The gondola stopped, the old palace was there
Nicht wenige Leser werden sich gewundert haben, daß der Aufenthalt in Venedig mit einer scharfen Rasur noch auf dem Bahnhofsgelände beginnt, Einzelheiten der Körperpflege des reisenden Helden zählen eindeutig nicht zu den üblichen Erzählgegenständen in Sebalds Büchern. Die Unüblichkeit wird an einer späteren Stelle der Erzählung nicht nur bestätigt, sondern, im Zusammenhang mit dem Bader Köpf, noch auf ein deutlich höheres Niveau gehoben: Daß ich mich vor einigen Jahren im Bahnhof Santa Lucia in Venedig aus freien Stücken habe rasieren lassen, das ist mir nach wie vor eine ganz und gar unbegreifliche Ungeheuerlichkeit. Was mag Selysses, wohlwissend um seine Rasiermesserphobie, in diese todesverachtende Stimmung versetzt haben?
Offenbar ist der Gang zum Bahnhofsbarbier eine Handlung von Bedeutung, und es bleibt nur herauszufinden, worin die besteht. Vielleicht ging es darum, selbst wenn es das Leben kosten sollte, einen spürbaren Schlußstrich zu ziehen unter den mißglückten Aufenthalt in Wien. Die Stimmung der Bedeutsamkeit hält denn auch zunächst weiter an, rauschend tauchen die bis zur Bordkante beladenen Kähne aus dem Nebel auf, reglos stehen die Steuermänner im Heck, ein Sinnbild der Wahrhaftigkeit, und bewegt von der seltsamen Bedeutung, die er den Schiffsleuten beigemessen hat, geht Selysses weiter. Eine Gefahr für die scheinbare Stabilität seiner Stimmung ist aber, daß er nicht recht weiß, warum er in Venedig ist, und auch keinerlei Pläne hat für den weiteren Aufenthalt. In Padua später will er ein Fresko Giottos aufsuchen, in Verona ein Fresko Pisanellos, obwohl er aber den letzten Reiseabschnitt vor der Einfahrt in die Stazione Santa Lucia mit einem Bild Tiepolos im Kopf verbracht hat, nimmt er in Venedig von jeder Kunstbetrachtung Abstand. Stattdessen geht er hinein in das Innere der Stadt, wo man nicht weiß, was man als nächstes sieht oder von wem man im nächsten Augenblick gesehen wird. Es war mit einem gewissen Gefühl der Befreiung, daß er, nach dem er eine Stunde fast unter den hohen Häusern des Ghettos herumgegangen war, bei San Marcuola wieder den Großen Kanal erblickte. Er besteigt ein Vaporetto und trifft dort auf Ludwig II. in Begleitung einer Zwergin, wahrscheinlich durch das Wasser hierhergekommen, in die città inquinata Venezia merde. Sowohl der König und seine Begleiterin als auch Selysses steigen aus an der Riva degli Schiavoni, und Selysses nimmt Platz in einer der Bars an der Riva, trinkt seinen Morgenkaffee, studiert den Gazzetino, macht Notizen und blättert in Grillparzers Tagebuch, verhält sich also für einen Augenblick wie ein vorbildlicher Kulturreisender.
Grillparzer aber ist kein guter Reisebegleiter, er findet an nichts Gefallen und ist von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht. Der Dogenpalast scheint ihm ein steinernes Rätsel, die Verblichenen, Verfolger und Verfolgten, die Mörder und Gemordeten steigen vor ihm auf mit verhüllten Häuptern. Einer dieser Verfolgten, so läßt Selysses sich von Grillparzer anstecken, die mit der venezianischen Gerichtsbarkeit übers Kreuz kamen, war Giacomos Casanova.
Nachdem er Casanovas Schicksal in Venedig ausführlich in Gedanken nachgegangen ist, kommt Selysses in der Bar an der Riva mit dem Venezianer Malachio ins Gespräch, einem Astrophysiker, der gewohnt ist, alles aus der größten Entfernung zu sehen, ein Verwandter offenbar der Flieger und ein Verwandter insbesondere des Fliegers und Astrophysikers Gerald Fitzpatrick. Malachio nimmt Selysses im Boot mit hinaus und zwar, typisch für Selysses, der auch alle Alpenübergänge nachts ohne Blick auf das Hochgebirgspanorama bewältigt, gegen Mitternacht. Deutlicher als der Turm von San Giorgio und die Kuppel der Santa Maria della Salute fallen zur Nachtzeit die Lichterfront der Raffinerien von Mestre und der Incineratore Comunale ins Auge; brucia continuamente. Malachio verabschiedet sich mit dem alten jüdischen Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme -, über den dann ähnlich und ergebnislos nachzusinnen ist wie über die Wahrhaftigkeit der Schiffsleute.
Mit der nächtlichen Wasserfahrt ist auch die wache, die Stadt Venedig mit den Augen wahrnehmende Phase des Aufenthalts für Selysses abgeschlossen. An anderen Reiseorten ist das Erwachen im Hotelzimmer von den Wellen des Verkehrslärms begleitet, die lauter und lauter werden, sich weiter und weiter aufrichten und sich schließlich in einer Art von Phrenesie überschlagen. Das ist das Getöse, aus dem das Leben entsteht, das nach uns kommt und uns zugrunde richten wird. Ganz und gar unwirklich wirkt die Morgenstille in Venedig, abseits vom Gang der Welt. Selysses malt sich aus, wie es wäre, wenn er über die graue Lagune auf die Friedhofsinsel und weiter auf die Isola San Francesco del Deserto in den Sümpfen der heiligen Katharina hinüberfahren würde. In einem leichten Schlaf sieht er dann den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. Selysses packt seine Tasche, macht sich wieder auf den Weg und kämpft im Stehbuffet der Ferrovia um das eigene Seelenheil, das die Gestalt eines Capuccinos angenommen hat. Als er sieben Jahre später ein weiteres Mal in anreist, ist die Pest von Este bis nach Venedig vorgedrungen, in der Bahnhofshalle lagert hingestreckt von der schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Eine große Ratte, treue Begleiterin der Pestkrankheit, läuft die Bordkante eines mit Müll beladenen Kahns entlang und stürzt sich kopfüber ins Wasser. Selysses verläßt das Bahnhofsgelände gar nicht erst und fährt unverzüglich, ohne vorhergehende scharfe Rasur, weiter nach Padua.
Soll ich mich denn hinsetzen und schreiben, Salzburg ist schön, das weiß doch eh jeder -, so hat Bernhard sich gegen Vorwürfe gewehrt, seine Jugendstadt ungerecht zu behandeln. In den Schwindel.Gefühlen geht Sebald der Schönheit Venedigs gewissenhaft aus dem Weg. Das wird vollends deutlich, als er die Wasserrundfahrt, entgegen aller Besichtigungsvernunft, in die Mitternachtsstunde verlegt. Dem Leser fällt die Strategie der Schönheitsvermeidung nicht ohne weiteres auf. Gleich mit der suggestiven Eingangsszene, als aus dem morgendlichen Herbstnebel Kähne auftauchen, die aspikfarbene Flut durchpflügen und wieder in den weißen Schaden der Luft verschwinden, steigen ihm eigene Bilder der Steine Venedigs, der Kuppeln und Türme, Paläste und Brücken in den Sinn, und was er liest, bleiben ihm in gewissem Sinn Escolios a un texto implicito, wie das immer der Fall ist bei wahrer Literatur, die weitaus mehr aufruft, als sie sagt.
Was aber verbirgt sich hinter der Schönheitsvermeidung? Eine subalterne Erwachsenenpädagogik im Sinne des sogenannten Aufbrechens verkrusteter Sichtweisen wird man ausschließen können. Sebald erzielt extreme Neuigkeitswerte, indem er überkommenen Sichtweisen treu bleibt. In der Kindheit schon ist ihm der Mehlstaub, der an seinen Fingern zurückgeblieben war, nachdem er seinen Seelenwecken aufgegessen hatte, wie eine Offenbarung vorgekommen, und am Abend desselben Tags hat er noch lange in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste gegraben, um das dort verborgene Geheimnis zu ergründen. Als Dichter hat er dann weitergegraben, zumal im Angesicht der Stuckyschen Mehlmühle, allerdings, und darum geht es, kann man nie wissen, auf was man in der Mehlkiste stößt, wenn man sie gründlich durchforscht. Venedigs Schönheit ist eingekeilt in dem mit Grauen durchsetzten Hintergrund ihres Entstehens und die Scheußlichkeit der neuzeitlichen Vernichtung. Die heilige Katharina wird ein weiteres Mal auf dem Rad gebrochen, der heilige und in jeder Hinsicht untadelige Franz treibt mit dem Gesicht nach unten im Sumpfwasser. Wieder hat die Stimme des Dichters den Tod der Klage und kaum den der Anklage.
Venedig, schon der Name scheint alle Schönheit der Stadt in sich zu tragen. Ven soll zurückgehen auf eine indogermanische Wortwurzel mit der Bedeutung der Liebe wert.
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