Einwohnerverzeichnis
Früher war umfänglichen Romanen mit starkem Personalaufkommen gern eine Auflistung der Handelnden beigegeben, von den Lesern durchaus begrüßt, zumal dann, wenn sie sich mit ungewohnten ausländischen Namen konfrontiert sahen. Bei Kriminalromanen ergab sich zusätzlich der Vorteil, daß die bereits Ermordeten von der Liste der möglichen Mörder buchstäblich gestrichen werden konnten. Dabei mußten allerdings die Augen für ein mögliches besonders trügerisches Verhalten doch ein wenig offen bleiben, allzu oft sind grauenhafte Taten aus einem vermeintlichen Grab heraus verübt worden. Noch für die umfänglichsten Bücher Tolstois aber - um ihn zu nennen und zugleich den Nebenweg der Kriminalgeschichte wieder zuverlassen - war eine derartige Gedächtnisstütze allerdings mehr als unnötig, da hier alle, die Komparsen nicht weniger als die Hauptdarsteller, ungeachtet ihrer fremdländischen Benennung mit dem Merkmal der Unvergeßlichkeit auftreten. Unvergeßlich sind auch die überdies kaum in Handlungsstränge und Intrigen verstrickten Bewohner der Ortschaft W. in Sebalds Büchern. Wenn sie in der Folge gleichwohl aufgelistet werden, so nicht zur Entlastung der Erinnerungskraft, sondern weil es schön ist, sie auf engem Raum beieinander zu haben, so als seien sie zusammengetreten zu einer Gemeindeversammlung.
Bauern
Die Bauern treten mit Ausnahme von Romanas Vater (siehe dort) und dem im Zusammenhang mit dem toten Kind der Seelos Lena (siehe dort) kurz erwähnten Bauern Erd nicht individuell, sondern als Gruppe auf. Im Engelwirt, heute eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit, seinerzeit aber ein übel beleumundeten Wirtshaus, hockten sie bis tief in die Nacht hinein und tranken, vor allem im Winter, oft bis zur Besinnungslosigkeit. Die Bauern saßen wie auch die Holzknechte fast immer gruppenweise beieinander am oberen beziehungsweise unteren Ende der Gaststube. Auch jetzt hocken sie, die meisten wie früher mit dem Hut auf dem Kopf, unter dem riesigen Holzhauerbild mit einer vielleicht etwas erhöhten Bereitschaft zur Mäßigung.
Ebentheuer Eustach
Eustach ist der Sohn, das jüngste Kind des Uhrmachers Ebentheuer (siehe dort), er hat einen Wasserkopf, sitzt auf einem hohen Stühlchen und schwankt sachte hin und her.
Ebentheuer, Uhrmacher
Die Türschelle schepperte und gleich darauf standen wir in dem kleinen Uhrenladen des Uhrmachers Ebentheuer, in dem eine Unzahl von Standuhren, Regulatoren, Wohnzimmer- und Küchenuhren, Weckern, Taschen- und Armbanduhren durcheinandertickten, gerade so als könne ein Uhrwerk allein nicht genug Zeit zerstören. Währen der Großvater (siehe dort), der seine Sackuhr in Reparatur gegeben hatte, sich mit dem Ebentheuer, der wie immer die Lupe ins linke Auge geklemmt hatte, über das unterhielt, was seiner Sackuhr gefehlt hatte, schaute ich über den Ladentisch hinweg in das dunkle Wohnzimmer hinein.
Ekrem, Türke
Ein nur vorübergehender Bewohner der Ortschaft, dem man seltsamerweise das Bureau des verstorbenen Baptist Seelos (siehe dort) vermietet hatte. Zirka fünfundzwanzigjährig hat er in der Küche große Mengen türkischen Honig hergestellt und dann auf den Jahrmärkten verkaufte. Der Seelos Maria (siehe dort) hat er das Mokkasieden beigebracht, und die Seelos Lena (siehe dort) ist eines Tages mit einem Kind von ihm niedergekommen, das aber zum Glück bloß eine Woche gelebt hat. Der Ekrem ist bald darauf, wenn nicht zuvor schon, aus W. verschwunden und hat in München einen Südfrüchtehandel angefangen.
Engelwirtin
Die aktuelle Engelwirtin ist die einzige allein in der aktuellen Erzählzeit angesiedelte Dorfbewohnerin. Hinter der Rezeption im Engelwirt war die sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Nirgends hatte man eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie den, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Er verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, seinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber.
Georg, Heiliger
Der Heilige ist schon seit Generationen Bewohner der Ortschaft. Am Ende der hohen Friedhofsmauer durchbohrt er Tag für Tag und Jahr für Jahr ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen.
Hengge, Maler
Der Maler Hengge ist zwar kein Bewohner des Ortes, aber durch seine Bildwerken allgegenwärtig in W. Zur Gemeindeversammlung ist er trotz unüberhörbarer Anfeindungen von Seiten des Selysses herzlich eingeladen. In den 30er Jahren war er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes gestanden und bis nach München hinaus bekannt gewesen. Überall in W. und in der weiteren Umgebung konnte man an den Hauswänden seine stets in braunen Farben gehaltenen Wandmalereien sehen, die von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, nur dann abgewichen, wenn ihm ein besonderer Gegenstand ausdrücklich vorgegeben war. Der Maler Hengge war sehr wohl imstand, sein Repertoire auszuweiten. Doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt.
Köpf, Bader
Wie den Schmied (siehe dort) bekommen wir auch den Bader Köpf nicht zu Gesicht. Der Rasiersessel stand leer. Das Rasiermesser lag, aufgeklappt, auf der marmorierten Platte des Waschtischs. Vor nichts fürchtete ich mich mehr, als wenn der Köpf, bei dem ich mir jeden Monat einmal die Haare schneiden lassen mußte, mir mit diesem an dem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Hals ausrasierte. Derart tief hat diese Furcht in mich sich eingegraben, daß mir, als ich viele Jahre später zum ersten Mal eine Darstellung der Szene sah, in welcher Salome das abgeschnittene Haupt des Johannes hineinträgt, sogleich der Köpf in Erinnerung gekommen ist.
Mayr, Bäcker
Nichts ist ihm in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte mich alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Aus Weißbrotteig waren diese Seelenwecken gebacken und so klein, daß man sie leicht in einer geschlossenen Hand verbergen konnte. Jeweils vier davon kamen auf eine Reihe.
Melchior
Am unteren Ende der Gasse tauchte ein Fahrzeug auf, wie er zuvor noch nie eins gesehen hatte. Es war eine allseits weit ausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach. Unendlich langsam und völlig geräuschlos glitt sie heran, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der ihm, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Da unter unseren Krippenfiguren einer der drei Weisen aus dem Morgenland und zwar derjenige mit dem schwarzen Gesicht, einen lila Mantel mit hellgrünen Besatz trug, stand es für ihn außer Zweifel, daß der Fahrer des Automobils in Wahrheit der König Melchior gewesen ist. Zunächst ist man sich sicher, daß der Neger nicht zur ständigen Bewohnerschaft der katholischen Ortschaft zu zählen ist, wird aber nach seiner Identifizierung als Melchior schwankend im Urteil. Zur Gemeindeversammlung ist er in jedem Fall herzlich eingeladen.
Piazolo Dr.
Den sicher schon auf die Siebzig zugehenden Dr. Piazolo sah man zu jeder Tages- und Abendstunde im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Am Fuhrwerk, das den toten Jäger Schlag (siehe dort) in den Ort transportierte, zog Dr. Piazolo die schwarzen Motorradhandschuhe aus und betastete den sowohl von der Kälte als auch durch das längst erfolgte Eintreten der Leichenstarre unbeweglich gemachten Körper mit einer für ihn ungewöhnlichen Scheu an verschiedenen Stellen. Nur wenige Tage später diagnostiziert er bei dem mit einer schweren Krankheit niederliegenden Selysses Diphtheritis.
Rambousek Dr.
Bis zum Ende der vierziger Jahre praktizierte im Haus Alpenrose der Dr. Rambousek. Dr. Rambousek war nicht lange nach Kriegsende aus einer mährischen Stadt nach W. gekommen. Daß dieser kleine, korpulente, stets auf eine großstädtische Weise gekleidete Mann in W. nicht Fuß zu fassen vermochte, war nicht verwunderlich. Seine verhangenen, fremdländisch wirkenden und wohl am besten mit dem Wort levantinisch zu bezeichnenden Gesichtszüge, die allzeit über seine großen dunklen Augen zur Hälfte gesenkten Lider, und sein ganzer irgendwie angewandter Habitus ließen weinig Zweifel daran, daß er zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden mußte. Während der in W. verbrachten Jahre hat er keinem einzigen Menschen sich anschließen können. Es hieß von ihm, daß er leutscheu sei, und man hat ihn kaum jemals auf der Gasse gesehen.
Rambousek, Frau und Töchter
Mit ihrem Mann den beiden halbwüchsigen Töchtern Felicia und Amalia ist die blasse Frau des Dr. Rambousek (siehe dort) aus der mährischen Stadt Nikolsburg nach W. gekommen, was für sie wahrscheinlich eine Verbannung an das Ende der Welt gewesen ist. Dr. Rambousek wurde eines Abends von seiner Frau, die mit ihren Töchtern dann bald aus W. weggezogen ist, leblos und kalt im Ordinationszimmer aufgefunden.
Romana
Die Romana war die ältere von zwei Töchtern einer Häuslerfamilie. Sie half im Engelwirt aus und am Abend, bevor noch die Gäste kamen, war sie mit dem Abwischen der Tische und Bänke, mit dem Kehren des Bodens oder dem Trocknen der Gläser beschäftigt. Einmal aber sah man durch die offene des Holzschopfs einen Schemen. Es war der Jäger Schlag (siehe dort), der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten.
Romanas Familie
Die Häuslerfamilie hatte im Bärenwinkel ein, verglichen mit den anderen Höfen, spielzeugartiges Anwesen, das auf einem Hügel lag und an die biblische Arche erinnerte, weil es von jeder Art zwei zu geben schien – außer dem Elterpaar und den beiden Schwestern, der Romana und der Lisabeth, gab es eine Kuh und einen Ochsen, zwei Schweine, zwei Gänse und so weiter. Das kleine Haus mit seinem geschindelten Walmdach sah einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleich. Und jedesmal, wenn jemand vorbeikam, schaute gerade der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fenster heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen.
Rauch, Lehrerin
In der Schule hat das Fräulein Rauch, das ihm nicht weniger bedeutete als die Romana, die Unglückschronik von W. mit ihrer gleichmäßigen Schrift an die Tafel geschrieben und darunter mit farbiger Kreide ein brennendes Haus gemalt. Sie ging in ihrem enganliegenden grünen Rock durch die Reihen. Wenn sie in seine Nähe kam, spürte er bis in den Hals hinauf sein Herz. Im nächsten Frühjahr wurde er nach meiner langen Krankheit dem Fräulein Rauch zwei Stunden täglich in die Obhut gegeben. Mit Hingabe füllte er seine Hefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welche er das Fräulein Rauch auf immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war ihm damals, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.
Sallaba, Pächter im Engelwirt
Im oberen Stock des Engelwirts hatte der einbeinige Pächter Sallaba seine Wohnung Er besaß eine große Anzahl eleganter Anzüge und Krawatten mit Einstecknadeln. Es war aber weniger seine für W. wirklich außergewöhnliche Garderobe als seine Einbeinigkeit und die erstaunliche Geschwindigkeit und Virtuosität, mit der er sich auf seinen Krücken fortbewegte, die ihm den Anstrich des Weltmännischen gab. In derselben Nacht, als das Schankmädchen Romana und der Jäger Schlag im Holzschopf zueinander fanden, hat der einbeinige Engelwirt Sallaba die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört. Überall auf dem Boden lag knöcheltief zerbrochenes Glas. Es war ein einziges Bild er Verheerung. Draußen auf dem Gang sah es nicht viel besser aus.
Sallabas Frau
Eine sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich verabscheuende Frau. Völlig außer sich und geradezu vernichtet von der Zerstörungswut ihres einbeinigen Ehemanns (siehe dort) sitzt Frau Sallaba auf der Kellerstiege und weint sich die Augen aus.
Schlag Hans, Jäger
Hans Schlag war aus dem Schwarzwald kommend in den bayerischen Forstdienst übernommen worden. Er war ein stattlicher Mann mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden überschatteten Augen. Stundenlang, oft tief bis in die Nacht, saß er bei seinem Glas, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Einmal aber sah man durch die offene des Holzschopfs einen Schemen. Es war der Jäger Schlag, der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana (siehe dort) hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Kurze Zeit später wurde aus dem Jungholz die Nachricht gebracht, daß man den Jäger Hans Schlag eine gute Stunde außerhalb seines Reviers, auf der Tiroler Seite, auf dem Grund eines Tobels liegen gefunden habe. Das graugrüne Habit war kaum derangiert oder sonst in Mitleidenschaft gezogen. Ohne weiteres hätte man glauben können, der Schlag sei bloß eingeschlafen, wäre nicht die entsetzliche Blässe seines Gesichts gewesen und das vom Frost durchwachsene, steif und festgefrorene Haar. Aus dem Autopsie bericht ging hervor, daß auf dem linken Oberarm des Toten eine kleine Barke eintätowiert war.
Schmied
Den Schmied, der ein fester und solider Bewohner des Ortes ist, bekommen wir gleichwohl nicht zu sehen. Aus der Schmiede roch es nach verbranntem Horn. Das Essenfeuer war ganz in sich zusammengesunken, und das Werkzeug, die schweren Hämmer, Zangen und Raspeln lagen und lehnten herrenlos überall herum. Nirgends rührte sich etwas. Das Wasser im Bottich, in den der Schmied sonst jeden Augenblick mit dem glühenden Eisen, daß es zischte, hineinfuhr, war so still und glänzte von dem schwachen Widerschein, der vom offenen Tor auf seine Oberfläche fiel, so tiefschwarzdunkel, als hätte noch nie jemand es angerührt und als sei ihm bestimmt, in solcher Unversehrtheit bewahrt zu bleiben.
Schwarz Valerie
Die Modistin Valerie Schwarz wohnt im Posthalterhaus, stammt, anders als der Dr. Rambousek, nicht aus dem Mährischen, sondern aus dem Böhmischen und besitzt trotz ihrer geringen Körpergröße eine Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat. Sie preist die Heilkunst des Dr. Rambousek in den höchsten Tönen und verbreitet nach seinem Tod die Kunde oder auch das Gerücht, er sei Morphinist gewesen.
Seelos Babett
Babett ist die Schwester des Baptist, der Bina und der Mathild (siehe jeweils dort). Mit der Bina führt sie das Café Alpenrose, in das nie jemand hineingegangen ist. Während die Bina, mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend, in einer Tour im Haus und im Vorgarten herumlief, saß die Babett den ganzen Tag in der Küche und faltete Geschirrtücher zusammen, um sie gleich wieder auseinanderzutun und von neuem zusammenzulegen.
Seelos Baptist
Er ist der Abraham der Seelossippe, deren Angehörige eigentlich auf den Namen Ambroser hört, von allen aber immer nur mit dem Namen des von ihnen bewohnten Seeloshauses, auf der gegenüberliegenden Seite des Engelwirts, gerufen werden. Baumeister von Beruf, hatte er vor dem Krieg achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet. Fast sämtliche größeren Bauten in W. und der Umgebung waren am Reißbrett des Baumeisters Ambroser entworfen und unter seiner Aufsicht ausgeführt worden. Gestorben war er am Maifeiertag des 33er Jahres an einem Gehirnschlag. Man hatte ihn in seinem Bureau über dem Lichtpausapparat zusammengesunken gefunden, den Bleistift hinterm Ohr und den Zirkel noch in der Hand.
Seelos Benedikt
Gegen Ausgang des Krieges hatte man den Seelos Benedikt, der immer ein furchtsames Kind gewesen ist, auf die Unteroffiziersschule nach Rastatt geschickt. Den Benedikt, sagte Lukas (siehe dort) und wollte näheres dazu nicht verlauten lassen, hat das Unglück aufgefressen. Wir wissen somit wenig über ihn, halten es aber für unwahrscheinlich, daß er derselbe Benedikt ist, den man am Mittag oft sehen konnte, wie er in einem Gummischurz in der Metzgerei die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch.
Seelos Bina
Bina ist die Schwester des Baptist, der Babett und der Mathild (siehe jeweils dort). Mit der Babett führt sie das Café Alpenrose, in das nie jemand hineingegangen ist. Während die Bina, mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend, in einer Tour im Haus und im Vorgarten herumlief, saß die Babett den ganzen Tag in der Küche und faltete Geschirrtücher zusammen, um sie gleich wieder auseinanderzutun und von neuem zusammenzulegen.
Seelos Maria
Die Seelos Maria war eine schwere langsame Frau, die seit dem Tode ihres Mannes Baptist (siehe dort), der einige Jahre schon zurücklag, Schwarz trug und ihre Tage beim Kaffeesieden verbrachte, das sie auf türkische Art vornahm. Vielleicht hatte sie es vom Baptist gelernt, der vor dem Krieg achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet hatte. Möglicherweise ist es aber auch der Ekrem (siehe dort) gewesen, der der Seelos Maria das Mokkasieden beigebracht und der auf seinen Wegen den schwarzen Kaffee aufgetrieben hat, über den die Maria auch in der nötigsten Zeit stets verfügte.
Seelos Lena
Die Seelos Lena ist eines Tages mit einem Kind des Ekrem (siehe dort) niedergekommen, das aber zum Glück nur eine Woche gelebt hat. Der winzige weiße Kindersarg wurde auf dem großen schwarzen Leichenwagen von dem Rappen des Bauers Erd auf den Friedhof hinaufgezogen wurde und beim Begräbnis ist das Regenwasser heruntergeronnen von dem Lehmhaufen neben der kleinen Grube. Die Lena ist bald darauf nach Kalifornien ausgewandert, wo sie einen Telefoningenieur geheiratet hat, mit dem sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Über den Unfall hat man nie viel in Erfahrung bringen können.
Seelos Lukas
Jetzt lebte von den Seelos allein noch der Lukas in W. Das Seeloshaus war aufgegeben worden, und der Lukas bewohnte das kleine Nachbarhaus, in dem früher die Babett, die Bina und die Mathild (siehe alle dort) gewirtschaftet hatten. Der Lukas war, nachdem er bis in sein fünfzigstes Jahr in einer Bauspenglerei gearbeitet hatte, aufgrund einer allmählich ihn verkrüppelnden Arthritis vorzeitig in den sogenannten Ruhestand getreten und verbrachte nun die Tage daheim auf dem Sofa. Während er nun den ganzen Tag auf dem Sofa lag oder höchstens mit nutzlosen kleinen Arbeiten im Haus herum verbrachte, war es ihm geradezu unbegreiflich geworden, daß er einmal ein guter Torwart gewesen war und daß er, der immer öfter von schweren Depressionen geplagt wurde, im Dorf seinerzeit den Hanswursten gemacht hatte, ja daß er jahrelang in der Fasnacht das Ehrenamt des Fasnachtskaspers innegehabt hatte.
Seelos, Frau des Lukas
Die Frau des Lukas (siehe dort) hat weiterhin das Schreibwarengeschäft des alten Specht (siehe dort) geführt.
Seelos Mathild
In der Regel hat der Großvater (siehe dort) einmal in der Woche der Mathild einen Besuch abgestattet, um mit ihr Karten zu spielen und lange Gespräche zu führen. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber bald unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist, wo man sie fortan heimlich eine rote Betschwester geheißen hat. Die Mathild ihrerseits hat sich, nach dem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Sie ist einen schönen Tod im eigenen Bett mitten in der Nacht. Genau so, wie sie sich jeden Abend hingelegt hat, hat die Frau des Lukas (siehe dort) sie gefunden am nächsten Morgen.
Seelos Peter
Der Peter, der Wagner gewesen war, hatte im rückwärtigen Teil des Seeloshauses seine Werkstatt gehabt. In der Zeit nach dem Krieg, als er an die Sechzig gewesen sein dürfte, ist er meist im unteren Dorf herumgegangen und hat den Leuten bei der Arbeit zugeschaut. Er vernachlässigte die Wagnerei mehr und mehr, nahm Aufträge zwar noch an, führte sie aber nur zur Hälfte oder gar nicht aus und verlegte sich darauf, komplizierte pseudoarchitektonische Pläne zu machen, wie beispielsweise den eines über die Ach gebauten Wasserhauses. Er ist dann ins Spital nach Pfronten eingeliefert worden, hat sich aber im Spital nicht halten lassen, sondern ist in der ersten Nacht auf und davon. Man ist bis heute nicht auf die geringste Spur gestoßen von ihm.
Selysses
Selysses’ Eltern
Beim Vater ist der Kunstsinn nicht in befriedigender Weise entwickelt. Im Aufsatz des Schranks hatten eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz gefunden, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. Am Sonntag hörte der Vater frühmorgens schon die Rottachtaler oder andere eingeborene Musikanten mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen, denn er, der nur zum Wochenende zu Hause war, hatte eine besondere Vorliebe für diese altbayerische Volksmusik. Über die diesbezüglichen oder sonstigen Neigungen der Mutter ist nichts bekannt. Sie preist in den höchsten Tönen die ärztliche Kunst des Dr. Rambousek (siehe dort) und läßt sich später von der Valerie Schwarz (siehe dort) flüsternder Weise im Gespräch berichten, der inzwischen verstorbene Dr. Rambousek. Ansonsten ist das Elternpaar im Mobiliar der Wohnung so gut wie verschwunden. Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden; aus einer Kredenz, auf welcher eine irdene Bowle und zwei kristallene Blumenvasen auf gestickten Deckchen symmetrisch angeordnet waren; aus dem ausziehbaren Eßtisch mit den sechs Sesseln, aus einer Couch mit einem Sortiment handgearbeiteter Kissen; und aus zwei kleinen Alpenlandschaften in schwarzlackierten Rahmen, die versetzt an der Wand hingen.
Selysses’ Großvater
Beim Herauskommen aus einer Haustür ist der Großvater zuerst stehengeblieben, um nach dem Wetter zu schauen. Den kleinen Selysses hat er nach Möglichkeit überallhin mitgenommen. In der Regel einmal in der Woche ging der Großvater in die Alpenrose hinüber, um der Mathild (siehe dort) einen Besuch abzustatten. Diese wöchentlichen Besuche bestanden darin, daß die beiden ein paar Kartenspiele miteinander machten und ausgedehnte Gespräche führten, zu denen es ihnen an Stoff offenbar nie mangelte. Der Großvater behielt nach einer alten Gewohnheit zum Kartenspielen immer den Hut auf. Zuhaus war es seine tägliche Gewohnheit, den für ihn auf dem Herdschiffchen eigens warm gehaltenen, von ihm aber verabscheuten Milchkaffee nach und nach, wenn die Mutter gerade nicht hersah, in den Ausguß zu schütten. Als Selysses mit Diphtheritis daniederlag, hat ihm der Großvater lauwarmes Wasser in den Mund getropft, das über die offenen Brandflächen im Inneren des Halses langsam hinunterrann. Als der Großvater dann Jahre später während des ersten Föhnsturms nach dem sibirischen Winter sechsundfünfzig im Sterben lag, hat Selysses die ihm in zunehmendem Maße verhaßte Zither zum ersten und letzten Mal freiwillig aus ihrem Kasten genommen und dem Großvater, der halb schon hinübergedämmert war ein paar Sachen vorgespielt, zuletzt einen langsamen Ländler in C-Dur.
Specht, Buchdrucker
Als die Frau des Lukas Seelos (siehe dort) das Schreibwarengeschäft des alten Specht führt, ist dieser wohl schon nicht mehr unter den Lebenden, wir wissen es aber nicht mit Sicherheit. Seinerzeit hat der Buchdrucker Specht in der Fasnacht immer noch den Christbaum im Laden gehabt und oft sogar bis auf Ostern, und es sei vorgekommen, daß man den Specht hätte drängen müssen, den Baum wenigstens rechtzeitig zur Fronleichnamsprozession aus dem Fenster zu tun. Der Specht, der seit den zwanziger Jahren alle vierzehn Tage das vierseitige Botenblatt, geschrieben, redigiert, gesetzt und gedruckt hat, ist ein äußerst in sich gekehrter Mensch gewesen. Er trug jahraus, jahrein einen grauen Kattunmantel, der bis nahezu an den Boden reichte, und hatte eine runde Stahlbrille auf. Am Abend sah man ihn im Schein der Lampe am Küchentisch sitzen und die Artikel und Berichte schreiben, die in den Landboten aufgenommen werden sollten.
Unsinn Frau, Ladenbesitzerin
Frau Unsinn führt ein Konsumgeschäft, in dem sie eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet hat, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Gegenüber dem Goldglanz der Sanellawürfel erschein alles, was sonst im Laden der Frau Unsinn zu sehen war, das Mehl in der Truhe, die Bratheringe in der großen Blechdose, die eingeweckten Gurken, der einem Eisberg gleichende riesige Kunsthonigblock, die blaugemusterten Pakete Zichorienkaffee und der in ein feuchtes Tuch eingeschlagne Emmentaler, in einem traurigen Zustand der Verdämmerung begriffen. Die Sanellapyramide ragte hinein in die Zukunft und im Geiste baute man sie höher und höher, so hoch, daß sie schon bis in den Himmel hinauf reichte.
Waldmann, Dackel
Der Dackel oder Dachshund Waldmann ist Eigentum des Jägers Hans Schlag, an dessen Rucksack er stets festgebunden ist Auch als es im Holzschopf zu erotischen Tätlichkeiten zwischen der Romana und seinem Herrn kommt, hat er wie immer angebunden an den Rucksack still neben diesem an der Erde gestanden und herübergeschaut. Vor dem Überqueren der Riese aber, das dem Schlag zum Verhängnis geworden ist, hatte er den Dachshund in den Rucksack gesteckt und dieser ist im Sturz irgendwie abgestreift worden. Der arme Waldmann hat dann vom Frost stocksteif gefroren zu Füßen seines toten Herrn gelegen, war aber noch lebendig gewesen.
Wurmser, Pfarrer
Der Dr. Piazolo (siehe dort) hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll.
Zobel, alter Engelwirt
Die mehrere hundert Stück umfassende Ansichtskartensammlung ist von dem alten Engelwirt angelegt worden, der vor seiner Heirat mit der Rosina (siehe dort) den Großteil seines beträchtlichen Erbes in der Weltgeschichte verfahren hatte und jetzt seit Jahren bettlägrig war. Es hieß, er habe in der Hüfte eine große Wunde, die nicht verheilen wolle. Er habe in der Jugend eine Zigarre, die er verbotenerweise geraucht hatte, vor seinem Vater verbergen wollen und in den Hosensack gesteckt. Die Brandwunde, die er sich dabei zugezogen hatte, sei zwar bald besser geworden, sie sei aber später, als der Engelwirt gegen fünfzig ging, immer wieder aufgegangen und schließe sich nun überhaupt nicht mehr, ja, sie würde größer von Jahr zu Jahr, und es könne wohl sein, daß er bald am Brand sterben müsse. Den Engelwirt habe man nie zu Gesicht bekommen, und die Engelwirtin, die ohnehin kaum etwas sagte, hat ihn auch nie erwähnt.
Zobel Johannes und Magdalena
Die Kinde der Engelwirtsleute, Johannes und Magdalena, die nicht viel älter gewesen sind als Selysses, sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Magdalena mit dem schweren Trinken angefangen hat nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen.
Zobel Rosina, alte Engelwirtin
Im ersten Stock wohnte noch die Engelwirtin, Rosina Zobel, die die Führung der Wirtsstube vor etlichen Jahren aufgegeben hatte und sich seither den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube aufhielt. Entweder sie saß in ihren Ohrensessel, oder sie ging hin und her, oder sie lag auf dem Kanapee. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht hatte oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hatte. Man sah sie nie bei einer Arbeit; weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen.
Je mehr Bilder ich aus der Vergangenheit versammle, desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit sich so abgespielt haben soll, denn nichts an ihr ist normal zu nennen, sondern es ist das allermeiste lächerlich, und wenn es nicht lächerlich ist, dann ist es zum Entsetzen – Selysses äußert diese Überlegungen gegenüber dem Lukas Seelos, und der stimmt ihm uneingeschränkt zu. Der Leser ist nicht in der Lage dieser beiden, die das alte Wertach ebenso wie das neue W. kennen, er macht erst in diesem Augenblick die Bekanntschaft des alten W., das ihm also neu ist. Wenn er einiges Lächerliches und einiges Entsetzliches sieht, so ist es doch keineswegs tonangebend. So hat das elterliche Haus der Romana sicher nichts Entsetzliches, aber in seinem Format als liebevoll ausgemalte, zum Lächeln zwar anregende Idylle auch nichts Lächerliches. Die pausierende Schmiede ist als ein metaphysischer Augenblick gestaltet, diesmal sogar ohne ein Schwimmvogelpaar auf der Wasseroberfläche, das auf dem begrenzten Areal eines Bottichs ohne Frage auch fehl am Platz gewesen wäre. Das Entsetzen in der Frisöranstalt des Köpf ist dem Scherz zuliebe maßlos übertrieben, und auch wer nicht am Alpenrand aufgewachsen aber ähnlichen Jahrgangs ist, kann sich den von der Sanellapyramide ausgehenden transzendenten Schauder ohne Mühe vergegenwärtigen ebenso wie die amerikanische Seligkeitsverheißung, für die der Melchior steht. Gut erinnert er auch das heraufziehende Zeitalter der Marilyn Monroe und Anita Ekberg und versteht die Genugtuung, eine Person wie die Valerie Schwarz leibhaftig am Ort zu haben, auch wenn die ernstliche Neigung sich dann der sicher um einiges zarter gebauten Romana und schließlich dem noch sanfter ausgestatteten Fräulein Rauch zuwendet. Der Buchdrucker Specht schließlich erinnert ihn an verwandte Gestalten in alten Westernfilme, etwa den Journalisten in John Fords Liberty Valence. Die alten Westernfilme aber waren im moralischen Rahmen des Beredten Italieners gefertigt, in dem Selysses einige Zeit zuvor noch beifällig gelesen hatte: als wäre auch das Entsetzlichste in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. Der größte Teil des alten Wertach ist denn auch gar nicht dem urteilenden Blick des Erwachsenen ausgesetzt, sondern wird gesehen mit den Augen des Kindes in seiner dem menschlichen Urteil entrückten Ewigkeitsgestalt. Der andere Blick fällt auf das Design der elterlichen Wohnung. Alles in allem läßt sich ein Ort wie W., will man obendrein bei der Wahrheit über die Lage der Menschen bleiben, kaum warmherziger schildern. Heilige Thekla, bitt für uns.
Früher war umfänglichen Romanen mit starkem Personalaufkommen gern eine Auflistung der Handelnden beigegeben, von den Lesern durchaus begrüßt, zumal dann, wenn sie sich mit ungewohnten ausländischen Namen konfrontiert sahen. Bei Kriminalromanen ergab sich zusätzlich der Vorteil, daß die bereits Ermordeten von der Liste der möglichen Mörder buchstäblich gestrichen werden konnten. Dabei mußten allerdings die Augen für ein mögliches besonders trügerisches Verhalten doch ein wenig offen bleiben, allzu oft sind grauenhafte Taten aus einem vermeintlichen Grab heraus verübt worden. Noch für die umfänglichsten Bücher Tolstois aber - um ihn zu nennen und zugleich den Nebenweg der Kriminalgeschichte wieder zuverlassen - war eine derartige Gedächtnisstütze allerdings mehr als unnötig, da hier alle, die Komparsen nicht weniger als die Hauptdarsteller, ungeachtet ihrer fremdländischen Benennung mit dem Merkmal der Unvergeßlichkeit auftreten. Unvergeßlich sind auch die überdies kaum in Handlungsstränge und Intrigen verstrickten Bewohner der Ortschaft W. in Sebalds Büchern. Wenn sie in der Folge gleichwohl aufgelistet werden, so nicht zur Entlastung der Erinnerungskraft, sondern weil es schön ist, sie auf engem Raum beieinander zu haben, so als seien sie zusammengetreten zu einer Gemeindeversammlung.
Bauern
Die Bauern treten mit Ausnahme von Romanas Vater (siehe dort) und dem im Zusammenhang mit dem toten Kind der Seelos Lena (siehe dort) kurz erwähnten Bauern Erd nicht individuell, sondern als Gruppe auf. Im Engelwirt, heute eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit, seinerzeit aber ein übel beleumundeten Wirtshaus, hockten sie bis tief in die Nacht hinein und tranken, vor allem im Winter, oft bis zur Besinnungslosigkeit. Die Bauern saßen wie auch die Holzknechte fast immer gruppenweise beieinander am oberen beziehungsweise unteren Ende der Gaststube. Auch jetzt hocken sie, die meisten wie früher mit dem Hut auf dem Kopf, unter dem riesigen Holzhauerbild mit einer vielleicht etwas erhöhten Bereitschaft zur Mäßigung.
Ebentheuer Eustach
Eustach ist der Sohn, das jüngste Kind des Uhrmachers Ebentheuer (siehe dort), er hat einen Wasserkopf, sitzt auf einem hohen Stühlchen und schwankt sachte hin und her.
Ebentheuer, Uhrmacher
Die Türschelle schepperte und gleich darauf standen wir in dem kleinen Uhrenladen des Uhrmachers Ebentheuer, in dem eine Unzahl von Standuhren, Regulatoren, Wohnzimmer- und Küchenuhren, Weckern, Taschen- und Armbanduhren durcheinandertickten, gerade so als könne ein Uhrwerk allein nicht genug Zeit zerstören. Währen der Großvater (siehe dort), der seine Sackuhr in Reparatur gegeben hatte, sich mit dem Ebentheuer, der wie immer die Lupe ins linke Auge geklemmt hatte, über das unterhielt, was seiner Sackuhr gefehlt hatte, schaute ich über den Ladentisch hinweg in das dunkle Wohnzimmer hinein.
Ekrem, Türke
Ein nur vorübergehender Bewohner der Ortschaft, dem man seltsamerweise das Bureau des verstorbenen Baptist Seelos (siehe dort) vermietet hatte. Zirka fünfundzwanzigjährig hat er in der Küche große Mengen türkischen Honig hergestellt und dann auf den Jahrmärkten verkaufte. Der Seelos Maria (siehe dort) hat er das Mokkasieden beigebracht, und die Seelos Lena (siehe dort) ist eines Tages mit einem Kind von ihm niedergekommen, das aber zum Glück bloß eine Woche gelebt hat. Der Ekrem ist bald darauf, wenn nicht zuvor schon, aus W. verschwunden und hat in München einen Südfrüchtehandel angefangen.
Engelwirtin
Die aktuelle Engelwirtin ist die einzige allein in der aktuellen Erzählzeit angesiedelte Dorfbewohnerin. Hinter der Rezeption im Engelwirt war die sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Nirgends hatte man eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie den, sei es wegen seiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen seiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Er verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, seinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber.
Georg, Heiliger
Der Heilige ist schon seit Generationen Bewohner der Ortschaft. Am Ende der hohen Friedhofsmauer durchbohrt er Tag für Tag und Jahr für Jahr ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen.
Hengge, Maler
Der Maler Hengge ist zwar kein Bewohner des Ortes, aber durch seine Bildwerken allgegenwärtig in W. Zur Gemeindeversammlung ist er trotz unüberhörbarer Anfeindungen von Seiten des Selysses herzlich eingeladen. In den 30er Jahren war er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes gestanden und bis nach München hinaus bekannt gewesen. Überall in W. und in der weiteren Umgebung konnte man an den Hauswänden seine stets in braunen Farben gehaltenen Wandmalereien sehen, die von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, nur dann abgewichen, wenn ihm ein besonderer Gegenstand ausdrücklich vorgegeben war. Der Maler Hengge war sehr wohl imstand, sein Repertoire auszuweiten. Doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt.
Köpf, Bader
Wie den Schmied (siehe dort) bekommen wir auch den Bader Köpf nicht zu Gesicht. Der Rasiersessel stand leer. Das Rasiermesser lag, aufgeklappt, auf der marmorierten Platte des Waschtischs. Vor nichts fürchtete ich mich mehr, als wenn der Köpf, bei dem ich mir jeden Monat einmal die Haare schneiden lassen mußte, mir mit diesem an dem Lederriemen frisch abgezogenen Messer den Hals ausrasierte. Derart tief hat diese Furcht in mich sich eingegraben, daß mir, als ich viele Jahre später zum ersten Mal eine Darstellung der Szene sah, in welcher Salome das abgeschnittene Haupt des Johannes hineinträgt, sogleich der Köpf in Erinnerung gekommen ist.
Mayr, Bäcker
Nichts ist ihm in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte mich alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Aus Weißbrotteig waren diese Seelenwecken gebacken und so klein, daß man sie leicht in einer geschlossenen Hand verbergen konnte. Jeweils vier davon kamen auf eine Reihe.
Melchior
Am unteren Ende der Gasse tauchte ein Fahrzeug auf, wie er zuvor noch nie eins gesehen hatte. Es war eine allseits weit ausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach. Unendlich langsam und völlig geräuschlos glitt sie heran, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der ihm, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. Da unter unseren Krippenfiguren einer der drei Weisen aus dem Morgenland und zwar derjenige mit dem schwarzen Gesicht, einen lila Mantel mit hellgrünen Besatz trug, stand es für ihn außer Zweifel, daß der Fahrer des Automobils in Wahrheit der König Melchior gewesen ist. Zunächst ist man sich sicher, daß der Neger nicht zur ständigen Bewohnerschaft der katholischen Ortschaft zu zählen ist, wird aber nach seiner Identifizierung als Melchior schwankend im Urteil. Zur Gemeindeversammlung ist er in jedem Fall herzlich eingeladen.
Piazolo Dr.
Den sicher schon auf die Siebzig zugehenden Dr. Piazolo sah man zu jeder Tages- und Abendstunde im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Am Fuhrwerk, das den toten Jäger Schlag (siehe dort) in den Ort transportierte, zog Dr. Piazolo die schwarzen Motorradhandschuhe aus und betastete den sowohl von der Kälte als auch durch das längst erfolgte Eintreten der Leichenstarre unbeweglich gemachten Körper mit einer für ihn ungewöhnlichen Scheu an verschiedenen Stellen. Nur wenige Tage später diagnostiziert er bei dem mit einer schweren Krankheit niederliegenden Selysses Diphtheritis.
Rambousek Dr.
Bis zum Ende der vierziger Jahre praktizierte im Haus Alpenrose der Dr. Rambousek. Dr. Rambousek war nicht lange nach Kriegsende aus einer mährischen Stadt nach W. gekommen. Daß dieser kleine, korpulente, stets auf eine großstädtische Weise gekleidete Mann in W. nicht Fuß zu fassen vermochte, war nicht verwunderlich. Seine verhangenen, fremdländisch wirkenden und wohl am besten mit dem Wort levantinisch zu bezeichnenden Gesichtszüge, die allzeit über seine großen dunklen Augen zur Hälfte gesenkten Lider, und sein ganzer irgendwie angewandter Habitus ließen weinig Zweifel daran, daß er zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden mußte. Während der in W. verbrachten Jahre hat er keinem einzigen Menschen sich anschließen können. Es hieß von ihm, daß er leutscheu sei, und man hat ihn kaum jemals auf der Gasse gesehen.
Rambousek, Frau und Töchter
Mit ihrem Mann den beiden halbwüchsigen Töchtern Felicia und Amalia ist die blasse Frau des Dr. Rambousek (siehe dort) aus der mährischen Stadt Nikolsburg nach W. gekommen, was für sie wahrscheinlich eine Verbannung an das Ende der Welt gewesen ist. Dr. Rambousek wurde eines Abends von seiner Frau, die mit ihren Töchtern dann bald aus W. weggezogen ist, leblos und kalt im Ordinationszimmer aufgefunden.
Romana
Die Romana war die ältere von zwei Töchtern einer Häuslerfamilie. Sie half im Engelwirt aus und am Abend, bevor noch die Gäste kamen, war sie mit dem Abwischen der Tische und Bänke, mit dem Kehren des Bodens oder dem Trocknen der Gläser beschäftigt. Einmal aber sah man durch die offene des Holzschopfs einen Schemen. Es war der Jäger Schlag (siehe dort), der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten.
Romanas Familie
Die Häuslerfamilie hatte im Bärenwinkel ein, verglichen mit den anderen Höfen, spielzeugartiges Anwesen, das auf einem Hügel lag und an die biblische Arche erinnerte, weil es von jeder Art zwei zu geben schien – außer dem Elterpaar und den beiden Schwestern, der Romana und der Lisabeth, gab es eine Kuh und einen Ochsen, zwei Schweine, zwei Gänse und so weiter. Das kleine Haus mit seinem geschindelten Walmdach sah einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleich. Und jedesmal, wenn jemand vorbeikam, schaute gerade der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fenster heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen.
Rauch, Lehrerin
In der Schule hat das Fräulein Rauch, das ihm nicht weniger bedeutete als die Romana, die Unglückschronik von W. mit ihrer gleichmäßigen Schrift an die Tafel geschrieben und darunter mit farbiger Kreide ein brennendes Haus gemalt. Sie ging in ihrem enganliegenden grünen Rock durch die Reihen. Wenn sie in seine Nähe kam, spürte er bis in den Hals hinauf sein Herz. Im nächsten Frühjahr wurde er nach meiner langen Krankheit dem Fräulein Rauch zwei Stunden täglich in die Obhut gegeben. Mit Hingabe füllte er seine Hefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welche er das Fräulein Rauch auf immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war ihm damals, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es darum durchaus möglich, daß er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können.
Sallaba, Pächter im Engelwirt
Im oberen Stock des Engelwirts hatte der einbeinige Pächter Sallaba seine Wohnung Er besaß eine große Anzahl eleganter Anzüge und Krawatten mit Einstecknadeln. Es war aber weniger seine für W. wirklich außergewöhnliche Garderobe als seine Einbeinigkeit und die erstaunliche Geschwindigkeit und Virtuosität, mit der er sich auf seinen Krücken fortbewegte, die ihm den Anstrich des Weltmännischen gab. In derselben Nacht, als das Schankmädchen Romana und der Jäger Schlag im Holzschopf zueinander fanden, hat der einbeinige Engelwirt Sallaba die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört. Überall auf dem Boden lag knöcheltief zerbrochenes Glas. Es war ein einziges Bild er Verheerung. Draußen auf dem Gang sah es nicht viel besser aus.
Sallabas Frau
Eine sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich verabscheuende Frau. Völlig außer sich und geradezu vernichtet von der Zerstörungswut ihres einbeinigen Ehemanns (siehe dort) sitzt Frau Sallaba auf der Kellerstiege und weint sich die Augen aus.
Schlag Hans, Jäger
Hans Schlag war aus dem Schwarzwald kommend in den bayerischen Forstdienst übernommen worden. Er war ein stattlicher Mann mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden überschatteten Augen. Stundenlang, oft tief bis in die Nacht, saß er bei seinem Glas, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Einmal aber sah man durch die offene des Holzschopfs einen Schemen. Es war der Jäger Schlag, der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana (siehe dort) hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Kurze Zeit später wurde aus dem Jungholz die Nachricht gebracht, daß man den Jäger Hans Schlag eine gute Stunde außerhalb seines Reviers, auf der Tiroler Seite, auf dem Grund eines Tobels liegen gefunden habe. Das graugrüne Habit war kaum derangiert oder sonst in Mitleidenschaft gezogen. Ohne weiteres hätte man glauben können, der Schlag sei bloß eingeschlafen, wäre nicht die entsetzliche Blässe seines Gesichts gewesen und das vom Frost durchwachsene, steif und festgefrorene Haar. Aus dem Autopsie bericht ging hervor, daß auf dem linken Oberarm des Toten eine kleine Barke eintätowiert war.
Schmied
Den Schmied, der ein fester und solider Bewohner des Ortes ist, bekommen wir gleichwohl nicht zu sehen. Aus der Schmiede roch es nach verbranntem Horn. Das Essenfeuer war ganz in sich zusammengesunken, und das Werkzeug, die schweren Hämmer, Zangen und Raspeln lagen und lehnten herrenlos überall herum. Nirgends rührte sich etwas. Das Wasser im Bottich, in den der Schmied sonst jeden Augenblick mit dem glühenden Eisen, daß es zischte, hineinfuhr, war so still und glänzte von dem schwachen Widerschein, der vom offenen Tor auf seine Oberfläche fiel, so tiefschwarzdunkel, als hätte noch nie jemand es angerührt und als sei ihm bestimmt, in solcher Unversehrtheit bewahrt zu bleiben.
Schwarz Valerie
Die Modistin Valerie Schwarz wohnt im Posthalterhaus, stammt, anders als der Dr. Rambousek, nicht aus dem Mährischen, sondern aus dem Böhmischen und besitzt trotz ihrer geringen Körpergröße eine Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat. Sie preist die Heilkunst des Dr. Rambousek in den höchsten Tönen und verbreitet nach seinem Tod die Kunde oder auch das Gerücht, er sei Morphinist gewesen.
Seelos Babett
Babett ist die Schwester des Baptist, der Bina und der Mathild (siehe jeweils dort). Mit der Bina führt sie das Café Alpenrose, in das nie jemand hineingegangen ist. Während die Bina, mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend, in einer Tour im Haus und im Vorgarten herumlief, saß die Babett den ganzen Tag in der Küche und faltete Geschirrtücher zusammen, um sie gleich wieder auseinanderzutun und von neuem zusammenzulegen.
Seelos Baptist
Er ist der Abraham der Seelossippe, deren Angehörige eigentlich auf den Namen Ambroser hört, von allen aber immer nur mit dem Namen des von ihnen bewohnten Seeloshauses, auf der gegenüberliegenden Seite des Engelwirts, gerufen werden. Baumeister von Beruf, hatte er vor dem Krieg achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet. Fast sämtliche größeren Bauten in W. und der Umgebung waren am Reißbrett des Baumeisters Ambroser entworfen und unter seiner Aufsicht ausgeführt worden. Gestorben war er am Maifeiertag des 33er Jahres an einem Gehirnschlag. Man hatte ihn in seinem Bureau über dem Lichtpausapparat zusammengesunken gefunden, den Bleistift hinterm Ohr und den Zirkel noch in der Hand.
Seelos Benedikt
Gegen Ausgang des Krieges hatte man den Seelos Benedikt, der immer ein furchtsames Kind gewesen ist, auf die Unteroffiziersschule nach Rastatt geschickt. Den Benedikt, sagte Lukas (siehe dort) und wollte näheres dazu nicht verlauten lassen, hat das Unglück aufgefressen. Wir wissen somit wenig über ihn, halten es aber für unwahrscheinlich, daß er derselbe Benedikt ist, den man am Mittag oft sehen konnte, wie er in einem Gummischurz in der Metzgerei die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch.
Seelos Bina
Bina ist die Schwester des Baptist, der Babett und der Mathild (siehe jeweils dort). Mit der Babett führt sie das Café Alpenrose, in das nie jemand hineingegangen ist. Während die Bina, mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend, in einer Tour im Haus und im Vorgarten herumlief, saß die Babett den ganzen Tag in der Küche und faltete Geschirrtücher zusammen, um sie gleich wieder auseinanderzutun und von neuem zusammenzulegen.
Seelos Maria
Die Seelos Maria war eine schwere langsame Frau, die seit dem Tode ihres Mannes Baptist (siehe dort), der einige Jahre schon zurücklag, Schwarz trug und ihre Tage beim Kaffeesieden verbrachte, das sie auf türkische Art vornahm. Vielleicht hatte sie es vom Baptist gelernt, der vor dem Krieg achtzehn Monate in Konstantinopel gearbeitet hatte. Möglicherweise ist es aber auch der Ekrem (siehe dort) gewesen, der der Seelos Maria das Mokkasieden beigebracht und der auf seinen Wegen den schwarzen Kaffee aufgetrieben hat, über den die Maria auch in der nötigsten Zeit stets verfügte.
Seelos Lena
Die Seelos Lena ist eines Tages mit einem Kind des Ekrem (siehe dort) niedergekommen, das aber zum Glück nur eine Woche gelebt hat. Der winzige weiße Kindersarg wurde auf dem großen schwarzen Leichenwagen von dem Rappen des Bauers Erd auf den Friedhof hinaufgezogen wurde und beim Begräbnis ist das Regenwasser heruntergeronnen von dem Lehmhaufen neben der kleinen Grube. Die Lena ist bald darauf nach Kalifornien ausgewandert, wo sie einen Telefoningenieur geheiratet hat, mit dem sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Über den Unfall hat man nie viel in Erfahrung bringen können.
Seelos Lukas
Jetzt lebte von den Seelos allein noch der Lukas in W. Das Seeloshaus war aufgegeben worden, und der Lukas bewohnte das kleine Nachbarhaus, in dem früher die Babett, die Bina und die Mathild (siehe alle dort) gewirtschaftet hatten. Der Lukas war, nachdem er bis in sein fünfzigstes Jahr in einer Bauspenglerei gearbeitet hatte, aufgrund einer allmählich ihn verkrüppelnden Arthritis vorzeitig in den sogenannten Ruhestand getreten und verbrachte nun die Tage daheim auf dem Sofa. Während er nun den ganzen Tag auf dem Sofa lag oder höchstens mit nutzlosen kleinen Arbeiten im Haus herum verbrachte, war es ihm geradezu unbegreiflich geworden, daß er einmal ein guter Torwart gewesen war und daß er, der immer öfter von schweren Depressionen geplagt wurde, im Dorf seinerzeit den Hanswursten gemacht hatte, ja daß er jahrelang in der Fasnacht das Ehrenamt des Fasnachtskaspers innegehabt hatte.
Seelos, Frau des Lukas
Die Frau des Lukas (siehe dort) hat weiterhin das Schreibwarengeschäft des alten Specht (siehe dort) geführt.
Seelos Mathild
In der Regel hat der Großvater (siehe dort) einmal in der Woche der Mathild einen Besuch abgestattet, um mit ihr Karten zu spielen und lange Gespräche zu führen. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber bald unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist, wo man sie fortan heimlich eine rote Betschwester geheißen hat. Die Mathild ihrerseits hat sich, nach dem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Sie ist einen schönen Tod im eigenen Bett mitten in der Nacht. Genau so, wie sie sich jeden Abend hingelegt hat, hat die Frau des Lukas (siehe dort) sie gefunden am nächsten Morgen.
Seelos Peter
Der Peter, der Wagner gewesen war, hatte im rückwärtigen Teil des Seeloshauses seine Werkstatt gehabt. In der Zeit nach dem Krieg, als er an die Sechzig gewesen sein dürfte, ist er meist im unteren Dorf herumgegangen und hat den Leuten bei der Arbeit zugeschaut. Er vernachlässigte die Wagnerei mehr und mehr, nahm Aufträge zwar noch an, führte sie aber nur zur Hälfte oder gar nicht aus und verlegte sich darauf, komplizierte pseudoarchitektonische Pläne zu machen, wie beispielsweise den eines über die Ach gebauten Wasserhauses. Er ist dann ins Spital nach Pfronten eingeliefert worden, hat sich aber im Spital nicht halten lassen, sondern ist in der ersten Nacht auf und davon. Man ist bis heute nicht auf die geringste Spur gestoßen von ihm.
Selysses
Selysses’ Eltern
Beim Vater ist der Kunstsinn nicht in befriedigender Weise entwickelt. Im Aufsatz des Schranks hatten eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz gefunden, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. Am Sonntag hörte der Vater frühmorgens schon die Rottachtaler oder andere eingeborene Musikanten mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen, denn er, der nur zum Wochenende zu Hause war, hatte eine besondere Vorliebe für diese altbayerische Volksmusik. Über die diesbezüglichen oder sonstigen Neigungen der Mutter ist nichts bekannt. Sie preist in den höchsten Tönen die ärztliche Kunst des Dr. Rambousek (siehe dort) und läßt sich später von der Valerie Schwarz (siehe dort) flüsternder Weise im Gespräch berichten, der inzwischen verstorbene Dr. Rambousek. Ansonsten ist das Elternpaar im Mobiliar der Wohnung so gut wie verschwunden. Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden; aus einer Kredenz, auf welcher eine irdene Bowle und zwei kristallene Blumenvasen auf gestickten Deckchen symmetrisch angeordnet waren; aus dem ausziehbaren Eßtisch mit den sechs Sesseln, aus einer Couch mit einem Sortiment handgearbeiteter Kissen; und aus zwei kleinen Alpenlandschaften in schwarzlackierten Rahmen, die versetzt an der Wand hingen.
Selysses’ Großvater
Beim Herauskommen aus einer Haustür ist der Großvater zuerst stehengeblieben, um nach dem Wetter zu schauen. Den kleinen Selysses hat er nach Möglichkeit überallhin mitgenommen. In der Regel einmal in der Woche ging der Großvater in die Alpenrose hinüber, um der Mathild (siehe dort) einen Besuch abzustatten. Diese wöchentlichen Besuche bestanden darin, daß die beiden ein paar Kartenspiele miteinander machten und ausgedehnte Gespräche führten, zu denen es ihnen an Stoff offenbar nie mangelte. Der Großvater behielt nach einer alten Gewohnheit zum Kartenspielen immer den Hut auf. Zuhaus war es seine tägliche Gewohnheit, den für ihn auf dem Herdschiffchen eigens warm gehaltenen, von ihm aber verabscheuten Milchkaffee nach und nach, wenn die Mutter gerade nicht hersah, in den Ausguß zu schütten. Als Selysses mit Diphtheritis daniederlag, hat ihm der Großvater lauwarmes Wasser in den Mund getropft, das über die offenen Brandflächen im Inneren des Halses langsam hinunterrann. Als der Großvater dann Jahre später während des ersten Föhnsturms nach dem sibirischen Winter sechsundfünfzig im Sterben lag, hat Selysses die ihm in zunehmendem Maße verhaßte Zither zum ersten und letzten Mal freiwillig aus ihrem Kasten genommen und dem Großvater, der halb schon hinübergedämmert war ein paar Sachen vorgespielt, zuletzt einen langsamen Ländler in C-Dur.
Specht, Buchdrucker
Als die Frau des Lukas Seelos (siehe dort) das Schreibwarengeschäft des alten Specht führt, ist dieser wohl schon nicht mehr unter den Lebenden, wir wissen es aber nicht mit Sicherheit. Seinerzeit hat der Buchdrucker Specht in der Fasnacht immer noch den Christbaum im Laden gehabt und oft sogar bis auf Ostern, und es sei vorgekommen, daß man den Specht hätte drängen müssen, den Baum wenigstens rechtzeitig zur Fronleichnamsprozession aus dem Fenster zu tun. Der Specht, der seit den zwanziger Jahren alle vierzehn Tage das vierseitige Botenblatt, geschrieben, redigiert, gesetzt und gedruckt hat, ist ein äußerst in sich gekehrter Mensch gewesen. Er trug jahraus, jahrein einen grauen Kattunmantel, der bis nahezu an den Boden reichte, und hatte eine runde Stahlbrille auf. Am Abend sah man ihn im Schein der Lampe am Küchentisch sitzen und die Artikel und Berichte schreiben, die in den Landboten aufgenommen werden sollten.
Unsinn Frau, Ladenbesitzerin
Frau Unsinn führt ein Konsumgeschäft, in dem sie eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet hat, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Gegenüber dem Goldglanz der Sanellawürfel erschein alles, was sonst im Laden der Frau Unsinn zu sehen war, das Mehl in der Truhe, die Bratheringe in der großen Blechdose, die eingeweckten Gurken, der einem Eisberg gleichende riesige Kunsthonigblock, die blaugemusterten Pakete Zichorienkaffee und der in ein feuchtes Tuch eingeschlagne Emmentaler, in einem traurigen Zustand der Verdämmerung begriffen. Die Sanellapyramide ragte hinein in die Zukunft und im Geiste baute man sie höher und höher, so hoch, daß sie schon bis in den Himmel hinauf reichte.
Waldmann, Dackel
Der Dackel oder Dachshund Waldmann ist Eigentum des Jägers Hans Schlag, an dessen Rucksack er stets festgebunden ist Auch als es im Holzschopf zu erotischen Tätlichkeiten zwischen der Romana und seinem Herrn kommt, hat er wie immer angebunden an den Rucksack still neben diesem an der Erde gestanden und herübergeschaut. Vor dem Überqueren der Riese aber, das dem Schlag zum Verhängnis geworden ist, hatte er den Dachshund in den Rucksack gesteckt und dieser ist im Sturz irgendwie abgestreift worden. Der arme Waldmann hat dann vom Frost stocksteif gefroren zu Füßen seines toten Herrn gelegen, war aber noch lebendig gewesen.
Wurmser, Pfarrer
Der Dr. Piazolo (siehe dort) hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll.
Zobel, alter Engelwirt
Die mehrere hundert Stück umfassende Ansichtskartensammlung ist von dem alten Engelwirt angelegt worden, der vor seiner Heirat mit der Rosina (siehe dort) den Großteil seines beträchtlichen Erbes in der Weltgeschichte verfahren hatte und jetzt seit Jahren bettlägrig war. Es hieß, er habe in der Hüfte eine große Wunde, die nicht verheilen wolle. Er habe in der Jugend eine Zigarre, die er verbotenerweise geraucht hatte, vor seinem Vater verbergen wollen und in den Hosensack gesteckt. Die Brandwunde, die er sich dabei zugezogen hatte, sei zwar bald besser geworden, sie sei aber später, als der Engelwirt gegen fünfzig ging, immer wieder aufgegangen und schließe sich nun überhaupt nicht mehr, ja, sie würde größer von Jahr zu Jahr, und es könne wohl sein, daß er bald am Brand sterben müsse. Den Engelwirt habe man nie zu Gesicht bekommen, und die Engelwirtin, die ohnehin kaum etwas sagte, hat ihn auch nie erwähnt.
Zobel Johannes und Magdalena
Die Kinde der Engelwirtsleute, Johannes und Magdalena, die nicht viel älter gewesen sind als Selysses, sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Magdalena mit dem schweren Trinken angefangen hat nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen.
Zobel Rosina, alte Engelwirtin
Im ersten Stock wohnte noch die Engelwirtin, Rosina Zobel, die die Führung der Wirtsstube vor etlichen Jahren aufgegeben hatte und sich seither den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube aufhielt. Entweder sie saß in ihren Ohrensessel, oder sie ging hin und her, oder sie lag auf dem Kanapee. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht hatte oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hatte. Man sah sie nie bei einer Arbeit; weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen.
Je mehr Bilder ich aus der Vergangenheit versammle, desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit sich so abgespielt haben soll, denn nichts an ihr ist normal zu nennen, sondern es ist das allermeiste lächerlich, und wenn es nicht lächerlich ist, dann ist es zum Entsetzen – Selysses äußert diese Überlegungen gegenüber dem Lukas Seelos, und der stimmt ihm uneingeschränkt zu. Der Leser ist nicht in der Lage dieser beiden, die das alte Wertach ebenso wie das neue W. kennen, er macht erst in diesem Augenblick die Bekanntschaft des alten W., das ihm also neu ist. Wenn er einiges Lächerliches und einiges Entsetzliches sieht, so ist es doch keineswegs tonangebend. So hat das elterliche Haus der Romana sicher nichts Entsetzliches, aber in seinem Format als liebevoll ausgemalte, zum Lächeln zwar anregende Idylle auch nichts Lächerliches. Die pausierende Schmiede ist als ein metaphysischer Augenblick gestaltet, diesmal sogar ohne ein Schwimmvogelpaar auf der Wasseroberfläche, das auf dem begrenzten Areal eines Bottichs ohne Frage auch fehl am Platz gewesen wäre. Das Entsetzen in der Frisöranstalt des Köpf ist dem Scherz zuliebe maßlos übertrieben, und auch wer nicht am Alpenrand aufgewachsen aber ähnlichen Jahrgangs ist, kann sich den von der Sanellapyramide ausgehenden transzendenten Schauder ohne Mühe vergegenwärtigen ebenso wie die amerikanische Seligkeitsverheißung, für die der Melchior steht. Gut erinnert er auch das heraufziehende Zeitalter der Marilyn Monroe und Anita Ekberg und versteht die Genugtuung, eine Person wie die Valerie Schwarz leibhaftig am Ort zu haben, auch wenn die ernstliche Neigung sich dann der sicher um einiges zarter gebauten Romana und schließlich dem noch sanfter ausgestatteten Fräulein Rauch zuwendet. Der Buchdrucker Specht schließlich erinnert ihn an verwandte Gestalten in alten Westernfilme, etwa den Journalisten in John Fords Liberty Valence. Die alten Westernfilme aber waren im moralischen Rahmen des Beredten Italieners gefertigt, in dem Selysses einige Zeit zuvor noch beifällig gelesen hatte: als wäre auch das Entsetzlichste in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. Der größte Teil des alten Wertach ist denn auch gar nicht dem urteilenden Blick des Erwachsenen ausgesetzt, sondern wird gesehen mit den Augen des Kindes in seiner dem menschlichen Urteil entrückten Ewigkeitsgestalt. Der andere Blick fällt auf das Design der elterlichen Wohnung. Alles in allem läßt sich ein Ort wie W., will man obendrein bei der Wahrheit über die Lage der Menschen bleiben, kaum warmherziger schildern. Heilige Thekla, bitt für uns.
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