Montag, 19. Januar 2015

Fenster zum Hof

Bedeutungslos

Hitchcocks Filme, so Roberto Calasso, oder auch die von Ophüls oder Lubitsch etwa, würden immer schöner, je öfter man sie sieht. Wer einen Film dieser Regisseure betrete, setze seinen Fuß in einen selbstgenügsamen Raum, der alles in sich beschließe. Das Fenster zum Hof ist insofern idealtypisch, als es den geschlossenen Raum zusätzlich thematisiert. Nach einem Unfall ist der Photograph James Steward für längere Zeit an das Haus und den Rollstuhl gebunden, sein Zeitvertreib besteht darin, das gegenüberliegende Haus und, durch die Fenster, dessen Bewohner zu beobachten, wenn es sein muß auch durch das Teleobjektiv seiner Kamera. Der Freiluftmensch James Steward ist unfallbedingt für eine Weile eingesperrt, Cary Grant, ein weltgewandtes Muttersöhnchen in fortgeschrittenem Alter, sieht sich in Der unsichtbare Dritte wider Willen hinausgestoßen in die offene Weite. Niemand, der den Film auch nur einmal gesehen hat, wird die Szene an der Bushaltestelle in der leeren Prärie vergessen und den anschließenden Spurt ins Maisfeld auf der Flucht vor dem angreifenden Schädlingsbekämpfungsstuka.

Als Kind in Prag beobachtet Austerlitz durch das Fenster den Schneider Moravec, der sein schweres, mit Kohlenglut gefülltes Bügeleisen durch die Luft schwenkt und am Ende des Tages dann den mit Filz überzogenen Arbeitstisch abräumt, ein doppeltes Zeitungsblatt auf ihm ausbreitete und auf diesem Zeitungsblatt das Nachtessen, auf das er gewiß die längste Zeit sich schon gefreut hatte: anders als im Fenster zum Hof eine ganz und gar harmlose Form des Voyeurismus. Alles in allem aber ist Der unsichtbare Dritte Sebald und seinem Erzähler, der den offenem Himmel der Zimmerdecke vorzieht, gemäßer.

Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerin hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Ich versuchte mich also selber zu üben in einer ähnlichen Bescheidenheit und holte den Beredten Italiener heraus, ein praktisches Hülfsbuch der italienischen Umgangssprache.

Drei Formen des Lesens: Die Franziskanerin ist kaum versucht, das Brevier durchzulesen, sie vertieft sich in einzelne Seiten. Das junge Mädchen ist bedacht auf ein zügiges, bildgestütztes Verfolgen der Romanhandlung, im Grunde ist unwahrscheinlich, daß das Umblättern tatsächlich immer im Wechsel erfolgt. Selysses blättert gedankenverloren im Hülfsbuch, und dann steigen aus der Gedankenverlorenheit doch Gedanken auf. Seine eigene Methode des Lesens bleibt naturgemäß unkommentiert, das Lesen der beiden jungen Frauen betrachtet er mit der gleichen Sympathie. Was für den Film gilt, gilt für das Buch schon lange, im Grunde lohnt es sich nur Bücher zu lesen, die mit jeder Lektüre schöner werden. Dafür werden verschiedene Formen des Lesens benötigt. Man ist geneigt, das Mädchen mit dem Photoroman auf einer unteren Stufe des Lesens anzusiedeln und stößt auf das Bekenntnis des schon in die Jahre gekommenen Georges Dumézil, nichts wünsche er sich so sehr, als die Ilias noch einmal vom Anfang bis zum Ende zu lesen, ohne Forderungen an sich zu stellen, ohne an etwas anderes zu denken als an die erzählte Geschichte, ohne Kommentare, ohne Wörterbücher, mit anderen Worten, ohne zusätzliche Bedeutungen. L'arte non si lascia disturbare dai suoi significati, zieht Calasso das Fazit, die Kunst läßt sich von ihren Bedeutungen nicht belästigen, macht sich nicht gemein mit ihnen.
Die Literatur ist an die Sprache und damit in besonderer Weise an die Bedeutungen gebunden, sie ist, wenn man so will, bedeutungsvoll und kann ihr Heil nicht darin finden, unbedeutend zu sein. Sebald erläutert den Umgang der Wortkunst mit der Bedeutungslast am Beispiel Thomas Brownes. Er führe ständig seine ganze Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz. Zwar gelinge es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Naturgemäß ist Browne ein extremer Fall, am anderen Skalenende traut sich Modiano, ähnlich wie Hitchcock in seinen Filmen, so nah an das Unbedeutende, daß das Schweben sich beinah von selbst ergibt. Dem Leser stehen alle Möglichkeiten offen, er kann sich, wie die Franziskanerin, in die Bedeutungen vertiefen oder, wie das Mädchen mit der bunten Jacke, von den Bildern dahintragen lassen, oder auch nur gedankenverloren blättern und auf die Stimmen seines Inneren hören. Mit einem Sprachkunstwerk hat er es immer dann zu tun, wenn er auf Bedeutungen stößt, die sich nicht in Aussagen ummünzen lassen. Er begegnet der Metaphysik der Kunst.

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