Donnerstag, 12. April 2012

Amen

Ein Gebet

Amod â mi a wneddwyd,
Yma ydd wyf, a mae 'dd wyd?

Wir sehen Selysses auf Wanderschaft, sehen ihn im Zug, im Flugzeug, in Hotelrezeptionen, sehen ihn eine in den meisten Fällen ungute Nacht in einem Hotelbett verbringen, sehen ihn lesen, schreiben, selten nur essen, wir sehen und hören ihn nicht beten, mit einer möglichen Ausnahme.
Santa Tecla libera Este della peste. Tiepolos Bild zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Den Hintergrund bildet ein Gebirgszug mit einem qualmenden Gipfel. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld, wo sie, nach einer Zeit des Herumtaumelns, von der aus ihrem Inwendigen hervordrängenden Seuche vollends niedergestreckt wurden. In der vorderen Mitte des Bildes liegt eine pesttote Mutter, das lebende Kind noch am Arm. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Heilige Thekla, bitt für uns, auf daß wir von aller ansteckenden Sucht und unversehenem Tod sicher erlediget und von allem Anlauf des Verderbens barmherzig erlöset werden. Amen.

Wer betet hier? Sicher nicht die heiligen Thekla, denn sie ist ja die Angerufene. Wohl auch nicht die Bewohner der Stadt Este, denn zum einen scheinen sie selbst zum Gebet kaum noch in der Lage und zum anderen bedarf Thekla in ihrem Flehen ersichtlich keiner weiteren Anfeuerung. Es blieben also nur Selysses und Sebald, denn niemand sonst ist noch in Sicht. Betet Selysses als Reisender oder Sebald als Dichter, und was genau ist der Tonfall des Gebets -, das sind die offenen Fragen.

Sebald spricht den Gebetstext in jedem Fall als Dichter, denn es ist der eindrucksvolle Schlußakkord eines kleinen, aus drei Sätzen bestehenden Musikstücks mit dem Titel Von Wien nach Venedig: Abfahrt und Traum vom Schneeberg – Durch das Friaul – Tiepolos Bild und Gebet: Ein furioses kleines Stück, das Sebalds bekundete Vorliebe für die langsamen Sätze in der Musik nicht ohne weiteres belegt. Die Bildbesprechung endet mit dem Blick auf das, was sich über unseren Köpfen vollzieht, ein Thema, das dann im Verlauf des Buches hinweg mehrfach noch wieder aufgenommen wird. Die Fahrt nach Venedig wird nach dem Gebet, der traditionellen Form der Kontaktaufnahme und -pflege zu den Dingen oberhalb unserer Köpfe, nicht weiter erzählend verfolgt, und die Zäsur zum nachfolgenden Aufenthalt in der Zauberstadt am Canałaso, auf ihrer einen Seite bereits durch das abschließende Amen bestätigt, wird auf ihrer anderen Seite durch einen scharfen Schnitt, eine scharfe Rasur noch einmal betont, dieselbe Rasur im übrigen, die Selysses Jahre später im Zusammenhang mit dem Bader Köpf noch in Erstaunen darüber versetzt, wie er sich ihr todesverachtend hat aussetzen können, denn der Name des Baders steht für den drohenden Verlust des Hauptes und nicht für das, was sich, gnädig oder ungnädig, über ihm vollzieht.

Bemächtigt sich Sebald des Gebets aus rein dichterischen, musikalischen Gründen und redet über den Kopf seines Wanderers Selysses hinweg? Auszuschließen ist wohl, daß Selysses, wie sein Doppelgänger im wahren Leben von unmittelbarer Religiosität weit entfernt, bei der Einreise nach Italien einen unvorhergesehenen Anfall von Frömmigkeit hat. Andererseits kann man davon ausgehen, daß er bereits all’estero den ritorno in patria angetreten hat. Später, im Zug nach Mailand, wird er mit Wohlgefallen im Beredten Italiener lesen, in dem nach Kinderglauben alles zum besten geregelt ist, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit; hier, auf der Fahrt nach Venedig, geht ihm eine andere Erinnerung an die Kindheit und an die Zeit durch den Sinn, als er wohl oder übel noch Kirchgänger war, und so rezitiert er eine ihm noch bekannte Gebetsformel.

Im weiteren Reiseverlauf betrachtet Selysses Bildwerke von Giotto und Pisanello in der Kapelle des Enrico Scrovegni in Padua und in der Chiesa Sant' Anastasia in Verona, ohne Kapelle oder Chiesa als Gotteshäuser wahrzunehmen. Anders ist es beim endgültigen Abstieg in die Heimat, als er an der Krummenbacher Kapelle anlangt, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal darin gewiß nicht ihres Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Als Kind hatte Selysses mit dem Großvater oft in derartigen Kapellen gesessen und er erinnert sich der Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit des Wunsches nach einer Wiederholung der in ihren Inneren herrschenden vollkommenen Stille. In gewissem Sinne ist dieser Widerspruch ein Abbild des Werkes, in dem Sätze von schöner Stille grauenvolle Dinge mit sich tragen.
 

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