuras Erzähler ist bestens vertraut mit den Regeln des öffentlichen Nahverkehrs in den osteuropäischen Staaten und zumal in Polen. Er hat den letzten Stehplatz im Bus erwischt und steht unten auf der Ein- und Aussteigtreppe, ein oder zwei Kopf tiefer als die anderen Passagiere. Direkt vor und halb über ihm eine dunkel gekleidete Frau. Sie trägt einen grauen Mantel, an dem zum Haltegriff erhobenen Arm einen Trauerflor und auf dem Kopf ein durchsichtiges großes, auf die Schultern fallendes schwarzes Tuch, das der Erzähler in seiner niederen Stellung unmittelbar vor Augen hat. Durch das Tuch hindurch erkennt er das Profil einer anderen Frau. Sie mag schön sein oder häßlich, er möchte nur, daß sie ihren Kopf in seine Richtung wendet, daß er, lebendig, sie durch den Schleier hindurch als gleichsam Tote sieht und sie, lebendig, ihn als gleichsam Toten, daß Leben und Tod für einen Augenblick ein und dasselbe sind. Ein Bild wahrhaft filigraner Schönheit von Tod und Leben.

Beide, der Erzähler und die Frau, haben den Bus offenbar lebend verlassen, anderes wird nicht berichtet, auch die toten Fahrgäste im Bus nach Prag erwachen am Zielort zum Leben.
*
Hat man die Hälfte eines Buches gelesen, ist man froh, es so weit geschafft zu haben, oder aber beklommen, weil es nun gegen Ende geht. Bei Büchern, die einem wirklich nahe kommen, bleiben am Zenit Gefühle der einen oder anderen Art aus, man wird diese Bücher ohnehin ständig aufs neue lesen, von vorn nach hinten, von hinten nach vorn oder einzelne Seiten oder Absätze vorn, hinten oder in der Mitte. Eigentlich zählen nur diese Bücher.