Dienstag, 29. Juli 2008

Selysses und die Empfangsdamen - Gesammelte Empfänge

Penelope und die fernen Wirtinnen

Pocas mujeres encontré

Penelope Peacefull, London
Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von mir seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu mir herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. (AUS 207)



Luciana Michelotti, Hotel Sole Limone
... und drinnen, im Dunkel hinter der Theke, stand die Wirtin Luciana Michelotti, gleichfalls allein, und stocherte mit einem kleinen Silberlöffel gedankenverloren in der Espressotasse, die sie gerade ausgetrunken hatte. Die mir als resolut und lebensfroh in Erinnerung gebliebene Frau machte an diesem Tag, der, wie ich später erfuhr, ihr 44. Geburtstag gewesen war, einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte in Verwunderung vielleicht über meine Gleichaltrigkeit mit ihr, in meinem Paß, verglich mehrmals mein Gesicht mit der Photographie, wobei sie mir einmal lang in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in seiner Lade und händigte mir den Zimmerschlüssel aus. (SG 104 )

Engelwirtin, Wertach
Hinter der Rezeption im Engelwirt war, nachdem sich auf mein Läuten lang nichts gerührt hatte, eine sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Ich hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Ich verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, meinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Den ausgefüllten Anmeldezettel, auf dem ich als Berufsbezeichnung "Auslandskorrespondent" und meine komplizierte englische Adresse angegeben hatte, studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen ... (SG 208)

Namenlos, Kissingen
Das Hotel war soeben von Grund auf renoviert worden in dem in Deutschland unaufhaltsam sich ausbreitenden neuimperialen Stil, welcher diskret mit Blaßgrün und Blattgold die Geschmacksverirrungen früherer Jahre überblickt. Die Empfangsdame, die etwas von einer Oberin an sich hatte, maß mich mit ihren Blicken, als befürchte sie einen Hausfriedensbruch, und als ich den Lift betrat, befand ich mich einem gespenstischen alten Ehepaar gegenüber, das mich mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrte.

Namenlos, Viktoriahotel Lowestoft
Eine ganze Zeitlang habe ich in dem leeren Entree gestanden und bin durch die sogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann – völlig verlassenen Räume gewandert, ehe ich auf eine verschreckte junge Frau stieß, die mir nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reichte. (RS 57)

Dame mit Schwein, Café des Sports Evisa
Eine Stunde später, als ich gerade beim Ausbrechen des Unwetters Evisa erreichte und dort im Café des Sports Zuflucht gefunden hatte, schaute ich lange durch die offene Tür hinaus auf den schräg in die Gasse rauschenden Regen. Der einzige Gast außer mir war ein greiser, mit einem wollenen Kittel und einem ausgedienten Armeeanorak bereits für die Wintermonate gerüsteter Mann. Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Es schien mir nicht, als ob er die seltsam theatralisch wirkende weibliche Person wahrgenommen hätte, die nach einiger Zeit unter ihrem Regenschirm draußen vorbeiging, oder auch das halbwüchsige Schwein, das ihr auf dem Fuß folgte. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Aus dem Kassettenrekorder hinter der Theke drang eine Art von türkischem Trauermarsch und zwischendurch eine hohe, aus dem Kehlkopf hervorgepreßte Männerstimme ... (CS 223)

Mrs. Irlam, Manchester
... und wirklich mußte ich mehrmals und anhaltend den Klingelknopf drücken, ehe drinnen etwas in Bewegung geriet und nach einigem Rasseln und Riegelschieben die Tür aufgetan wurde von einer vielleicht nicht ganz vierzigjährigen, blondgelockten, auch sonst irgendwie gewellt und loreleiartig wirkenden Dame. Eine Zeitlang standen wir uns wortlos und wohl beide mit dem Ausdruck des Unglaubens im Gesicht gegenüber, ich neben meinem Reisegepäck und sie in ihrem rosafarbenen Morgenmantel, der geschneidert war aus einem frotteeähnlichen, einzig in den Schlafzimmern der unteren englischen Klassen Verwendung findenden und unerklärlicherweise mit dem Wort candlewick bezeichneten Stoff. Mrs. Irlam – Yes, Irlam like Irlam in Manchester, hörte ich sie später immer wieder am Telefon sagen -, Mrs. Irlam brach das Schweigen zwischen uns mit der ihre Aufgeschrecktheit und ihre Belustigung über meinen Anblick in eins zusammenfassenden Frage: And where have you sprung from?, die sie gleich selbst beantwortete, daß es nur ein Ausländer – an alien, wie sie sagte – sein könne, der mit solchem Koffer und zu einer solchen Unzeit am heiligen Freitagmorgen vor der Tür stehe. Und dann wandte sich Mrs. Irlam mit einem geheimnisvollen Lächeln, das ich als ein Zeichen auffaßte, ihr folgen zu dürfen, ins Innere des Hauses ... (AW 223)

Namenlos, Goldene Taube Verona
... in die Goldene Taube gefahren, wo, wider alles Erwarten, ein mir in jeder Hinsicht zusagendes Zimmer zu haben war und wo ich, der ich doch zumeist schlecht bedient werde, von einem an Ferdinand Bruckner mich erinnernden Portier und der anscheinend eigens in der Halle sich einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt wurde, nicht anders als hätten sie in mir einen seit langem ihnen in Aussicht gestellten und nun endlich eingetroffenen Ehrengast vor sich. (SG 131)

Namenlos, Palace Hotel Marienbad
Es brauchte eine geraume Zeit, bis der Empfangsportier, der in seiner engen Loge an einem Stehpult stand, von seiner Lektüre aufblickte, um sich den späten Gästen zuzuwenden mit einem kaum hörbar gemurmelten Dobry vecer. Dieser ungemein magere Mann, an dem einem als erstes auffiel, wie sich, trotzdem er nicht mehr als vierzig sein konnte, seine Stirne fächerförmig in Falten legte, erledigte mit der größten Langsamkeit, beinahe so als bewegte er sich in einer dichteren Atmosphäre, ohne ein weiteres Wort die notwendigen Formalitäten, verlangte unsere Visa zu sehen, blätterte in den Pässen und in seinem Register herum, machte mit einer kraxligen Schrift einen längeren Eintrag in ein kariertes Schulheft, ließ uns einen Fragebogen ausfüllen, kramte in seiner Schublade nach dem Schlüssel und brachte schließlich durch das Läuten einer Klingel einen krummen Dienstmann herbei, der einen mausgrauen, ihm bis zu den Knien reichenden Nylonkittel trug und, nicht anders als der Empfangschef des Hauses, geschlagen war von einer seine Glieder lähmenden krankhaften Müdigkeit. (AUS 300)

Signora mit Vogelblick und Orlando, Hotel Boston Mailand
Wir hielten vor dem Hotel Boston, einem ungut und schmalbrüstig aussehendem Haus. Ich stieg die paar Stufen zu dem seltsamen Hospiz hinauf und wartete drinnen in dem kaum beleuchteten Foyer, bis die Signora, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, aus dem Fernsehzimmer hervorgekommen war. Skeptisch hielt sie den Vogelblick auf mich gerichtet und rief ihren Mann, der auf den Namen Orlando hörte und nun ebenfalls aus dem Fernsehzimmer herauswankte, wo er, wie die Signora, in tiefem Dämmer versunken gesessen war. Eine ungeheuer lange Zeit schien es mir zu dauern, bis er den kleinen Vorraum durchquert und neben seiner Frau hinter dem hohen, den beiden nahezu bis zu den Schultern reichenden Rezeptionspult Aufstellung genommen hatte. (SG 124f)

Namenlos, Guesthouse Ithaca
Es dauerte eine beträchtliche Zeit, bis aus dem Inneren des offenbar schon schlafenden Hauses ein greiser Portier herbeikam, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Aufgrund seiner Behinderung hatte er, bereits vor er sich anschickte, die Halle zu durchqueren, den draußen vor der halbverglasten Türe wartenden späten Gast von unten herauf mit einem kurzen, aber um so durchdringenderen Blick ins Auge gefaßt. Wortlos begleitete er mich über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er mir ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies. (AW 156 )

Empfangsdamen in Archiven und Museen

Namenlos, Ghettomuseum Theresienstadt
Ich stieg die Stufen hinab und betrat den Vorraum, in dem hinter einer Art Kassentisch eine Dame unbestimmten Alters saß in einer lilafarbenen Bluse und mit einer altmodisch gewellten Frisur. Sie legte die Häkelarbeit, mit der sie beschäftigt war, beiseite und reichte mir, indem sie sich ein wenig verneigte, das Eintrittsbillet. (AUS 285)

Namenlos, Casa Bonaparte Ajaccio
Die dämmrige Vorhalle war verlassen. Auch der Platz an der Kasse schien leer. Erst als ich unmittelbar am Tresen stand und gerade meine Hand ausstreckte nach einer der dort ausgestellten Ansichtskarten, sah ich, daß hinter dem Tresen in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau saß, ja, beinahe hätte man sagen können, lag. Man mußte förmlich über den Tresenrand zu ihr hinunterschauen, und dieses Hinunterschauen auf die wahrscheinlich nur vom vielen Stehen ausruhende und vielleicht ein wenig eingeschlummerte Kassiererin der Casa Bonaparte war einer jener seltsam zerdehnten Augenblicke, an die man sich Jahre später noch manchmal erinnert. Als die Kassiererin sich erhob, zeigte sich, daß sie eine Dame war von sehr stattlichem Format. Man konnte sie sich vorstellen auf einer Opernbühne, wie sie, erschöpft vom Drama ihres Lebens, lasciate mi morir oder sonst eine letzte Arie singt. (CS 12)

Tereza Ambrosova, Staatsarchiv Prag
Man mußte sich weit hinabbeugen zu dem viel zu niedrigen Schalter, wenn man mit dem Türhüter sprechen wollte, der allem Anschein nach in seinem Verschlag auf dem Fußboden kniete. Obzwar ich meinerseits bald dieselbe Stellung einnahm, gelang es mir auf keine Weise, mich verständlich zu machen, sagte Austerlitz, weshalb der Türhüter schließlich mit einer langen Suada, aus der ich nichts als die mehrmals mit besonderem Nachdruck wiederholten Worte anglicky und Anglican heraushörte, aus dem Inneren des Hauses eine der Archivangestellten herbeitelephonierte, die tatsächlich gleich darauf, noch während ich auf dem Pult eines der Besuchsformulare ausfüllte, wie aus dem Boden gewachsen, wie man sagt, sagte Austerlitz, neben mir stand. Tereza Ambrosova, so stellte sie sich mir vor, indem sie mich zugleich in ihrem etwas ungelenken aber sonst durchaus korrekten Englisch nach meinem Anliegen fragte, Tereza Ambrosova war eine blasse, beinahe transparente Frau von vielleicht vierzig Jahren. (AUS 213)

Funktionärinnen des Verkehrs

Namenlos und dunkel, U-Bahnschacht in London
Jetzt also stand ich auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der fraglichen Station und brauchte, um mir die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. (SG 283 )

Namenlos und unsichtbar, Flughafen Schiphol
Ab und zu wurde von den offenbar körperlosen, engelsgleich ihre Botschaften intonierenden Stimmen jemand aufgerufen. Passagiers Sandberg en Stromberg naar Copenhagen. Mr. Freeman to Lagos. La senora Rodrigo, por favor. Über kurz oder lang würde die Reihe an jeden der hier Versammelten sein. (RS 111)

Sonntag, 27. Juli 2008

Selysses und die Empfangsdamen - Besprechung

Wie Grillparzer finde ich an nichts Gefallen, bin
von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht
und wäre, wie ich oft meine, viel besser
bei meinen Landkarten und Fahrplänen
zu Hause geblieben.


Penelope und die fremden Wirtinnen
Gewohnt an die Bebilderung von Sebalds Bücher, mag man sich einen Augenblick wünschen, all diese Menschen im Empfang nicht nur mit den inneren Augen zu sehen. Als darstellenden Künstler wird man dann sozusagen naturgemäß an Jan Peter Tripp denken, aber eine solche Aufgabe läge wohl nicht auf seiner Linie. Robert Crumb hat uns Kafkas Frauen gezeichnet, für Sebalds flüchtige, oft durchsichtige Frauengestalten wäre er wohl zu grob. Der Wunsch nach optischer Vergegenwärtigung wird auch kaum Bestand haben, Sebald selbst gehört zweifellos zu den Malern, Philosophen und Dichtern, die mit unverwandt forschendem Blick und vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Der Blick des Dichters ist der Blick des Weltenwanderers, to vlemma tou Odyssea. Sebalds Blick wird, so scheint es, unmittelbar in Worte umgeprägt, die Bebilderung seiner Bücher ist eine hinzukomponierte Zweitstimme, die zum Worttext in einer wechselnden, aber kaum je in der einfachen Beziehung bloßer Illustration steht. Die aufgeführten Empfangsszenen sind durchweg solche einer geradezu hilflos ihrer eigenen Intensität ausgelieferten Wahrnehmung, in deren Licht Blickwechsel und erwiderter Blick allerdings kaum aufscheinen oder jedenfalls oft verschwiegen bleiben.


Die Empfangszenen weisen leicht erkennbare Züge der Verwandtschaft auf, allerdings ist kaum ein Merkmal durchgehend anzutreffen, auch nicht das für diesen Aufsatz titelgebende. Nicht in jedem Fall sind es Frauen an der Rezeption. Sofern wir aber auf Männer treffen, sind sie irgendwie fehl am Platz, fast durchweg stark verkrüppelt und beinahe schon eher Fabelwesen. In zwei Szenen (Prag und Verona) sind sie zudem nur vorbereitend da und übergeben, nachdem ihr Ungenügen sich erwiesen hat, an eine Frau. Mailand, Hotel Boston, scheint die Umkehrung zu sein, die Frau ruft den Mann herbei, tatsächlich aber handelt es sich um zwei geschlechtslose Gespenster, die bei einem insgesamt gespenstischen Aufenthalt in der Stadt Selysses für eine gespentische Nacht erwarten. In den anderen Szenen ist männliche Anwesenheit jeweils aus der Erzählung heraus nicht nur besonders begründet, sondern zwingend. In der Marienbader Empfangsszene ist Selysses für einmal nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau, Marie de Verneuil, und aus erzählerischer Notwendigkeit nicht für die nie unerotisch verlaufende Begegnung mit einer weiteren Frau an der Rezeption des Hotels eingestellt. Ithaca schließlich ist Geschehensort in der von einer gelinden, in den Luxushotel- und Casinoszenen gegen Proust und in der Orientpassage gegen Gide hin verdichtenden Homosexualität überschwebten, von Heterosexualität aber gänzlich freien Erzählung vom Ambros Adelwarth. Die in dieser Erzählung auftretenden Frauen sind ausschließlich Verwandte des Icherzählers, die Tanten Fini, Theres und Lina sowie Rosa, die Mutter, und es bleibt offen, ob das Inzestgebot sie zu asexueller Tantenhaftigkeit bewegt, oder ob eine spontane Tantenhaftigkeit das Inzestverbot überflüssig macht. Jedenfalls ist in der Rezeptionsszene in Ithaca ist jeder heteroerotische Funken zu vermeiden, Selysses, auf den Spuren des Ambros Adelwarth reisend, darf von daher nicht behelligt werden.

Reisen ist gegenüber dem Daheimbleiben immer der unwahrscheinlichere Zustand. Daß man zu diesem Ort gelangt und nicht zu einem anderen, in dieses Hotel oder diesen Gasthof eintritt und nicht in einen anderen, dort auf diesen Mann oder diese Frau trifft und nicht auf eine andere, erhöht die Unwahrscheinlichkeit jeweils immens. Selysses, wie wir begonnen haben, Sebalds Wanderer, seine verschiedenen Erzählinkarnationen übergreifend zu nennen, läßt sich meistens nicht anmerken, die Verarbeitung der Unwahrscheinlichkeit wird auf die andere Seite verlegt, wo sie in der Tat nicht geringer ist: Diese Person, Selysses, konnte nicht daheim bleiben, mußte in diese Stadt reisen, mußte bei uns, in diesem Gasthof absteigen und, um das Maß voll zu machen, nun gerade auf mich treffen.

Dieser sich in dem Augenblick bündelnden hohen Unwahrscheinlichkeit entsprechen in fast allen Rezeptionsszenen Momente der Verzögerung. Die Damen und Herren stellen sich nicht gleich ein, haben Schwierigkeiten, die räumliche Distanz zum Gast zu überwinden, können sich von einer anderen Beschäftigung nicht lösen, verrichten die Rezeptionsformalitäten mit äußerster Umständlichkeit. Die Wirkung dieser Verzögerungselemente ist ambivalent. Einerseits scheint Zeit gewonnen, den Unwahrscheinlichkeitsaugenblick in die Wirklichkeit einzupassen, andererseits gewinnt aber auch der unwahrscheinliche Augenblick Raum zu atmen, entfaltet sich und entschwebt ins unwirklich Phantastische, dies wiederum Entfaltungsraum für erotische Unterströmungen. Wir befinden uns in Übergangsräumen, in einer Art von Raum- und Zeitschleusen. Die Empfangsdamen, mehr noch die phantastischen Männer sind wie eingeschlossen in kleine Sicherheitskuben, man spürt das archaische Motiv der Gastfreundschaft und des Gastrechts, eine der frühesten zivilisatorischen Leistungen, entwickelt, um der Begegnung von Fremden das Mörderische zu nehmen.

Die bereits erwähnte Verschwiegenheit des Blicks bei den Empfangsdamen (die nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit der weiblichen Auges, SG 87) ist ein erstes Element der Erotisierung. Bei den männlichen Personen in der Rezeption treten dagegen durchweg offene Wahrnehmungsschwierigkeiten auf. Sie scheinen sich zu verstecken, in ihrem Verschlag zu knien (Prag), wollen von ihrer Lektüre nicht aufblicken (Marienbad), sind so gebeugt, daß sie den Oberkörper und das Gesicht ihres gegenüber gar nicht ins Auge fassen können (Ithaca). Der Unterschied im Schauen von Frauen und Männern ist eine dichterische Obsession, die Sebalds Gesamtwerk durchzieht, siehe auch schon in Nach der Natur, die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe stecken ihre Köpfe zusammen und sind im Blick verschworen gegen Blasius, Achaz und Eustach, Pantaleon, Aegidius, Cyriax, Christophorus und dem wirklich schönen heiligen Veit mit dem Hahn.

Wo immer es ihn hinträgt, erhofft und fürchtet der Sebaldsche Wanderer Selysses die Nymphe Kalypso oder die Göttin Kirke, erhofft Nausikaa, fürchtet die Sirenen. Um ihnen allen zu begegnen, heißt es aber zunächst Abschied nehmen von Penelope. Das findet statt, in überraschender Direktheit, im Austerlitzbuch auf Seite 207. Penelope hat den Familiennamen Peacefull, und geschildert wird nichts anderes als ein letzter friedvoller Augenblick ehelichen Zusammenlebens. Die beiden, Penelope und Selysses, gehen in einer Atmosphäre tiefer Vertrautheit, aufgehoben in der liebevollen Nähe des anderen still ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Dann und wann geht der Blick auf die Gasse hinaus, offenbar, wenn schon nicht Ithaka so doch eher Delft als London, ein Interieur a la Vermeer oder de Hoch. Penelope Peacefull ist nicht nur ein spaßiger Name, sondern gleichsam auch der Titel eines kleinen spaßigen Gemäldes, angebracht an der Stelle und in dem Augenblick, als Selysses aufbricht zu seiner Höllenfahrt (man sollte ihn in seiner Inkarnation als Austerlitz vielleicht Sedante nennen, zumal er sich über längere Strecken in der Obhut seiner Beatrice Marie de Verneuil bewegt). Man darf sicher sein, daß Sebald dieser extreme stilistische Kontrast nicht etwa nur unterlaufen ist, wer in den überwiegend elegischen, vom Lamento geprägten Tonlagen diese ständigen kleinen Gegenmelodien nicht wahrnimmt, hört allenfalls die halbe Musik.

Die größte Gefahr, Penelope untreu zu werden, erlebt Selysses offenbar, möchte man meinen, in der Begegnung mit Luciana Michelotti, immerhin kommt es zur Trauung der beiden (116). Die Szene weist aber wesentliche Merkmale der anderen nicht auf und fällt insofern aus dem Rahmen. Luciana bleibt nicht eingeschlossen in einen kurzen Augenblick des Empfangs, das Zusammensein mit Selysses erstreckt sich über mehr als zehn Seiten. Auch war man offenbar schon bekannt und kommt sich zum einem durch die momentane schwermütige Stimmung Luciana näher, während Selysses im weiteren dann von ihrer im Grunde lebensfrohen Art profitiert. Auch Lucianas zunächst verschwiegener Blick öffnet sich, nachdem er gleichsam hinter das schemenhafte Abbild der Photographie gelangt ist, in vollem Umfang und übertrumpft für einmal den Blick des Selysses. Hat hier schon der Ritorno, die Rückkehr nach Wertach-Ithaka begonnen, dämmert Penelope etwas?

Die Engelwirtin in Wertach ist jedenfalls nicht Penelope, eher schon eine der lockeren Mägde des heimkehrenden Weltendurchmessers. Die erotischen Implikationen der Engelwirtszene sind für Sebalds Verhältnisse schon geradezu drastisch zu nennen. Die ambivalente Geste der über der Brust zusammengenommenen Jacke der Dame im Gast-Gewerbe, Abwehr und Einladung zugleich, die daraus resultierende Einhändigkeit, die zur endlosen Dehnung des Augenblicks führt. Auf der anderen Seite Selysses mit allen Merkmalen des potentiellen Vergewaltigers, heruntergekommen von langer Reise, mittellos wie ein Bettler, offenbar listenreiche Lügengeschichten (Auslandskorrespondent) erzählend, bartstoppelig, den Jäger Hans Schlag schon vorwegnehmend und die wüste Geschichte, die er auslöst. Indem Selysses mit dem Jäger Hans Schlag verschmilzt, verschmilzt er auch mit dem ewigen Jäger Gracchus, der im Jäger Schlag in Wertach seinen Tod findet, soweit nicht entfernt vom Schwarzwald, wo er ihn zunächst verfehlt hatte. Aber hatte Selysses nicht schon sehr früh seine Nachfolge angetreten? Unmittelbar nach dem Tod des Jägers Schlag-Gracchus war der Knabe einer lebensbedrohlichen Krankheit verfallen und als Selysses-Schlag-Gracchus: Seracchus vom Tode wieder auferstanden. – Mit unserem Blick aus der Peripherie der Erzählung wollen wir nicht versuchen, zu tief in ihr Inneres einzudringen. Allerdings besteht auch keine besondere Gefahr. Sebalds Bedeutungsgewebe sind so luftig und unverwüstlich zugleich, daß sich, anders als beim Totentuch des Laertes, in der Nacht und auch am Tage beliebig viele und lange Fäden ziehen lassen, ohne das Prosakleid nur irgend zu mindern.

Die Szene in Kissingen ist, bei all ihrer Herrlichkeit, in unserem Zusammenhang eher unergiebig, hier geht es vordringlich um das Feindschaftsverhältnis zwischen Deutschland und Selysses. Auch von einer Verschwiegenheit des Blicks kann bei einer derart offenen Konfrontation nicht die Rede sein.

Die Lowestoftszene ist in gewissem Sinn eine Kurzfassung der Engelwirtszene. Auch hier ruft der Wanderer Schrecken hervor. Das Bild wird nicht weiter vertieft. Während aber die Engelwirtin nach Aushändigung des Zimmerschlüssels aus der Erzählung verschwindet oder allenfalls in älteren Inkarnationen von Engelwirtinnen und Engelwirtsbedienerinnen fortlebt, reicht die Victoriawirtin Speis und Trank, ist also nicht nur Wirtin der Nacht, und leitet damit eine der für die Wanderungen des Selysses in ihrem katastrophalen Verlauf typischen Mahlzeiten ein.

Die Szene im Café des Sports von Evisa bringt die letzte Steigerung der mehr oder weniger desolaten Szenerien. Sünde und die Strafe Gottes liegen über dem Land. Sergio Leones Bild- und Sebalds Sprachvisionen scheinen verschmolzen. Es könnte die Eingangsszene zum Lied vom Tode sein, und es ist die Eingangsszene zu den Moments Musicaux, also durchaus verwandt. Es ist ein Augenblick völliger Verlorenheit. Der Tod dreht ein mit Pastis gefülltes Stundenglas, das Cafe ist ohne Bedienung, die Bedienerin Kirke ist offenbar durch die Hintertür verschwunden und zieht nun mit einem Schwein am Fenster vorbei, wer mag der so schrecklich Verzauberte sein?

In Manchester klopft ein noch nicht wettergegerbter Selysses an die Tür des Nachtquartiers, seine Name ist vermutlich Joseph und es dürfte Potiphars Weib sein, das ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln ins Innere des Hauses lockt, obwohl es keinerlei Anzeichen eines Mr. Potiphars gibt. Der unerklärlicherweise mit dem Wort /candlewick/ bezeichnete rosarote und frotteeähnliche, einzig in den Schlafzimmern der unteren englischen Klassen Verwendung findende Stoff, dürfte die Unschuld besser als jeder Panzer schützen und wird Joseph auch von den von Potiphars Weib ohne das geringste Anzeichen von Ironie mit dem von ihr selbst geprägten Sammelbegriff the gentlemen's travelling companions bedachten bunten Damen fernhalten. Keuschheit leicht gemacht im Bordell. – Gracie Irlam kehr im übrigen noch einmal zurück in der Erzählung, zunächst in dem Gemälde G.I. on her Blue Candlewick Cover (AW 264) und dann, kurz darauf und ohne weitere Erklärung, als die Flügelhornistin Gracie Irlam; eine Karriere wie die der Rachel im Temps Perdu, freilich im Miniaturformat.

In der Goldenen Traube zu Verona wird dem überwiegend höllennah wandernden Selysses/Sedante für einmal ein überwältigender Empfang bereitet. Die Geschäftsführerin des Etablissements kommt nur ganz flüchtig ins Bild, es muß gleichwohl Nausikaa sein. Sie breitet das Dach der Goldenen Traube als einen in den schönsten Braun- und Ziegeltönen gefärbten Fittich über den Schlaf des Wanderers und kredenzt ihm ein ans Wunderbare grenzendes Frühstück. Er wird nun keinen Fuß mehr verkehrt setzen.

Die Empfangsdamen und ihre fabulösen männlichen Substitute stellen innerhalb der Reisebekanntschaften eine klar umrissene Sondergruppe dar. Die hohe Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens ist gleichwohl erheblich herabgesetzt, da sie sich an professionellen Treffpunkten befinden. Wie Kalypso, Kirke und Nausikaa sind sie von den Reisegöttern vorbestimmt. Innerhalb der Gruppe der Empfangsdamen sind wiederum mehrere Untergruppen zu unterscheiden. Die weitaus tiefste Beziehung ergibt sich zweifellos zu den Wirtinnen, die den Gast immerhin für die Nacht in ihr Haus nehmen. Kein Wunder also, wenn sie die Identität des Reisenden zu ergründen suchen, die Selysses aber kaum je preisgibt und die auch Penelope nur erahnt. In der Goldenen Traube in Verona trägt er sich als der Historiker und Weltenwanderer Jakob Philipp Fallmerayer ein, verstorben bereits 1861, in Wertach als Auslandskorrespondent. Dabei handelt es sich kaum um Lug und Trug, denn eine stabile Identität hat Selysses nicht.

Empfangsdamen in Museen und Archiven

Die Begegnung mit Empfangsdamen in Museen und Archiven ist weitaus unverfänglicher. Auf keiner der beiden Seiten ist eine besondere Verpflichtung erforderlich oder angebracht. Man trifft sich bei Tageslicht und wird bei Tageslicht wieder auseinander gehen. Die Damen tragen altmodisch gewelltes Haar oder sind beinahe transparent. Wir können noch die blaßblau ondulierte Dame an der Rezeption der nervenärztlichen Praxis hinzuzählen, die freilich angesichts der umgebenden mental disease sichtlich entsetzt ist. (AW 158)

Die Szenen Staatsarchiv Prag und Casa Bonaparte Ajaccio weisen eine eigenartig sich kreuzende Parallelität auf. Die beiden Empfangsmenschen sind für den Besucher wegen ihrer niedrigen Position zunächst unsichtbar, der eine kniet in seinem Verschlag, die andere liegt in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel. Der Mann wird gegen eine Frau, Tereza Ambrosova, ausgetauscht, die Frau erweist sich als der Mann Bonaparte.

Verkehrsfunktionärinnen

Man sollte meinen, an den Knotenpunkten des modernen Massenverkehrs kommt es wegen der Überfülle hastender Menschen nicht zu nennenswerten Begegnungen. Sebald hat mitten in London eine namenlose U-Bahnstation ersonnen, an der niemals jemand ein- oder aussteigt, ein schwarzes Loch, eine Gegenwelt. Zum ersten Mal nähert sich Selysses der Station von außen und sieht sich Auge in Auge mit der Negerin in ihrem engen Schalterhäuschen. Die Begegnung scheitert nicht an einer Menschenmasse, sondern an einer unerträglichen dunklen Einsamkeit.

Die Schwärze der Negerin ist ästhetisch, sozusagen farbtechnisch instrumentalisiert. Zugleich aber ist es eine Szene der Einkerkerung und Versklavung die damit einerseits vor dem Hintergrund des großen Kongokapitels im Saturnbuch steht, während sie andererseits sich abhebt von den befreiten, in großen Limousinen und Vans dahinrollenden Negern, Freunde des Selysses, die eine Lebensfreude ausstrahlen, die Europa vergessen und auf die es auch kein Anrecht mehr hat. Im selben Buch, nur wenige Seiten zuvor (SG 267) war es eine allseits weitausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der mir, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. In der Adelwartherzählung (AW 154) befindet sich Selysses auf dem Highway 17 einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder ihm durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie ihn als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herz geschlossen hatten.

Der Flughafen Schiphol scheint das genaue Gegenteil der Londoner U-Bahn. Licht durchflutet den Terminal. Die Funktionärinnen des Flugverkehrs sind unsichtbar und vorhanden nur als engelhafte Stimmen. Der da über kurz oder lang jeden aufruft kann aber nur der Tod sein. Auch Selysses wird schließlich beim Namen gerufen und nach dem Start trägt ihn der Flug über ein Gelände nicht weniger menschenfrei als die U-Bahn aus Antimaterie. Offenbar sind die Sammelplätze des Massenverkehrs Todeszonen und der Gegensatz besteht nicht zwischen London und Amsterdam, zwischen Verkehr unterhalb oder oberhalb der Erde, sondern zwischen den reisenden Massen und dem einsamen Wanderer Selysses.

Auch wenn man an anscheinend belanglosen Nebeneingängen der Sebaldschen Prosa nestelt, erweist sie die gleiche Dichte und Unauflösbarkeit der Textur wie in den zentralen Themenbereichen. Das Pisanello abgewonnene Ideal, allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen (SG 84), ist in Sebalds Worttableaus realisiert. Wie ist das möglich, wie läßt sich ein Text bis in die letzten Einzelheiten beherrschen? Einerseits sind Sebalds Arbeiten extrem durchdacht und kalkuliert, andererseits aber ergibt sich ab einer bestimmten semantischen Dichte über die geplanten Beziehungen hinaus durch die Systemaktivität des Textes ein immenser, letztlich unendlicher Überschuß weiterer Beziehungen, man könnte sagen, die semantische Dichte verdichtet sich selbständig weiter. Wo diese Schwelle erreicht und überschritten wird, wird man auch heute noch von Dichtung sprechen wollen.

Dienstag, 15. Juli 2008

Uhren

devant de la filera de rellotges
que marcaven h'horari de les ciutats del món.

Oh sans cette affreuse bougeotte que j'ai toujours eue
j'aurais vécu ma vie enfermé dans uns grande
pièce vide à échos, avec une grande pendule
ancienne, rien à écouter et à somnoler, lecoffre ouvert pour que je puisse voir le balancier,suivant des yeux son va-et-vient, et les poids de plomb
pendillant et plus en plus bas jusqu'à ce que jeme lève de ma bergère et les remonte, une fois par semaine.


Wir ziehen weiter an kleinen Fäden, um herauszufinden, ob das Gewebe irgendwo Schwachstellen aufweist. Mit dem Thema der Uhr halten wir uns allerdings nicht durchweg in Randbereichen der Textur, insbesondere im Austerlitzbuch können wir die Fäden hin bis zu den dichten Verknotungen der Erzählung verfolgen. Das Hauptstück des Buffetsaals des Antwerpener Bahnhofs war eine mächtige Uhr, an deren einst vergoldeten, jetzt aber vom Eisenbahnruß und Tabaksqualm eingeschwärzten Zifferblatt der circa sechs Fuß messende Zeiger in seiner Rund ging. Es dauerte unendlich lang, bis wieder eine Minute verstrichen war, und wie schrecklich jedes Mal, trotzdem doch erwartet, das Vorrücken dieses, einem Richtschwert gleichenden Zeigers schien, wenn er das nächste Sechzigstel einer Stunde von der Zukunft abtrennte mit einem derart bedrohlichen Nachzittern, daß einem beinahe das Herz aussetzte dabei (AUS 16f). Der Bergbau, die Industrie, der Verkehr, der Handel und das Kapital: und unter all diesen Symbolbildern stehe an höchster Stelle die durch Zeiger und Zifferblatt vertretene Zeit (AUS 21).

Im weiteren Verlauf des Buches besuchen die beiden Wanderer in der Zeitmetropole London Greenwich, das Zentrum der Weltzeit. Stundenlang studieren sie im königlichen Observatorium, jeder für sich, die in den Vitrinen ausgestellten kunstreichen Beobachtungs- und Meßgeräte, Quadranten und Sextanten, Chronometer und Regulatoren. Austerlitz, so wird betont, hat nie eine Uhr bei sich. Die Zeit, so sagte Austerlitz in der Sternenkammer von Greenwich, sei von allen unseren Erfindungen die weitaus künstlichste. Tatsächlich habe er nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator, noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht (AUS 148 ff). – Wir wollen uns aber nicht länger an diesem zentralen Ort aufhalten, an dem eine wahre Zeittheorie in ihrer Verbindung zu Erinnerungsstrukturen und dem Verhältnis von Lebenden und Toten entwickelt wird. Auch halten wir uns vor Augen, daß die Uhr das Gerät der kleinen Zeiteinheiten ist. Eine Sebaldsche Erzählung beginnt üblicherweise mit einer Jahres- und Monatsangabe und der folgende Text ist häufig von Angaben dieser Art geradezu perforiert. Von diesen höheren Ebene der Zeiteinheiten halten wir uns weitgehend fern.


Uns soll es also um die kleinformatige Durchsetzung der Texte mit dem Uhrenmotiv gehen. Dabei läßt sich bereits die Erwartung formulieren, daß die Uhr angesichts ihrer unterstellten Herrschaft über die Welt einerseits ständig vorhanden, andererseits angesichts des falschen und üblen Charakters dieser Herrschaft aber auch ständig unterdrückt bleibt in den Texten, die untergründig ein Bild der richtigen Welt suggerieren wollen.

Die Erzählung Max Aurach scheint Erwartungen dieser Art in besonderem Maße zu bestätigen. Ziemlich zu Anfang tritt eine äußerst auffällige Uhr in Erscheinung, die sogenannte teas-maid, Weckeruhr und Teemaschine zugleich. Anhand eines Photos können wir uns ein Bild machen von diesem Miniaturkraftwerk. Eingelassen in die Gesamtapparatur ist der Uhr trotz ihrer beängstigender Größe nicht nur jeder Schrecken genommen, das Zifferblatt phosphoresziert nachts in einem vertrauten Lindgrün, wie es schon in der Kindheit immer ein unerklärliches Gefühl des Behütetseins hervorgerufen hatte, und das ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät ist es womöglich gewesen, das durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags den Neuankömmling in Manchester am Leben festhalten ließ (AW 227f). Nach diesem denkwürdigen Auftritt verschwinden die Zeitmesser für lange Zeit von der Erzählbühne. Als es aber um die Einwandererstadt Manchester und die zugewanderten Menschen geht, werden nach einigen übergreifenden Berufsgruppen, wie Handwerker und Händler die Vertreter von zwanzig konkreten Berufen aufgezählt wie Kappenmacher, Buchbinder oder Silberschmiede, an erster Stelle aber die Uhrmacher; nicht unbedingt eine bewußte Setzung des Autors, sicher aber auch kein Zufall (AW 286).


Bei aller Absicht, uns im dichten Geflecht der Textur nicht zu verlieren, dürfen wir doch das Phänomen der versteckten oder natürlichen Uhren nicht übergehen. Ein besonders schönes Exemplar finden wir in Gestalt der Hirschkäfer. Manchmal fährt in scheinbar ein Schreck in die Glieder. Sie haben eine Art Ohnmachtsanfall. Reglos liegen sie da, und mir ist es, als hätte das Herz der Welt ausgesetzt. Erst wenn man selber den Atem anhält kehren sie aus dem Tod wieder zurück ins Leben und nimmt die Zeit ihren Lauf (AW 310). Die szenische Verwandtschaft zur oben besprochenen Uhr mit dem Richtschwertzeiger im Bahnhof Antwerpen ist offensichtlich, und nicht von ungefähr schließt sich auch an dieser Stelle eine Reflexion auf das Wesen der Zeit an. Es ist die Zeit der Kindheit, und die steht, wie sich auch schon an der Teemagd gezeigt hatte, unter dem besonderen Schutz der Uhr und dem Gleichmaß der Tage. Aufstehen kurz vor sechs, dann dies und jenes, um vier Uhr mit Stopf- und Häkelzeug im Schweizerhäuschen etc, um zehn Uhr ist der Zauber zu Ende. An besonderen Tagen Aufstehen schon vor fünf Uhr (AW 315 f). - Die Erzählung endet mit einem Bild der letztendlichen Uhr: Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere.

In der Erzählung Ambros Adelwarth vergehen nahezu zwanzig uhrenlose Seiten, bis der Ambros in der Wirtschaft in Gopprecht einem durchreisenden Uhrmacher voller Begeisterung von der Schönheit des Welschlands erzählt (AW 112). Ein besonderer erzählerischer Bedarf an einem Uhrmacher besteht nicht, und er verschwindet auch sofort wieder spurlos von der Bildfläche. Wiederum knapp zwanzig Seiten weiter heißt es vom Onkel Kasimir: Dann holte er seine Kamera hervor und machte diese Aufnahme, von der er mit zwei Jahre später einen Abzug schickte zusammen mit seiner goldenen Taschenuhr (AW 129f). Wider erscheint das Uhrenmotiv unmotiviert, diesmal ist es aber eine betonte Unmotiviertheit, die sich von der Motiviertheit des Photos deutlich abhebt, eine Unmotiviertheit sozusagen, die zu denken gibt, und bei der der Autor sich ganz offensichtlich etwas gedacht hat. Zwischendurch hatte es auf Seite 119 eine, nach Art der im Bahnhof Antwerpen, groß herausgestellte Uhr im Saal des Norddeutschen Lloyds in Bremerhaven gegeben: Über der Tür, durch die wir zuletzt hinaus mußten, war eine große runde Uhr angebracht mit römischen Ziffern, und über der Uhr stand mit verzierten Buchstaben geschrieben der Spruch Mein Feld ist die Welt.

Damit verabschiedet sich das Uhrenmotiv aus der Erzählung, die sich ihrerseits zu ihrem Ende hin in den Orient und gänzlich aus der Zeit begibt. Als wäre das Rad noch nicht erfunden. Oder sind wir nicht mehr in der Zeit? (AW 196) Jenseits des Tales Josaphat, wo am Ende der Zeit das ganze Menschengeschlecht leibhaftig zusammenkommen soll (AW 208).

In der Erzählung Paul Bereyter stoßen wir zunächst auf die riesige Uhr vor dem Bahnhofsgebäude (AW 45), das Uhrenthema ist mit dem in dieser Erzählung großen Thema der Eisenbahn verschmolzen. In einem nächsten Schritt wird Paul Bereyter selbst in den Themenkomplex einbezogen: Er redete mit einem leichten Sprach- oder Klangfehler, irgendwie nicht mit dem Kehlkopf, sondern aus der Herzgegend heraus, weshalb es einem manchmal vorkam, als werde er in seinem Inwendigen von einem Uhrwerk angetrieben und der ganze Paul sei ein künstlicher, aus Blech- und anderen Metallteilen zusammengesetzter Mensch, den die geringste Funktionsstörung aus der Bahn werfen konnte (AW 52). Man kann wie Austerlitz - der im übrigen mit Bereyter ausdrücklich verwoben wird, indem Selysses ihn als seinen ersten Lehrer überhaupt bezeichnet, dem er seit seiner Volkschulzeit, also seit der Bereyterzeit, habe zuhören können (AUS 52) - man kann wie Austerlitz Uhren ablehnen, die eigene Körperuhr aber nur dadurch abstellen, daß man sie abstellt. Die Ausgewanderten ist eine Sammlung von vier Selbstmordgeschichten, vom vierfachen Abstellen der Uhr. Ambros Adelwarth hat nur eine indirekte Form des Selbstmords gewählt, und Max Aurach ist erst entschlossen, seinem Zustand möglichst bald zu entkommen auf die eine oder andere Weise (AW 346).


In der Erzählung Ritorno in Patria geht der Jäger Hans Schlag aus dem Leben, man weiß nicht, ob durch Unfall, Selbstmord, Mord oder auf eine andere, übernatürliche Art. Das Uhrenmotiv wird eingeführt mit einer weiteren Szene aus der Familiengruppe Richtschwertuhr Antwerpen & Hirschkäfer. Unter dem Bild, auf dem der Selbstmord eines Liebespaars dargestellt war, stand der für die kommende Woche gedachte Kuchen, der Regulator tickte, und immer eh er zu schlagen anfing, ächzte er lange auf, als brächte er es nicht über sich, den Verlust einer weiteren Viertelstunde anzuzeigen (SG 238). Beim Uhrmacher Ebentheuer , bei dem der Großvater die Sackuhr in Reparatur gegeben hatte, wird vorgegriffen, sozusagen im dörflichen Format, auf die Szene im königlichen Observatorium Greenwich. In dem kleinen Uhrenladen tickten eine Unzahl von Standuhren, Regulatoren, Wohnzimmer- und Küchenuhren, Weckern, Taschen- und Armbanduhren durcheinander, ganz so als könne ein Uhrwerk allein nicht genug Zeit zerstören (SG 255). Und dann schon die Uhr des Jägers Schlag: Bis tief in die Nacht saß er bei seinem Glas, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Meist war sein Blick gesenkt auf die auffallend kostbare goldene Taschenuhr, die er vor sich liegen hatte, als dürfe er irgend einen wichtigen Termin nicht versäumen (SG 259). Dann, als der den Tod feststellende Arzt behutsam die Rossdecke über den leblosen Körper zieht, spielte zugleich, ausgelöst durch eine weiß Gott was für eine winzige Bewegung, die Repetieruhr in der Westentasche oder im Hosensack ein paar Takte des Lieds „Üb immer Treu und Redlichkeit“ (SG 271). Hat der Jäger Schlag, der ja zugleich Kafkas dem Tod auf einer Barke hinterherfahrende Jäger Gracchus ist, allen Anschein zum Trotz sein Sterben ein weiteres Mal verfehlt?

In der Geschwistererzählung All'estero gelangt das Uhrenthema nicht in den Bereich semantisch aktiver Motivmoleküle. Der prominenteste Auftritt ist die riesige Rolexuhr am rechten Handgelenk des Brigadiere Dalmazio Orgiu (SG 116). Das geht aber über die Leistung der Personencharakterisierung nicht hinaus.

Die Abneigung des Titelhelden gegenüber Uhren hat die späteren Teile des Austerlitzbuches von Uhren weitgehend freigefegt. Die gegen die Uhr gerichtete Philippika wird aber nur wenige Seiten später in einer eindrücklichen Antiuhrenszene noch einmal aufgenommen und übertrumpft. Im Billardzimmer des Landsitzes Iver Grove war seit dem Tode Ashmans am Sylvesterabend von 1813 auf 1814 von niemandem mehr ein Queue zur Hand genommen worden. So abgesondert sei dieser Raum von dem Rest des Hauses offenbar stets gewesen, daß sich im Verlaufe von eineinhalb Jahrhunderten kaum eine hauchdünne Staubschicht habe ablagern können. Es war, als sei hier die Zeit, die sonst doch unwiderruflich verrinnt, stehengeblieben. Als man die Paravents, vor die man große Kleiderschränke geschoben hatte, im Herbst 1951 oder 1952 entfernte, sei es ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit. Eine stumme Wut sei in ihm aufgestiegen, und ehe er auch nur wußte, was er tat, habe er draußen auf dem hinteren Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Uhrentürmchen der Remise geschossen, an dessen Zifferblatt man die Einschläge heute noch sehen könne (AUS 157ff).

Auch müssen wir noch einmal zurückkehren zum Anfang, um eine schöne Brücke des Uhrenthemas zu dem der Empfangsdamen nicht zu versäumen. In dem Buffetraum waren wir allein mit einem einsamen Fernet-Trinker und mit einer Buffetdame, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Barhocker hinter dem Ausschank thronte und sich mit vollkommener Hingebung und Konzentration die Fingernägel feilte. Von dieser Dame, deren wasserstoffblondes Haar zu einem vogelnestartigen Gebilde aufgetürmt war, behauptete Austerlitz beiläufig, es sei die Göttin der vergangenen Zeit. Tatsächlich befand sich an der Wand hinter ihr als Hauptstück des Buffetsaals eine mächtige Uhr (AUS 16). Wir gehen aber gar nicht über die Brücke und versuchen auch nicht den möglichen Tiefsinn der beiläufigen Bemerkung auszuloten, sondern richten das Augenmerk aber auf den sonst schnell vergessenen einsamen Fernet-Trinker, der uns zu seinem Gefährten, dem einsamen Pastis-Trinker auf Korsika führt.

Von den Konkurrenzkünsten findet die Malerei in Sebalds Werk deutlich mehr Beachtung als die Musik, umso froher sind wir über die nachgelassenen Moments Musicaux, Die mit einem der eindrucksvollsten und schönsten Uhrenszenen überhaupt beginnen: Eine Stunde später, als ich gerade beim Ausbrechen des Unwetters Evisa erreichte und dort im Café des Sports Zuflucht gefunden hatte, schaute ich lange durch die offene Tür hinaus auf den schräg in die Gasse rauschenden Regen. Der einzige Gast außer mir war ein greiser, mit einem wollenen Kittel und einem ausgedienten Armeeanorak bereits für die Wintermonate gerüsteter Mann. Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr (CS 223).

Das endlose Ticken der Uhr, der nackte Taktschlag des Todes am Eingang der der Musik gewidmeten Erzählung: Geht es in der Musik, geht es in der Kunst überhaupt und geht es im Werk Sebalds zumal darum, das unaufhaltsame Vorrücken des Zeigers zu umspielen und für einen Augenblick vergessen zu machen?

Auf ein Zeitzählwerk aus dem Austerlitzbuch ist noch einzugehen. Mal für Mal lasse ich das Band zurücklaufen und sehe den Zeitanzeiger in der oberen linken Ecke des Bildschirms, die Zahlen, die einen Teil ihrer Stirn verdecken, die Minuten und die Sekunden, von 10:53 bis 10:57, und die Hundertstelsekunden, die sich davondrehen, so geschwind, daß man sie nicht entziffern und festhalten kann (AUS 359). In diesen gedehnten vier Sekunden glaubt Austerlitz, der sich eine Zeitlupenkopie von dem Theresienstadtfilm hat herstellen lassen, in dem Gesicht einer jüngeren Frau, etwas zurückgesetzt und mehr gegen den oberen Rand, fast ununterschieden von dem schwarzen Schatten, der sie umgibt (AUS 358), ein mögliches Abbild seiner Mutter Agatha zu erkennen. Ein nichts an Zeit und ein unzuverlässiger Schemen aus der Vergangenheit – mehr wert als das Leben.

Sand Sebolt

He entrat dins el silenci i la penombra.
M'assec en la duresa d'un dels bancs.



Sebald eröffnet sein dichterisches Gesamtwerk mit einem Heiligentableau, Matthias Grünewalds Altar in der Pfarrkirche von Lindenhardt. Der Heilige Georg steht vorn, eine Handbreit über der Welt, hinter ihm heilige Männer und Frauen, die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe stecken ihre Köpfe zusammen und sind im Blick verschworen gegen Blasius, Achaz und Eustach, Pantaleon, Aegidius, Cyriax, Christophorus und den wirklich schönen heiligen Veit mit dem Hahn (NN 7ff). Die Zahl der Heiligen in Sebalds Gesamtwerk ist, zählt man auch noch die Engel hinzu, Legion.
 Die kolportierte Nachricht, Sebald habe aus Abscheu gegen seine Vornamen durchweg das Kürzel WG verwendet, kann auf den Namen Georg, der ihn erkennbar als akzeptierter Schutzheiliger durchs Werk begleitet, kaum zutreffen. Schon bei seinem ersten Auftritt segnet Georgius Miles, über dem Boden schwebend, gleichsam Sebalds metaphysisches Stilideal der Levitation der Sätze. Auch der Verbindung seines Nachnamens zum Sakralen ist Sebald durchaus mit Sympathie und Liebe nachgegangen. Die Nacherzählung der Legende vom Heiligen Sebald, Sand Sebolt, schließt mit dem Satz: Bei Regensburg überquert er auf seinem Mantel die Donau, macht in der Stadt ein zerbrochenes Glas wieder ganz und entfacht im Herd eines ums Feuer geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Daran schließt Sebald eine seiner schönsten und rätselhaftesten Überlegungen überhaupt an: Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei, die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen (RS 107).

Die Bekanntschaft des Ritters Georg hat Sebald biographisch schon als Kind in Wertach gemacht, dort stand der Heilige und steht noch immer am Ende der hohen Friedhofsmauer und durchbohrt ohne Unterlaß mit seinem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen (SG 264). Dem Wertacher Georg wird, glaubt man herauszuhören, weniger Sympathie entgegengebracht als dem Lindenhardter, am meisten geliebt aber ist Pisanellos San Giorgio con capello di paglia (SG 280 ff) .

In einem Interview hat Sebald geäußert, das Leben sei ohne Sinn und jeder wisse das, umso mehr aber komme es darauf an, nichts außer Acht zu lassen, was wenigstens für den Augenblick als Sinn gelten oder nach Sinn aussehen kann. Eine derartige Äußerung läßt nicht auf vertiefte Religiosität schließen. Die einzige religiöse Ortsbestimmung einer der handelnden Personen im Werk Sebalds findet sich in der Erzählung vom Paul Bereyter, von dem das dem Erzähler lange Zeit unverständliche Gerücht umging, er sei gottgläubig, wobei dem Paul gleichzeitig offenbar nichts derart zuwider war wie die katholische Salbaderei (AW 53). Nichts weist darauf hin, die Einstellung des Erzählers und mit ihm die Sebalds wäre von der Paul Bereyters im Grundsatz unterschieden gewesen. Der alltägliche Provinzkatholizismus im Allgäu wird ihm in ähnlicher Weise zugesetzt haben. Wieso dann aber die vielen Heiligen im dichterischen Werk? Wie sah seine, Sebalds, eigene, ihm selbst möglicherweise ebenso unverständliche Gottgläubigkeit aus?

Soviel immerhin läßt sich ergründen: Einmal ist mit den Heiligen ein Sebaldsches Großthema berührt, die Gleichberechtigung der Toten mit dem Lebenden und das Nichtverschwinden der Toten aus dem Leben. Wie im einzelnen und wie ernst er das gemeint hat, muß nicht bekümmern. Dreht man freilich die Schraube einen Schlag weiter, um die dominierende Position dessen einzuschränken, was als Realität gilt aber wohl nicht die Wahrheit ist, mag es schon wieder anders aussehen. Sicher hat Sebald die Totenlegenden aus Korsika und Wales nicht in der Weise geglaubt, wie er sie selbst vorträgt, in jedem Fall aber sind von der Beantwortung solcher Realitätsfragen im Bereich künstlerischer Prosa sowohl Autor als auch Leser freigestellt. Richtig ist jedenfalls, daß die Heiligen erst im Tod ihre wahre Existenzform gewinnen. Im Leben mögen sie heilige Dinge verrichten, dem offiziellen Stand der Heiligen können sie aber erst nach dem Ableben zugerechnet werden. Der Tod ist für sie sozusagen eine Existenzsteigerung und als Schutzpatrone bleiben sie mit den Lebenden auf das Engste verbunden. Es ist die prominenteste uns in Europa bekannte Form des Zusammenlebens von Lebenden und Toten.
Weiterhin kann man urteilen, daß die christliche Kirche in Europa vergleichsweise die ausgedehntesten und reichhaltigsten Sinnfelder überhaupt entwickelt hat, auf die angesichts des von Sebald unterstellten basalen Sinnvakuums des menschlichen Daseins unter keinen Umständen verzichtet werden kann. Bedeutende Teile der christlichen Sinnfelder sind in große Kunst, in große Bildwerke eingebunden und in dieser Form zeitlos und ohne irgendeine Erschöpfung der Flöze immerfort abbaubar. Die christlichen Bildwerke gewähren Einblick in uferloses Entsetzen und in kurze Augenblicke der Hoffnung, die sich oft allein aus der Schönheit der Darstellung ergeben: die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Die Engel selbst haben die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? (Giottos Klageengel SG 96) Grünewald ist der Maler der gemarterten Körper und Seelen in einer in den schönsten und schauerlichsten Farben ausgeführten Vergegenwärtigung (NN 22).
An zwei bedeutsamen Stellen seines Oeuvres bewegt Sebald sich weg von den christlichen Heiligen hin zu dem überragenden jüdischen Heiligtum, dem Tempel in Jerusalem, genauer: dem Modellbau des Tempels. In der Erzählung Max Aurach gelangt der Titelheld gegen Ende eines längeren Traums durch eine mit erstaunlicher Kunstfertigkeit gemalte trompe-L’oeil-Türe in ein tief verstaubtes, seit Jahren offenbar nicht mehr betretenes Kabinett, das er nach einigem Zögern als das Wohnzimmer seiner Eltern erkennt. Ein wenig seitwärts auf dem Kanapee saß ein ihm fremder Mann, offenbar mir jiddischem Hintergrund aus Drohobycz stammend. (Bruno Schulz oder, wenn nicht er selbst, eine seiner Gestalten?) Er hielt ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe gemachtes Modell des Tempels Salomonis auf dem Schoß, das er getreu nach den Angaben der Bibel in siebenjähriger Arbeit eigenhändig erbaut habe. Sehen Sie, sagte er, man erkennt eine jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich, sagte Aurach, beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht AW 261 f).
Es ist eine Traumwahrheit, die sich beim Versuch, sie auf die Leinwand realer Vorstellungen zu übertragen, nur gänzlich auflösen würde. Zudem ist es die Wahrheit eines gepeinigten jüdischen Künstlers, die wir nicht ohne Anmaßung uns aneignen könnten. Vorsichtig soll nur angedeutet werden, daß sich eine der dominierenden Kunstauffassung offenbar diametral entgegengesetztes Verständnis durchdrückt. Nach ihrer Ausdifferenzierung und Verselbständigung zumal gegenüber der Religion feiert sich die neuzeitliche Kunst vornehmlich in Exzessen der Freiheit und Selbstbezüglichkeit. Hier scheint sie selig rückversklavt an die Aufgabe, ein akribisches Modell des Heiligen zu erzeugen.

Im Saturnbuch ist der Bau des Tempelmodells aus dem Traum in die reale Welt verlagert. Alec Garrad baut auch nicht aus religiösem Anlaß, er hatte sich allgemein dem Modellbau zugewandt und zunächst mit Schiffen begonnen. Inzwischen ist sein Leben aber fast völlig verschmolzen mit dem Tempelmodellbau, dem er alle nur irgend verfügbare Zeit widmet. Gleichzeitig aber ist am Tempel angesichts des Umfangs und der Minutiosität der zu leistenden Arbeit von einem Jahr auf das andere so gut wie kein Fortschritt zu erkennen. Das erinnert, wenn auch nicht in den Einzelheiten, an Sisyphos. Der Kunst- und Wahrheitsgedanke ist aus dem Bau des Tempels herausgenommen in den abschließenden Seitenblick auf eine Entenschar. Immer sagte er, Alec Garrad, habe ich Enten gehalten, schon als Kind, und immer ist mir die Farbgebung ihres Federkleids, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzige mögliche Antwort erschienen auf die Fragen, die mich seit jeher bewegten (AW 293 f). Zahlreiche metaphysische Augenblick im Werk Sebalds gehen aus von Hühner- und Entenvögeln, man möchte fast schon vom heiligen Federvieh Sebaldi sprechen.

Das Heilige ist gegenwärtig am besten in den Bildwerken der Hochkunst verwahrt. Andererseits aber finden auch äußerst bescheidener Kunstanspruch oder reines Handwerk Gnade, wenn sie dem Heiligen gewidmet sind. Am Maler der Krummenbacher Kapelle, aus dessen ungeschickter Hand die Kreuzwegstationen stammen, wird hervorgehoben, er habe sich mit seinen Bildchen vielleicht nicht weniger gemüht als im gleichen Jahr Tiepolo an seinem großen Deckengemälde in der Würzburger Residenz (SG 197). Der säkulare Maler Hengge, der mit sicher größerem Kunstverstand sein Leben lang fast ausschließlich Holzerbilder verfertigt hat und die in unendlicher Zahl, findet keine vergleichbar rühmende Erwähnung (SG 223 ff)

Zum Schluß wenden wir uns wieder der Hochkunst zu und zwar dem bereits erwähnten San Giorgio con capello di paglia Pisanellos, der eine besondere Stellung in den Schwindel.Gefühlen und womöglich im Gesamtwerk des Dichters hat. Das Gemälde wird mit liebevoller Akribie beschrieben. Auf der linken Seite steht der Heilige Antonius als bärtiger, strenger Eremit, rechts, ihm zugewandt, Giorgio, von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht, nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf ihn. Die heilig-weltliche Tat ist getan, das Böse ist beseitigt, der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier hat sein Leben bereits ausgehaucht. Georg kann sich ins säkulare Zivilleben verabschieden, ohne aber der heiligen Transzendenz den Rücken zu kehren. Der Helm ist gegen einen mit einer großen Feder geschmückten Strohhut ausgetauscht. Man wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. – Nun, es ist ein extravaganter Augenblick der Menschheitsgeschichte, dieses spannungsfreie Zusammenspiel der alten metaphysischen und der neuen säkularen Welt. Aus dem Himmelsblau hervorstrahlend segnet die Jungfrau mit dem Erlöserkind diesen Bund.

Einen vergleichbar extravaganten Augenblicks des Ausgleichs, des Augenblicks einer richtigen Welt hat Sebald in den alemannischen Utopien Kellers und Hebels gesehen (die Aufsätze in LL). Dieser ausgeglichene historische Zustand endete spätestens 1914. Die Jahreszahl 1913, mäandert durch das gesamte Buch von den Schwindel.Gefühlen. Sebalds eigene Lebens- und Schaffenszeit liegt weit jenseits des historischen Balancepunktes. Die Schwindel.Gefühle sind Sebalds hellstes Werk, und San Giorgio in der aus weißem Metall geschmiedeten, kunstreichen Rüstung, die allen Abendschein auf sich sammelt und den hellen Strohhut über dem jugendlichen Gesicht einer der hellsten Augenblicke darin. Auf den wenigen noch verbleibenden Seiten verdunkelt es sich dann rapide: Die menschen- und gottverlassene Londoner U-Bahnstation mit der sehr schwarzen Negerfrau im engen Schalterhäuschen, die rußigen Ziegelmauern bei der Ausfahrt aus Liverpool Station, die Schotterwüste im Alpentraum, ein helles, gleißendes Grau, in dem Myriaden von Quarzsplittern schimmerten, eine Helle, möchte man meinen, so dunkel und öd wie kein Dunkel, nirgends ein Baum zu sehen, kein Strauch, kein Krüppelholz, kein Büschelchen Gras, alles nur Stein, das große Feuer von London in Samuel Pepys Tagebuch, kein helles Feuer, sondern ein grausig blutig böses Lohen. Die beiden letzten Worte der Schwindel.Gefühle sind die Zahl 2013 und Ende. Das Wort Ende erscheint gleichsam an der Stelle, an der in den älteren Film das Licht wieder anging im Kino. Kein neueres Prosawerk endet aber nach der Weise der alten Filme, auch Sebalds Bücher nicht. 2013 und Ende sind die letzten bedeutungsschweren Worte des Textes und keineswegs nur der Hinweis, daß das Buch jetzt geschlossen werden kann. Was wird 2013 zu Ende sein? Die schlimme Zeit, die falsche Welt? Eher nicht. Ich sage Euch: There's a mighty judgement coming! - But I may be wrong.

Dienstag, 8. Juli 2008

Leaving Prague

Wer den Autor Sebald zuvor nicht kannte, mag die Lektüre des Austerlitzbuches mit Vorbehalten und Unbehagen angegangen sein. Der Einband mit der seltsamen Knabengestalt als Edelclown ist nicht jedermanns Sache. Im Inneren dann im Durchschnitt auf jeder dritten Seite ein Photo. Vielleicht, so die denkbare Befürchtung, hat hier ein Autor selbst eingesehen, daß es ihm sprachlich nicht ganz reicht, und seinen Ausführungen mit Bildchen aufgeholfen. Aber spätestens auf der zweiten Seite unten, noch vor dem ersten Photo, dort wo im Zwielicht des Antwerpener Nachtzoos der Waschbär am Bächlein sitzt und immer denselben Apfelschnitz wäscht, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war, wissen wir: hier ist einer der großen Zauberer am Werk.

Was noch eine Weile sich halten kann, ist ein leichtes Unbehagen am zunächst wenig einleuchtenden Titel, der zugleich der Name des Helden im Buch ist. In Fortgang der Lektüre werden dann, abgesehen von einer apokryphen Laura Austerlitz, die vor einem italienischen Untersuchungsrichter Aussagen gemacht haben soll über die 1944 in einer Reismühle auf der Insel Saba bei Triest verübten Verbrechen, drei Bedeutungsquellen genannt, zunächst natürlich der napoleonische Schlachtenort, dann der bürgerliche Name des Tänzers Fred Astaire und schließlich eine Gestalt dieses Namens aus Kafkas Tagebüchern. Die Schlacht bei Austerlitz findet breite Berücksichtung im spaßigen Bericht über die Unterrichtsmethodik des Lehrers Andre Hilary, und zahlreiche Fäden verflechten sich von dorther in die Darstellung von Kriegsgewalt und Fortifikationswesen. Was nun Fred Astaire anbelangt, so hat er in bürgerlicher Kleidung bürgerliche Szenen getanzt, mithin Prosa, und Kenner der Tanzkunst haben ihm und seinen Sprüngen eine metaphysikalische Schwerelosigkeit attestiert. Angesichts der eigenen ästhetischen Zielsetzungen ein deutliches wenn auch angemessen verstecktes Sebaldus fuit hic also, das der Dichter, wie anzunehmen ist, mit einigem Wohlgefallen in sein Prosawerk eingezeichnet hat. Die tiefsten Bezüge aber verlaufen natürlich nicht zu Astaire, sondern zu Kafka und zwar exakt zu seinen Tagebüchern, die vom jüdischen Leben in Prag viel tiefer und direkter erfüllt sind als die Erzählprosa. Mit der bloßen Nennung Kafkas ist im Souterrain des Austerlitzromans ein intensiver und makabrer Kontrast aufgebaut zwischen dem jüdischen Prag der zwanziger Jahre und dem im Prinzip judenfreien Prag, das Sebalds Held Austerlitz aufsuchen muß.

Der fragliche Tagebucheintrag findet sich unter dem 24.12.1911. Es geht um die Beschneidung von Kafkas Neffen. Ein kleiner krummbeiniger Mann, Austerlitz, der schon 2800 Beschneidungen hinter sich hat, führt die Sache sehr geschickt aus. Kafkas Austerlitz steht also nicht nur einfach für jüdisches Leben, er steht an einem zentralen Punkt jüdischen Lebens. Wer, ohne sonst über viel theologische Bildung zu verfügen, Jack Miles‘ God, a Biography gelesen hat, dem steht der gemeinsame jüdische und christliche Gott des Alten Testaments vor allem als Vorhautsammler vor Augen.

Philologische Akribie könnte wahrscheinlich viele Einzelbezüge den Prager Passagen im Austerlitzbuch und Kafkas Schriften herausarbeiten, hier soll es nur um eine Einzelheit gehen. Unter dem 1.11.1911 findet sich der folgende Eintrag:

Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. Klug bereitete ihr Taschentuch zum Winken vor, ich möchte ihr schreiben, rief sie noch, ob ich ihre Adresse wüßte, sie war schon zu weit, als daß ich ihr mit Worten hätte antworten können, ich zeigte auf Löwy von dem ich die Adresse erfahren könnte, das ist gut, nickte sie mir und ihm kurz zu und ließ das Taschentuch flattern, ich hob den Hut, zuerst ungeschickt, dann je weiter sie war, desto freier. Später erinnerte ich mich daran, daß ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann.

Sebald macht daraus folgendes:

Vera erinnerte sich (...) an das Flattern, gleich dem einer auffliegenden Taubenschar, der weißen Taschentücher, mit denen die zurückbleibenden Eltern ihren Kindern nachwinkten, und an den seltsamen Eindruck, den sie gehabt habe, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei.

Mir ist nicht erinnerlich oder bekannt, daß Kafka das Motiv des versinkenden Zuges literarisch genutzt und ausgearbeitet hätte, umso schöner die reiche Aufnahme des Motivs durch Sebald. Es ist ja nicht nur der Titelheld Austerlitz, der Prag nicht verläßt, um irgendwo anzukommen, es ist Europa, das entgegen aufklärerischen Annahmen nicht abfahren kann, und es ist die Welt, für deren jetzigen Zustand Europa ja mehr oder weniger ganz allein verantwortlich ist. Keller und Hebel unterlagen einer Täuschung, wenn sie hofften, wenn schon nicht glaubten, eine kurzes Stück noch und die Welt möchte in Ordnung kommen (Logis im Landhaus), eine Täuschung freilich, die viele Wahrheiten in den Schatten stellt. Kafkas Ängste waren berechtigt, der im Feuer erzeugte Dampf der Maschine ist nicht Element einer fortschreitenden, sondern einer immer schneller nur verbrennenden Welt.

Die Metapher der weißen Tücher als Taubenschar bringt das den Austerlitzroman vielfältig durchziehende Flugmotiv ins Spiel. Aber die Welt wird sich nicht erheben, die Enthusiasten der Luftfahrt (Gerald im Austerlitz- und der andere im Saturnbuch) sind längst abgestürzt, Giottos Angeli visitanti la scena della disgrazia mit ihren im Schmerz so sehr zusammengezogenen Brauen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden, diese drei Engel, zu denen Sebalds Prosa sich hinzugesellt (denn was ist sie anderes als ein schwebendes Lamento über eine Welt im Stand der Ungnade), bleiben, zumindest im Bereich der Flugobjekte, das weitaus Wunderbarste, was wir uns jemals haben ausdenken können (Schwindel.Gefühle).

Montag, 7. Juli 2008

Auch Sebald war einfach kein guter Mensch

per bell que sigui, ha de ser cruel.

In seinem Aufsatz: Lehren vom Ähnlichen rückt Sigurd Martin Sebalds Prosa insgesamt in ein gutes Licht, fühlt sich aber als Wissenschaftler und noch mehr als Bürger eines wohlanständigen, ganz den Idealen der Aufklärung, der Habermasschen Diskurslehre und der Rawlsschen allseitigen Fairness verpflichteten Staatswesens, dies wiederum eingebettet in eine permanent anwachsende Staatenunion mit haargenau den gleichen Idealen – fühlt sich also als ein solcher Bürger auch zur Kritik veranlaßt. So rügt er, wenn auch milde, den Dichter in der bekannten Susi-Bechhöfer-Affaire. Frau Bechhöfer hatte Sebald beschuldigt, ihr die Lebensgeschichte gestohlen zu gaben, um sie im Austerlitzbuch zu verwenden. Einen Aufsatz zuvor im gleichen Band (Verschiebebahnhöfe der Erinnerung, 2007) hatte Klaus Jedziorkowski demgegenüber ohne Einschränkungen, sozusagen als Vertreter der ästhetischen Fraktion und schon dadurch im offenen Widerspruch zu Martin, klargestellt, daß durch das Sebaldsche Erzählen nichts entwendet wurde und dieser Frau ihre Biographie ungeschmälert erhalten geblieben ist.


Eine der nicht geringsten Merkwürdigkeiten Sebalds ist die Erzeugung einer in jeder Faser ureigenen Textur bei schon provokativ zu nennendem Verzicht darauf, viel Eigenes einzubringen. Die walisischen Episoden in Austerlitz sind vielfältig an Chatwins Black Mountain angelehnt, der Turbanträger mit dem Pappdeckelkarton, der Austerlitz sozusagen in den Ladies Waiting Room des Londoner Liverpoolbahnhofs hineinkehrt, ist, so haben wir gelernt, ein kafkaesker Helfer, der Aufbruch vom Prager Bahnhof später im Buch erblüht ganz aus einer knappen Skizze in Kafkas Tagebuch (Eintrag vom 1 XI 11), Wittgenstein geistert vielfältig durch das Buch etwa mit längeren sprachtheoretischen Passagen. Susi Bechhöfers Biographie sind dagegen nur einige karge Handlungs- und Strukturmotive entnommen. Weniger prominent als Chatwin und Kafka darf sie dafür dann aber auch selbst, wenn schon ohne namentliche Nennung, im Buch auftreten, das ist gerecht, damit muß sie zufrieden sein.

Eine andere Merkwürdigkeit ist der, bei extremer Modulationsfähigkeit, immer gleichmäßige Tonfall, gekennzeichnet durch eine elaborierte und kultivierte Syntax und, wie Matthias Zucchi in wirklich erleuchtender, die Schuppen aus den Augen reibender Weise ausführt: den Verzicht auf das gesamte nach 1933 in die deutsche Sprache eingedrungene Wortmaterial. Die gepflegte Fassade verdeckt vielen den Spaßvogel Sebald. Dabei wird mehrfach nur durch Beiläufigkeit des Vortrags und ungerührte Mimik das Passieren der Grenze zum groben Ulk vermieden, oder wie sonst soll man es nennen, wenn in den Schwindel.Gefühlen ein dort abgedrucktes Photo dahingehend kommentiert wird, die Bevölkerung von Desenzano habe sich mehr oder weniger vollständig zum Empfang des Vicesekretärs der Prager Arbeiterunfallversicherungsanstalt Dr. Franz Kafka auf dem Marktplatz versammelt.

Auch Kafka, der engste literarische Freund, soll sich ja weithin als Komiker eingeschätzt und beim Vorlesen der eigenen Produkte oft aus vollem Halse gelacht haben. Ein kongenialer Kumpan Sebalds in Scherz, Zorn und Boshaftigkeit aber ist Thomas Bernhard. Sebalds Anlehnungen an Bernhard sind weniger aufgefallen und spärlicher kommentiert worden als die an Kafka oder Nabokow. Es fällt aber z.B. schwer, die einleitenden Passagen von Il ritorno in patria anders zu lesen denn als Hommage an den gänzlich ungezähmten Österreicher. Die Bewegung des plötzlichen Aufbruchs mit einem bestimmten Zielort und zwischengestalteten Nebenziel (hier: von Bruneck zurück nach England über Wertach) oder, allgemeiner noch, das „geographische Mischen“ ist ein ganz und gar Bernhardsche Kunstgriff. Man führe sich nur den Einleitungssatz des Romans von der Auslöschung vor Augen, der die Orte und Plätze wild bis zum zumindest vorübergehenden Orientierungsverlust des Lesers mischt. Im gegenwärtigen Zusammenhang kommt es aber nur auf das Merkmal der rücksichtslosen, superlativistischen und einer sachlichen Betrachtung nicht standhaltenden Behauptungen an: das immer grauenvollste Wetter in Innsbruck, die Tiroler Trunksucht, die weltweit ihresgleichen nicht hat. Bei Bernhard waren schon lange vor seinem Tod alle Versuche als aussichtslos eingestellt worden, ihm zu irgendetwas und zumal zu Österreich eine ausgewogene und einsichtige Äußerung oder gar Haltung abzuringen. Tatsächlich wäre die gewünschte Leistung eine Verzichtsleistung gewesen, die er gar nicht erbringen konnte, denn erst die ständigen Schimpfkaskaden ergeben als wüste Pinselstriche die durchgehend dunkle Hintergrundschraffur seiner Werke, von denen sich dann nur schwer sichtbar aber doch sehr deutlich anderes abhebt. Jedenfalls hat ihn das eigene Wüten nicht daran gehindert, seine Bücher je länger desto mehr als Komödien einzuschätzen. Das Wüten war vielmehr die erste und sicherste Grundlage für diese Klassifikation. Bernhard vor laufender Kamera: Ich weiß nicht, was die Leut’ wollen, soll ich mich denn hinsetzen und schreiben: Salzburg ist schön? Das weiß doch eh jeder.

Sebald gewinnt seine Dunkelheiten überwiegend mit milderen Mitteln, ist aber dem Furor Berhardiensis nicht in jedem Fall abhold. Erkennbar läßt er sich an der von Sigurd Martin inkriminierten Stelle im Saturnbuch, die den belgischen Menschen wenig Gerechtigkeit widerfahren läßt, von diesem Furor reiten. Deutschland nun war für Sebald Bernhards Österreich, einen im üblichen Sinne gerechten Blickwinkel auf das Land seiner Herkunft strebt er an keiner Stelle an. Sebald hat die moralisch-ethischen und institutionellen Fortschritte gegenüber der Nazizeit im Alltag wohl ohne weiteres anerkannt (das weiß doch eh jeder, dazu braucht man die Dichter nicht!), seine Erzählwerke aber sind, einem vielfältigen anderem Anschein zum Trotz, nicht moralisch-ethischer, sondern ästhetischer Natur. In ästhetischer Hinsicht aber ist im neuen Deutschland angesichts der unappetitlichen Gemengelage von verbohrter Uneinsichtigkeit auf der einen und auf der anderen Seite dem Bestreben, an die Stelle des absolut Bösen das absolut Gute zu setzen, ein Fortschritt nicht für jedermann erkennbar. Lichtjahre entfernt ist dieser Zustand jedenfalls von der Ahnung einer auf das beste geordneten Welt, die Sebald an seinen alemannischen Freunden Keller und Hebel so geliebt hat. Eine Ahnung sicherlich, die, als sie aufkam, bereits verloren hatte, die aber selbst noch in der spaßig schlichten Form des Beredten Italieners (Schwindel.Gefühle), wo die Welt bloß aus Wörtern zusammengesetzt erscheint, als wäre dadurch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, den Maßstab für alles dann tatsächlich Eingetretene ergibt. Sebalds Methode des Beschweigens, des Ausschlagen angebotenen fortschrittlichen Vokabulars (Zucchi) ist fast noch radikaler als Bernhards Wortfuror, im übrigen als literarische Maßnahme aber auch Bernhard nicht fremd. So gewährt der Österreicher fast nur Personal mit schönen alten Berufsbezeichnungen Einlaß zu seiner Prosa, neuzeitlich blasse Fachangestellte für dies und jenes bleiben ausgesperrt. Weitere Parallelen zwischen den beiden ließen sich nennen. So hat es ein wenig den Eindruck, als habe Sebald im Luftkriegsthema gezielt eine Bernhardsche Erregung gesucht. Vor allem aber eint die Aufmerksamkeit, die sie dem Architekturthema widmen, die beiden Alpenländer. Vom Österreicher, der sich ja auch selbst als Baumeister betätigt hat, nicht nur im Korrekturroman, sondern auch im wirklichen Leben, stammt nicht zuletzt die überaus einprägsame und für einmal zutiefst ausgewogene und absolut gerechte Kennzeichnung der modernen Wohnsiedlungskultur: wie hingeschissen.

Die ästhetischen Absichten, die ihn leiten, läßt Sebald vielfältig erkennen, am direktesten vielleicht bei der Charakterisierung der Prosa des Thomas Browne: Nicht weniger als eine Quadratur des Kreises ist angestrebt, Sätze, die umso leichter und schwebender werden, desto mehr Bedeutung sie tragen müssen, ein semantischer Reigen, ein graziler Fußspitzentanz schwermütiger Sinnfelder. Wenn Schönheit in der Anmut und Würde tiefliegender semantischer Bewegungen gesucht und gefunden wird, kann sie nicht nur skin deep sein, und für die inhaltsorientierte Fraktion besteht soweit noch kein Grund zur Beunruhigung. Man kann die ästhetische Ausrichtung dann natürlich auch ganz anders beschreiben, etwa aus den Sinnfeldern heraus, verbreitet ist die Analyse als Erinnerungskunst, die Parallelisierung mit Proust etc. Der großen Mehrheit ist der Gedanke der Entscheidung für ein Primat des Ästhetischen gleichwohl unzugänglich und auch schon in der Theorie zuwider. Einer der Gründe ist sicher die ungleich einfachere Herstellung moralischer Papierprodukte im Verhältnis zu ästhetischen sowie auch ihre um einiges einfachere Rezeption. Wie schwer hinnehmbar ein ästhetisches Primat ist, zeigt sich insbesondere, wenn ein Prosawerk sich so weit auf das Thema des Holocausts einläßt, wie das Austerlitzbuch das tut. In diesem Fall muß Ordnung und Gleichschritt aller Anständigen herrschen. Es hat dann ein Buch ÜBER den Holocaust zu sein, Nebenthemen sind nur in unmittelbaren Hilfsfunktionen zugelassen, und in einer Art ritueller Starre sind die inzwischen gut eingespielten Verlautbarungen abzuhaspeln. Iris Radisch etwa kann nicht verstehen, daß neben dem GROßEN THEMA in dem Buch noch Platz für Hirschhornknöpfe sein kann. Josef Quack (Falscher Ruhm, 2004), dem der Zugang zum Austerlitzbuch so verschlossen geblieben ist, wie nur je einem armen Tropf die Türen des Gesetzes, läßt sich auch durch die eigene Beobachtung, der Autor würde an die 200 Seiten mit sinnlosem und langweiligen Gerede vertun, bis er endlich zum SACHE kommen, nicht zu der sündigen Überlegung verlocken, die Sache könne vielleicht eine ganz andere sein.

Im Buch über Wittgensteins Neffen unterbricht Bernhard eine längere Suada plötzlich mit dem entwaffnend schlichten Eingeständnis: Ich bin einfach kein guter Mensch – um dann gleich wieder gewaltig fortzufahren. Diese Stelle wird Sebald besonders gut gefallen haben. Er wird zweifellos gewußt haben, daß das Böse ein unverzichtbares Ingredienz des Schönen ist. Auf Jugendphotos stilisiert er sich in der Pose des Verworfenen (Akzente 1/2003, Seite 27/28). Auf dem Gebiet sportlicher Neigungen hatte, nach dem was bekannt ist, für ihn das Billardspiel Vorrang mit seiner Nähe zum Ganovenmilieu. Geraucht hat Sebald bis an sein Lebensende, und Besorgnis hinsichtlich seiner im Nebenstrom des Zigarettenrauchs tödlichen Gefahren ausgesetzten Mitmenschen ist nicht bekannt und wird jedenfalls in seinen Texten nicht thematisiert. Die schöne Erwägung, Bestreben allen Erzählens sei es, eine ver-rückte Welt beim Neuerzählen durch eine nur minimale Änderung womöglich zurecht zu rücken, zielt ganz allein auf den Innenraum der Erzählung. Die Idee, die Welt ließe sich real durch den ausschließlichen Austausch als korrekt erachteter Sätze ins Lot bringen, hat er kaum teilen können. Durch den bereits wiederholt erwähnten Verzicht auf neueres Wortmaterial konnte er an diesen neuartigen Versuchen auch gar nicht teilnehmen, Zigeuner müssen bei Sebald Zigeuner bleiben und Neger werden, horribile dictu, weiterhin Neger genannt, freilich ohne daß diesen ethnischen Gruppen dadurch narrative Nachteile entstehen würden, ganz im Gegenteil: Die Freundschaft, die sich während eines der extrem verlangsamten Überholvorgänge auf amerikanischen Autobahnen zur Negerfamilie im Nachbarauto einstellt (in der Erzählung Ambros Adelwarth), ist seltsamer und schöner noch als die bekannte aus Casablanca.

In mancher Beziehung kann ein von Christian Scholz aufgenommenes Photo Sebalds (Akzente 1/2003, Seite 79) als das für ihn und seine Prosa enthüllendste gelten. Freundlich-verschmitzt winkelt es sich um die halbgeschlossenen Augen (wenn man diesen Gesichtsausdruck nicht in der Prosa wiederfindet, hat man sie allenfalls halb verstanden), die untere Gesichtshälfte ist von der die Zigarettenspitze haltenden Hand verdeckt. Unverkennbar ist die souveräne, provokante Herausforderung: Ja, ich könnte jedes beliebige Eck und Ende der Welt inhalieren und Euch als den Rauch schwereloser Sätze wieder entgegenblasen, und wie könntet Ihr schöner Euren Tod finden als durch dieses Gift.

Die Welt ist kein Genußartikel

Essen und Kopulieren

Kaum ein amerikanischer Erzähler auch der gehobenen Art traut sich noch vor seine Leserschaft zu treten, ohne ihr spätestens auf der dritten Seite einen Blow Job wenn nicht an- so doch darzubieten. Die Zahl der Prosawerke, in denen wie rasend kopuliert wird, ist international Legion. So muß man es eher als Überraschung werten, wenn aus dem Kreis der jüngeren deutschen Autorenschaft unlängst erster Unmut gegenüber den Great Old Horny Men (kurz: GOHM) der USA laut wurde (Clemens Meyer im Interview).

Das Thema des Essens hat sich nicht zuletzt ausgehend vom Detektivroman her kommend auf den Vormarsch begeben. Rex Stout hat die Trinität von Detektieren, Lesen und Essen als gleichberechtigter Kunst- und Kulturformen exerziert, Manuel Vazquez Montalban dann etwa hat das Essensthema literarisch noch um einiges vorangebracht und auch für höhere literarischen Kreise hoffähig gemacht. Der literarische Aufschwung der beiden Themen, Essen und Kopulieren, ist Zeichen eines sich mit Immanenz bescheidenden Erzählens, das damit, wie immer auch überhöht und gebrochen, teilnimmt an der dominierenden Realphilosophie, wonach die Welt zuerst und vor allem zu genießen ist. Einen einprägsamen kleinen Gegenakzent hat Robert Altman in seiner schönen Verfilmung von Raymond Chandlers Long Goodbye gesetzt, indem er Philip Marlowe unter anderem dadurch ins mönchisch Entrückte verschiebt, daß er ihn ohne Pause rauchen und niemals essen läßt. Zum Essen angeboten wird Marlowe in dem fast zweistündigen Film einzig eine Dörrpflaume, und die verschwindet nach einer kurzen Bißprobe nicht in der Mundhöhle, sondern in der Reverstasche.

In Sebalds zwar schmalem, aber doch einige hundert Seiten starken erzählerischen Gesamtwerk ist die Liebe ständig anwesend, offen kopuliert wird insgesamt nur zweimal und damit, berechnet auf die zeitgenössische Literatur, weit unterdurchschnittlich*. Parallel dazu gibt es auch nur zwei bedeutende Essensszenen. Diese vier Szenen sind ausnahmslos Szenen des Scheiterns und stehen im Zentrum einer größeren oder kleineren Katastrophe. Die vier Fälle drängen sich in den beiden Erzählwerke Schwindel.Gefühle und Ringe des Saturns, Austerlitz und die Ausgewanderten sind demnach weitgehend genußfrei.




Die Essensszenen:

1. Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht. So auch an diesem Abend des 5. November. (Schwindel.Gefühle, S. 88 Taschenbuchausgabe)

Der Verzehr, besser Nichtverzehr einer Pizza zu Preis von 1700 Lire begleitet von einem Wein zu 1100 Lire (der Abrechnungszettel ist im Buch abgebildet) führt zu einer inneren Katastrophe, deren Anlaß undeutlich bleibt, und führt zu einem überhasteten Aufbruch nicht nur aus dem Restaurant, bei Hinterlegung von 10 000 Lire ohne Einkassieren des Wechselgeldes, sondern aus Italien insgesamt, zum Abbruch der Erzählung und zu ihrer Wiederaufnahme erst sieben Jahre später. Man kann sagen, die Schwindelgefühle in den Erzählungen All’estero und Il ritorno in patria nehmen ihren Ausgang im wesentlichen von einem fehlgeschlagenen Versuch der Essensaufnahme, der sich dann im weiteren Verlauf auch nicht wiederholt.

2. Dieselbe verschreckte Person ist es auch gewesen, die später in dem großen Speisesaal, in dem ich an jenem Abend als einziger Gast saß, meine Bestellung entgegennahm und die mir bald darauf einen gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch brachte, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer ich dann die Zinken meiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es mir solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandung bestehenden Gegenstandes vorzudringen, daß mein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die ich aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips (Saturn, S. 58 der Taschenbuchausgabe).

Hinter der humoristische Meisterleistung bleibt nicht verborgen, daß es hier direkt ins Herz der Dinge geht. Der Fisch, besser gesagt der fehlende Fisch auf dem Teller bezieht sich unmittelbar auf das anschließende große Kapitel vom Heringsfang. Sarah Friedrichsmeyer stellt in ihrem Aufsatz Sebalds Heringe und Seidenwürmer (in: Verschiebebahnhöfe der Erinnerung, 2007) den tierschützerischen Impuls des Autors heraus. Das ist sicher richtig, aber auch die Autorin beansprucht wohl nicht, damit schon den Kern erreicht zu haben. Melioristische Ansätze perlen an Sebalds allgegenwärtigen Verhängniszusammenhang in ähnlicher Weise ab wie an Luhmanns allgegenwärtigen Systemzusammenhängen, und vielleicht gibt es da auch gar keinen Unterschied. Der Kern, um den die Prosa kreist, ist offenbar eine Fundamentalschuld des Existierens, die zwar beliebig vergrößert (dem gilt das Holocaustthema im Austerlitzroman, der darüber hinaus aber keineswegs ein Holocaustroman ist), wohl auch verringert aber, wie uns schon jede einzelne aufmerksam betrachtete Mahlzeit zeigt, nicht beseitigt werden kann, sondern unabdingbar zum Jüngsten Gericht führt. In die Schilderung der Mahlzeit im Hotel Victoria in heruntergekommenen Seebad Lowestoft ist ein vorläufiges Jüngstes Gericht im Zwergenformat gleich unmittelbar eingelassen. Der in seiner Panade verschwundene Fisch nimmt das unvermeidliche Resultat unserer uns allmählich bewusst werdenden Bemühungen vorweg, uns und die Welt zum Verschwinden zu bringen.



Die Kopulationen:

3. Es war der Jäger Schlag, der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet und hatte, wie ich im Widerschein des Schneelichts erkennen konnte, die Augen genauso verdreht wie der Dr. Rambousek, als sein Kopf auf der Schreibtischplatte gelegen war. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Ich glaube nicht, daß die Romana oder der Schlag etwas von meiner Anwesenheit bemerkt haben; gesehen hat mich nur der Waldmann, der, angebunden wie immer an den Rucksack seines Herrn, still hinter diesem an der Erde stand und herüberschaute zu mir (Schwindel.Gefühle, S. 260).

Die Szene ist geschildert nicht aus der Sicht eines Beteiligten, sondern aus der eines beobachtenden und selbst in die Romana verliebten Kindes. Dessen nur halb verstehender Blick wird zurückgeworfen im Blick des dem Geschehen gegenüber völlig gleichgültigen Hundes. Der Tod des Dr. Rambousek, dessen Zeuge er unlängst geworden war, drängt sich dem Jungen als unübersehbares Tertium Comparationis auf. Am nächsten Morgen zerstört der einbeinige Engelwirt Sallaba, offenbar ein weiterer Verliebter, die gesamte Einrichtung der Gaststube. Wenig später nur ist auch der Jäger Hans Schlag tot, alles deutet hin auf einen Unfall, aber in dieser vom Erzähler ja selbst als Kriminalroman qualifizierten Geschichte (108) kann man nicht sicher sein. Hans Schlag, mit der am Oberarm eintätowierten Barke, ist aber vor allem die letzte Inkarnation von Kafkas Jäger Gracchus, der nicht sterben konnte, nun aber anscheinend erlöst wurde. Ist es aber Erlösung, wenn er vom Frost durchwachsen ist wie Satan im innersten Kern der Hölle? Wir sind in Bedeutungslabyrinthe geraten, die man ewig durchmessen muß.

Über diesem unergründlichen Liebesdrama schweben in den Schwindelgefühlen die zwei federleichten Trauungen, in denen die alemannische Utopie einer in Ordnung gebrachten Welt bewahrt ist, wie sie Sebald, Logis nehmend in einem Landhaus, bei Keller und Hebel so einnehmend dargestellt hat. Es sind dies die phantasierten Trauungen des erzählten Knaben mit dem Lehrerfräulein Rauch (275) sowie des Erzählers mit Luciana Michelotti, feengleiche Begebenheiten, die sich schneller noch auflösen als der Rauch von Sebalds Zigarette.

Die Kopulation in den Ringen des Saturn:

... war es mir, als hätte ich auf dem Uferstreifen etwas seltsam Fehlfarbenes sich bewegen sehen. Ich kauerte mich nieder und blickte, erfüllt von plötzlicher Panik, hinab über den Rand. Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, dachte ich mir, ein Mann, ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Und in der eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde, in der dieses Bild mich durchfuhr, kam es mir vor, als sei ein Zucken durch die Füße des Mannes gefahren wie bei einem gerade Gehenkten. Jetzt jedenfalls war er still, und still und reglos war auch die Frau. Ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske lagen sie da, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach aus den Nüstern entströmendem Atem seinem Ende entgegen dämmerte (Saturn, S. 88).

Wieder nicht die teilnehmende, sondern die von fern beobachtende Perspektive eines unfreiwilligen Voyeurs, wieder der Tod im Zentrum. Die literarische Brücke vom Sexualakt zum Tod ist natürlich schon bis zur Gefährdung ihrer Statik überschritten worden, aber selten war der Übergang so direkt und trocken, ohne jede vorbereitende oder begleitende Himmelfahrtsmetaphorik. Die zitierte Stelle findet sich im dritten Kapitel der englischen Walfahrt, hinter uns haben wir bereits die Strandfischer, den Heringsfang, Bergen Belsen und die Herde der Säue, vor uns nur noch das Todesland Tlön. Nach der alemannischen Utopie, deren letztes Licht spätestens 1933 (das Jahr auch, in dem, wie wir von Matthias Zucchi wissen, Sebald sein deutsches Wörterbuch geschlossen hat) erloschen ist, bleibt nur noch die saturnische Ödnis. Nicht zu beantworten die Frage, warum wir sie an Sebalds Seite so gern und endlos durchmessen. Aber einiges spricht dafür, daß sich auch Dante an Vergils Seite wohl gefühlt hat im Inferno.


*Sebald äußert auch explizite theoretische Vorbehalte gegenüber pornographischen Erzählpassagen:

Pornographische Texte sind angelegt, den Leser, mit dessen voyeuristischen Disposition sie ihr Kalkül machen, gefangenzusetzen. Ob der rezeptiven Lust des Lesers dabei in einer Art Gleichung jeweils exhibitionistische Tagträume des Autors entsprechen, mag unentschieden bleiben; und es soll auch nicht unterschlagen werden, daß die damit umrissene Problematik die Crux einer jeden erzählten Geschichte ist – Konfession und Mitwisserschaft gehören unabänderlich zu den dynamischen Grundstrukturen der erzählenden Literatur. Andererseits gelangen unsere Geschichten nur in dem Maß über die Verabredungen des zweifelhaften Genres hinaus, in dem es ihnen gelingt, sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einzurichten. Es ist fraglich, ob Pornographie mit den Präzepten erzählerischer Prosa überhaupt vereinbar ist. Die künstlerische Verkürzung der imaginierten Realität, die jede Form von Prosa ins Werk zu setzen hat, nimmt im pornographischen Text, der, als die entsentimentalisierte Fiktion par excellence, nie geschwind genug zur Sache kommen kann, leicht Züge unfreiwilliger Komik an. Der hohe Grad der Explizität paßt einfach nicht zum Tempo und zu den offenkundigen Ellipsen in der beschriebenen Handlung. (BU, S. 153f)