Sonntag, 25. Dezember 2016

Frau am See

Versehen

 
In Montreux am Genfersee war er auf eine tagtäglich auf einer Parkbank am Ufer sitzende Dame aufmerksam geworden. Zweimal morgens ist ein Auto am Ufer vor ihr stehengeblieben und ein junger uniformierter Mann ist ausgestiegen und hat ihr Zeitungen gebracht. Manchmal winkte sie einem Vorübergehenden zu. Die Dame ist in mehrere Wolldecken eingewickelt gewesen. Wahrscheinlich ist sie eine dieser reichen und vornehmen Schweizerinnen gewesen, die im Winter am Genfersee leben, während ihre Geschäfte auf der ganzen übrigen Welt weitergehen, hatte er gedacht. Es war immer sie, die auf dieser Bank gesessen war, und so war das Erste, was ihm auffiel, daß sie dieses Mal nicht die Zeitung, sondern ein Buch in der Hand hielt und zwar Nabokows Lebenserinnerungen. Er hob den Blick, es war eine andere. Als er ein zweites Mal an ihr vorübergegangen war, hatte er sie mit einer ans Extravagante grenzenden Höflichkeit auf diese ihre Lektüre hin angesprochen und von da an den ganzen Tag sowie die ganzen folgenden Wochen hindurch in seinem ein wenig altmodischen, aber überaus korrekten Französisch die einnehmendste Konversation mit ihr gemacht. So war sie durch ein Versehen, einen Umweg seine Vertraute, sein Halt im Leben geworden.

Samstag, 24. Dezember 2016

Südamerikanische Kunst

Motivpalette

Von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, ist er nur dann abgewichen, wenn ihm ein bestimmter Gegenstand ausdrücklich vorgegeben worden war. Er war also sehr wohl imstande, sein Repertoire auszuweiten, doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt. Zuletzt, als seine Kunst immer weniger Anklang fand, soll sein Haus mit Holzerbildern so vollgestellt gewesen sein, daß er selber fast keinen Platz mehr hatte. Irgendwann hat er dann eine Reise nach Südamerika unternommen, und nur wenig später ist eine Nachricht gekommen, er habe in einer kleinen Küstenstadt ein Pferd genommen, sei ausgeritten und nicht mehr zurückgekommen. Die Nachricht, auf Grund derer er dann offiziell für tot erklärt werden konnte, traf aber erst Jahrzehnte später ein. Wie sich zeigte, hatte er bis dahin in Rio de Janeiro als ein in der ganzen Welt berühmter Maler gelebt und zwar unter seinem wahren Namen, lediglich das einleitende H hatte er, wie in den iberischen Sprachen nicht unüblich, gegen ein F eingetauscht und im Auslaut das e gegen das landesübliche o. Er habe, so hieß es in den verschiedensten Nachrufen, der südamerikanischen Malerei, ja der ganzen amerikanischen Kunst neuen Auftrieb gegeben und Weltgeltung verschafft. Der Holzknecht war in Südamerika aus einer Motivpalette vollkommen verschwunden.

Freitag, 23. Dezember 2016

Wahre Liebe

Am Gardasee


Mme Gherardi, oft auch einfach nur Ghita genannt, in deren Begleitung Stendhal 1813 Oberitalien und insbesondere den Gardasee bereiste, war eine mysteriöse, um nicht zu sagen geisterhafte Gestalt. Es gibt Grund für die Vermutung, daß sie sich gleichsam aus verschiedenen Liebhaberinnen Stendhals wie Adèle Rebuffel, Angeline Bereyter und nicht zuletzt Métilde Dembowski zusammensetzte. Gegenüber den realen Frauen hatte sie den Vorteil einer größeren Umgänglichkeit, ohne daß der Romancier aber in dieser Hinsicht zu weit gegangen wäre. Ghita war ihm keineswegs in jeder Hinsicht gefügig. Immer dann etwa, wenn er sich mühte, sie zum Glauben an die Liebe zu überreden, gab sie ihm sei es etwas melancholische, sei es scharfzüngige Antworten. Naturgemäß war das eine Weise des Widerstands, die ihm nur recht sein konnte. Die wenigsten von uns sind freilich imstande, ein so fein gesponnenes Kunstgebilde zu ersinnen und mit ihm zu leben. In Riva machten die beiden die Bekanntschaft eines vom hinterlassenen Vermögen seines Vaters lebenden und offenbar schlichter gestrickten Villenbesitzers, der, ebenfalls der bekanntlich immer anstrengenden wirklichen Frauen überdrüssig, bereits seit mehr als zehn Jahren mit einer Schaufensterpuppe zusammenlebte. Als er deswegen vor längerer Zeit schon in einem an die in Desenzano herausgegebene Zeitung gerichteten Leserbrief als unzüchtig bezeichnet worden war, habe er, wie er erzählte, bei dem zuständigen Standesamt seine Verehelichung mit der Schaufensterpuppe beantragt, was aber abgelehnt worden sei. Auch die Kirche habe ihm seine Verheiratung mit der Schaufensterpuppe verweigert. Ghita, die der Erzählung aufmerksam gelauscht hatte, war noch Tage danach sehr nachdenklich gestimmt.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Metamorphosen

Gebeugt


Früher habe es, wie der Dichter sich gern erinnert, in fast jedem Ort einen Buckligen gegeben, der im Gemeinschaftsleben eine wichtige Rolle spielte. Aus der Zeit der eigenen Kindheit könne er sich an vier oder fünf Bucklige erinnern. In gewissem Sinne war er denn auch beglückt, als ihm bei seinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. Nehmen wir für Brüssel auch nur die Mindestzahl von zwei gesehen Buckligen an, so kommen wir im Gesamtwerk, rechnet man zu den Buckligen im engeren Sinn die vom Morbus Bechterew Gebeugten hinzu, auf eine Zahl, die höher liegt als die der aus der Kindheit Erinnerten. Wir haben den Cicerone in Verona, der bucklig war und so stark vornübergebeugt, daß sein um vieles zu großes Jackett mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte; in Ithaca den greisen Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen; den Mann mit einem riesigen Buckel, der vor dem Erzähler im Flugzeug nach Calvi sitzt; und die krumme alte Frau auf dem Flug nach Wien, die von der Bechterewschen Krankheit so stark vornübergebeugt war, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Einerseits sind die Buckligen und Gebeugten Einschränkungen unterworfen, nicht okular bedingten Sehbehinderungen etwa, die dementsprechend kein Augenarzt heilen kann, andererseits scheinen sie über magische Kräfte zu verfügen. Als der Erzähler dem greisen Portier auf der wunderbaren Mahagonistiege folgt hatte er auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, es war ihm, als schwebte gewissermaßen hinan. Als er nach einer schnellen Fahrt vom Flugplatz aus im Mietwagen das Hotel auf Korsika erreicht, ist der Bucklige, der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster zur Stelle. Und ebenso die kopflose krumme Alte. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. In der U-Bahn dann und auf der Fahrt nach Norwich verbarg er sich, entsetzt und voller Angst, sie erneut zu sehen, hinter einer Zeitung. Was hat es auf sich mit der Zauberkraft der Buckligen und Gebeugten?

Trotz der Schmerzen zog er sich mühsam an der Fensterbrüstung empor. In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum ersten Mal von Erde erhoben hat, stand er dann gegen die Glasscheibe gelehnt, ähnlich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickte. Der drohenden Käferverwandlung kann der Dichter sich entziehen, die metamorphosenreichen holometabolen Kerbtiere, insbesondere die Falter, Seidenraupen, Motten und Schmetterlinge bleiben aber, in den verschiedenen Phasen ihres gestaltreichen Lebenslaufes, reichlich im Werk vertreten, Metamorphosen, vor denen, wie wir von Ovid und Kafka eben wissen, auch wir Menschen nicht gefeit sind, oder auf die wir, anders gesehen, vielleicht hoffen können. Vielleicht, so mag man denken, befinden sich die Buckligen und Gebeugten in einer bestimmten Phase eines Verwandlungsvorgangs. Es scheint, als wollten sie sich einrollen, die Gestalt eines Rades, besser noch, angesichts ihrer Dreidimensionalität, einer Kugel annehmen: Kugelmenschen, wie man ihnen in der Antike noch begegnen konnte. Ein Menschenleben reicht aber wohl nicht hin, um die Rückverwandlung abzuschließen, die die furchtbare Separation der Geschlechter wieder aufheben würde, ist doch in den Augen des Dichters das Geschlecht das Unglück sogar der Heiligen. Andernorts aber, am Meeresufer, lag drunten ein riesenhaftes Ewas auf dem Grund der Grube, ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach den Nüstern entströmenden Atem seinem Ende entgegendämmert. Sollte es der Kadaver eines Kugelmenschen sein? Tatsächlich und naturgemäß ist es ein hinreichend lebendiges Menschenpaar, das gerade mit den so üblichen und beliebten wie untauglichen Mitteln gegen die Separation der Geschlechter angekämpft hatte und nun ausruht. Die Angelegenheit ist verfahren.

Donnerstag, 15. Dezember 2016

Augsburg

Zirkusstadt

Im Halbschlaf noch tauchte in mir eine Freilichtaufführung der Aida auf, die ich als Kind in Begleitung der Mutter in Augsburg gesehen und von der ich nichts in der Erinnerung behalten hatte. Der Triumphzug, bestehend aus einem armeseligen Reiterkontingent und einigen gramgebeugten, für diese Aufführung eigens vom Zirkus Krone entlehnten Kamelen und Elefanten, machte, ganz so als sei er immer unvergeßlich gewesen, vor meinen Augen mehrmals die Runde und versetzte mich, nicht anders als damals, in einen tiefen Schlaf. - Die Augsburger Szene ist bislang nicht in den Fokus der Sebaldforschung gerückt worden, eine endgültige Deutung steht noch aus. Zumindest aber hatte sie den Stadtoberen und Bewohnern von Augsburg keinen konkreten Anlaß zur Beanstandung geboten, auch wenn die Behandlung der Stadt selbst ein wenig karg bleibt. Das war anders, als Bernhard den Zirkusdirektor Garibaldi auf Augsburg zurücken ließ. Er, der Zirkusdirektor, und nicht etwa Bernhard, schilt die Stadt Augsburg dabei unter anderem ein muffiges verabscheuungswürdiges Nest und eine Lechkloake. Das rief die Verantwortlichen auf den Plan und brachte die Bürgerschaft zum Kochen. Der Bürgermeister, stilistisch und argumentativ durchaus auf der Höhe, wandte sich an den Verleger Unseld, die Mozartgemeinde Augsburg an die Festspielleitung Salzburg, der Landrat an den bayerischen Ministerpräsidenten, der dann doch genug politischen Instinkt hatte, keine weiteren Schritte zu unternehmen. Die Leserbriefkästen der Augsburger Zeitungen blieben für längere Zeit prall gefüllt. Allen galt als sicher, Bernhard selbst habe die bösen Worte getätigt und nicht etwa der unverkennbar im Kopf nicht ganz koschere Garibaldi. Das zeigt, wie wenig auch unter auf ihre Weise durchaus klugen Leuten ein genuines Literaturverständnis verbreitet ist. Und selbst wenn Bernhard die Worte auf seine eigene Kappe genommen hätte?

Sebald, der im allgemeinen umstandslos mit seinem Erzähler identifiziert wird, läßt seinen Zorn oder doch den des Herrn auf Brüssel niederfahren: Wen kann es wundern, wenn es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit gibt, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Jedenfalls entsinne ich mich genau, daß mir bei meinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr. – Auch hier hat es nicht an Mahnungen gefehlt, den unverkennbaren demokratischen Fortschritt, den Belgien mittlerweile in einem freien und demokratischen Europa gemacht habe, nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch Bernhard erhebt auf seine Art Einwände: Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, daß nirgends auf der Welt so viele Krüppel herumlaufen wie in Lissabon?

Den Unterschied zwischen Literatur und anderen Textgebilden hat anläßlich des Augsburger Vorfalls Bernhard selbst konzis auf den Punkt gebracht. Ihm der ja gern den Dichtermodus als Lebensweise in den Alltag übertragen hat, war durchaus zuzutrauen, er würde die Beschimpfungen unter dem eigenen Namen noch einmal erheblich steigern. Er hat aber den entgegengesetzten stillen Weg gewählt. Unangemeldet ist er bei der Augsburger Zeitung aufgetaucht, um, nachdem er sich versichert hatte, daß diese Humor verstünde, bei der zuständigen Redakteurin vorzusprechen. Bestens gelaunt und höflich hat er bekannt, von Augsburg so gut wie gar nichts zu wissen. Es hätte ebensogut Nürnberg oder Bamberg sein können, vom Klang und der Kadenz her habe aber Augsburg am besten gepaßt. Aus literarischer Sicht sei Augsburg also nur ausgezeichnet worden, und da nun einmal der Lech durch Augsburg fließt, habe er auf das schöne Wort Lechkloake vernünftigerweise nicht verzichten können.

Kunst unterscheidet sich in jedem Fall vom Ingangsetzen einer sprachlichen Kommunikation dadurch, daß sie im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen operiert, ohne die spezifische Sinnleitung der Sprache in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch und noch viel dramatischer, weil weniger selbstverständlich, für alle Wortkunst, für Dichtung. Die Aussage eines Dichtwerks läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann: dem Zirkus näher als der Verlautbarung, so einfach und klar das ist, kaum jemand will es verstehen.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Celeste

Lage der Dinge
Der Major Le Strange hatte Florence Barnes, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. Wurde die Vereinbarung im persönlichen Gespräch zwischen Le Strange und Barnes getroffen oder bereits schweigsam auf dem Schriftwege, vielleicht sogar über einen Anwalt? Celeste Albaret jedenfalls wird nicht von Proust persönlich in ihr Amt eingeführt, das sie zunächst nur vertretungsweise wahrnimmt, sondern vom dem anfangs noch Dienst tuenden Kammerdiener. Sie erhält die ausdrückliche Anweisung, Monsieurs Zimmer nur zu betreten, wenn er geschellt hat, nicht anzuklopfen, mais, surtout, ne lui parlez pas, sauf s’il vous pose une question. Geschellt wird täglich für das Frühstück, das der nachtaktive Dichter allerdings kaum je am Vormittag zu sich nimmt. Es besteht aus einer Tasse Milchkaffee und einem Croissant, Kaffee der Marke Corcellet und ausgesuchter Milch aus einem Feinkostgeschäft. Celeste tritt ein mit dem Tablett, sans qu’il m’adressa un mot. Ab und zu schellt er erneut für ein zweites Frühstück der gleichen Art. Le petit déjeuner était presque tout son repas. Kochen muß Celeste nur in Ausnahmefällen, und dann ißt Proust nur wenige Happen, wenn es eine Suppe ist, il en mangeait une ou deux cuillerées et c’était tout. Falls von dem nachmittäglichen Morgenkaffee etwas übriggeblieben ist, trinkt er ihn, allen Feingeschmack hintanstellend, womöglich kalt in der Nacht, nur frische heiße Milch wird zugegossen. Während des Frühstücks wird Stille gewahrt, nicht aber unbedingt für den Rest des Tages. Il a commencé à me retenir de temps à l’autre pour causer, und schließlich wird Celeste seine engste Vertraute. Dann und wann erinnert er sich an ein Lieblingsgericht seiner Jugend, läßt es sich nach einigem Überlegen aber nicht bereiten, il aimait mieux le manger en souvenir – wohl die äußerste, für Proust, wie man sich denken kann, aber naheliegende Verfeinerung der Gourmandise.

Der Frage, wie Proust ohne unverzichtbare Nährstoffe und Vitamine immerhin so alt werden konnte, wie er geworden ist, kann hier nicht nachgegangen werden, es geht nur um überschaubare Gemeinsamkeiten mit Le Strange in den Fragen der Lebensführung. Beide haben sich aus der Menschengemeinschaft zurückgezogen, der Major noch um einiges radikaler, beide haben ihr Wohlergehen zu gutem Teil in die Hände einer jungen Frau gelegt. Die Schilderung des Zusammenlebens von Le Strange und Florence Barnes umfaßt vier Seiten, Celeste Albarets Erinnerungen haben einen Umfang von vierhundert Seiten. Diese vierhundert Seiten beantworten viele Fragen, die bezogen auf Le Strange erst noch gestellt werden müssen. Wieviel Mahlzeiten bereitet Florence täglich, Frühstück, Mittags- und Abendmahl, Tee zwischendurch? Drei oder mehr Mahlzeiten täglich verbracht in gemeinsamem Schweigen, das wäre keine leichte Prüfung. Gut denkbare wäre, daß Le Strange sich ein schlichtes Frühstück selbst bereitet und Florence nur eine gemeinsame Hauptmahlzeit täglich anrichtet. Viel hängt davon ab, ob sie, wie es der Text allerdings nahelegt, dauerhaft in dem großen Steinhaus gewohnt oder vielmehr als Zugehfrau gearbeitet hat.

Wurden die Mahlzeiten zu festen Zeiten eingenommen? Wir vermuten einen zunächst festen Tagesablauf mit zunehmenden Deregulierungstendenzen im Verlaufe der Zeit, als die Lebensführung des Majors mehr und mehr ins Exzentrische sich zu wandeln begann. Während der Tage und Nächte, die der Major nach dem Vorbild des heiligen Hieronymus in einer von ihm selbst ausgehobenen Höhle verbrachte, waren offenbar alle bestehenden Gewohnheiten außer Kraft gesetzt. Wie war es mit der Qualität und Verfeinerung der Speisen, war Le Strange ein Gourmet? Das wenige, das wir wissen von ihm, läßt eher an einen Jünger Wittgensteins glauben, dem egal war, was er aß, wenn es nur immer gleich blieb. Kostproben werden uns vorenthalten ebenso wie Hinweise auf etwaige Lieblingsgerichte, Indizien dafür, daß ihm am Essen nicht viel liegt. Auch auf einem anderen hervorragenden Konsumfeld, dem der Kleidung, zeigt er sich betont desinteressiert, in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig aufgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, ist er in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er sich bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte.

Fragen, die Celeste für Proust beantwortet hat, konnten wir daraufhin für Le Strange immerhin stellen, und wenn es auch keine Klarheit gibt, so ist doch einiges Licht eingefallen. Das Zentrum, die Frage nach dem Warum des Rückzugs aus der Menschengemeinschaft, liegt allerdings noch ganz im Dunklen. Bei Proust sind drei Gründe für das gewählte Eremitentum zu erkennen, zum einen der Krieg, der das gewohnte gesellschaftliche Leben ohnehin stark reduzierte hatte; dann die gesundheitlichen Einschränkungen, obwohl in dieser Hinsicht eine etwas sportivere Lebensweise vielleicht besser gewesen wäre; und schließlich und vor allem die Konzentration auf das große Werk. Für Le Strange ist eine Spätfolge des Traumas Bergen Belsen angedeutet aber nicht bestätigt. Der Dichter hilft uns nur wenig, man könnte meinen, der Rückzug aus der Menschengemeinschaft sei ihm bei der Lage der Dinge einleuchtender als der Verbleib. Aber ist die Literatur, die Kunst nicht selbst immer ein Rückzug aus der Welt, um sie neu und tiefer zu erfassen, ist der Dichter nicht von Haus aus ein Verbündeter der Eremiten?

Celeste Albaret hat sich nach langem Zögern zu ihrem Buch entschlossen, um, wie sie sagt, einiges von dem Falschen zu berichtigen, was über Proust zu hören war. Da siedelte Proust allerdings in seinem Werk bereits so sicher wie in einer Bastion. Dem wenigen, das wir über Le Strange erfahren, können wir nicht trauen. Was er von solchen Geschichten, wie etwa der des Hieronymus in der Grube, halten soll, das sei ihm bis heute nicht klar, räumt auch der Dichter ein. Florence Barnes hat, anders als Celeste, ihr Schweigen gewahrt, und vielleicht sollten wir darüber froh sein. Hätte sie gesprochen, wäre die zerbrechliche Geschichte, wie wir sie jetzt kennen, womöglich zerstört worden und läge nicht länger in ihrer Schönheit vor uns.

Donnerstag, 24. November 2016

Hellgrüne Spuren

Pendel der Sehnsucht


Glücklich bis zur Schwermut, liest man bei Tschechow und hält inne für einen Augenblick. Gilt doch die Schwermut gemeinhin als Unglück, und nun soll sie die Steigerung des Glücks sein, ein übergroßes Glück; gäbe es dann vielleicht gar kein tiefes Glück ohne Schwermut, und wäre Schwermut nur ein besonderer Blick auf das Glück? Im russischen Text steht für Schwermut das rätselhafte Wort тоска. Nabokow, mit seinem peniblen Ohr für die Bedeutungsklänge seiner Muttersprache, erläutert: In seinen tiefsten und schmerzhaftesten Phasen ist es ein Gefühl von großer geistiger Qual, oft ohne spezifischen Grund. In weniger starkem Maße ist es ein dumpfer Schmerz in der Seele, eine Sehnsucht nach etwas, ohne zu wissen wonach, ein krankmachendes Verlangen, eine unbestimmte Rastlosigkeit, ein mentales Leid. In konkreten Fällen kann es der Wunsch nach etwas Bestimmtem sein, aber auch Nostalgie oder Liebeskummer. In geringerem Ausmaß kann es auch einfach nur Langeweile sein.

Die von Nabokow nur der Ordnung halber angeführte schlichte Langeweile können wir vernachlässigen – oder ist sie vielleicht doch mit im Spiel, wenn Sebalds Erzähler von einer besonders unguten Zeit spricht? -, die Sehnsucht aber muß in jedem Fall hinzugenommen werden, sie ist das bewegliche Teil, das Pendel, das hin und her schwingt, der Weg zum Glück und wieder zurück, denn naturgemäß muß, wenn glücklich bis zur Schwermut gilt, auch die Umkehrung gelten: schwermütig bis zur Glückseligkeit. Für diese Umkehrung finden wir bei Sebald ein besonders einprägsames Beispiel: Wie ein Dröhnen war die lautlose Klage der Engel Giottos zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber, die den Tod Christi und mehr noch seit nunmehr achthundert Jahren den Zustand der Welt beweinen, hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Das Wunderbarste, das Glückhafteste - unvermittelt aus radikaler Schwermut und Trauer wird auf dem Wege einer durch die Kunst erfüllten Sehnsucht nach Schönheit das Glück gewonnen. Die, wenn überhaupt, nur schwer erkennbaren hellgrünen Spuren der Veroneser Erde nehmen unverkennbar Bezug auf Prousts berühmten petit pan de mur jaune, von dem einige Interpreten behaupten, daß es ihn gar nicht gebe auf Vermeers Bild; das würde seine Bedeutung als Symbol für eine Art Umschaltrelais von Leid zu Glück und wieder zurück von Glück zu Leid - nur für Vermeers Bild hat Bergotte sein Haus noch einmal verlassen und er stirbt, den zumindest für ihn sichtbaren magischen gelben Fleck noch vor Augen -, die Unauffindbarkeit des Flecks würde, um fortzufahren, seine Bedeutung als Umschaltrelais im Gefüge der Kunst nicht im geringsten mindern. So, im Verein mit Giotto, Proust und Vermeer, ruft Sebald einen zentralen Punkt seiner Poetik auf, das aus der Klage vermittels der Schönheit in der Kunst gewonnene Glück. Das ist die Stelle, an der der Dichter sich trifft mit seinen Lesern. Sergio Chejfec im fernen Argentinien – Distanz ist ein unverzichtbares Requisit der Wahrheit - notiert denn auch umstandslos: Sebald ramène le lecteur à une position souvent perdue depuis longtemps: l'admiration et le pur plaisir esthétique*. LE PUR PLAISIR! Sebald nimmt Maß an der schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, die er bei Gottfried Keller erlebt. Ihre staunenswertesten Höhepunkte erreiche Kellers allem Lebendigen bedingungslos zugetane Prosa aber gerade dort, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Mit Erschauern spürt man, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinahe erlischt unter dem Anhauch des Todes. – Die schöne Bahn der Sätze, allem Lebendigen bedingungslos zugetan unter dem Anhauch des Todes - beschwört Sebald hier nicht auch sein eigenes Werk, in dem die glückhafte Prosa all das Morden, all die Greuel und all die melancholischen, untröstlichen Gestalten hervortreibt, und offenbar nur unter dieser Bedingung erlaubt ist?

Bei Tschechow wird das an Schwermut grenzende Glück lebens- und alltagsnäher eingeführt. Es ist ein Liebender, der so spricht, ein seit einem Jahr dermaßen unerträglich glücklich Verheirateter, daß ihm als Ausweg nur noch die Schwermut, die тоска bleibt. Dergleichen gibt es bei Sebald nicht, wird man sagen, und doch, da ist eine hellgrüne Spur: Die Wirtin Luciana Michelotti, eine mir als resolut und lebensfroh in Erinnerung gebliebene Frau, machte an diesem Tag einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck - schwermütig, wir lesen: bereit für das Glückserleben. Am nächsten Tag saß ich an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür mit meinen Papieren und Aufzeichnungen. Das Schreiben ging mir mit einer mich selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir herüber. In regelmäßigen Abständen brachte sie mir, wie erbeten, einen Express und ein Glas Wasser. Meistens blieb sie dann bei mir stehen und knüpfte eine kleine Unterhaltung an. Einmal ist es mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Später dann, als der Paß verlorengegangen ist, fährt sie ihn für die Ausstellung eines Ersatzdokumentes zum Polizeiposten, und als der Erzähler mit dem Dokument wieder mit Luciana im Auto saß, war es ihm als seien die beiden von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo sie wollten. - Wo hat man den Anhauch des Glücks schon einmal schöner verspürt als in dieser, hier in extremer Verkürzung und Verunstaltung vorgestellten Geschichte?

Welcher Sebaldforscher hat sich in all den Jahren schon groß um Luciana Michelotti gekümmert? Leit- und Leidthema der Sekundärliteratur ist der Holocaust. Fridolin Schleys furiose Inauguraldissertation, ein Paradebeispiel fürwahr, ordnet Sebalds Werk von vorn bis hinten der Holocaustliteratur zu, folgt man ihm in diesem Punkt nicht, ist die Luft weitgehend raus. Verdienstvoll ist ein jetzt bei de Gruyter von Uwe Schütte herausgegebener Sammelband**, der Austerlitz ausdrücklich aus dem Kreis der zugelassenen Themen verbannt. Sebald der Untröstliche mit all seinen untröstlichen Gestalten aber steht weiter im Rampenlicht der das Werk des Dichters begleitenden Literatur, als hätte er den Gegenpart nicht in sich. Wie das Glück (le pur plaisir) wird auch das Komödiantische in seiner Prosa nur vereinzelt wahrgenommen. Anläßlich der Veröffentlichung von Über das Land und das Wasser vermochte ein namentlich nicht mehr präsenter Autor in seiner Zeitungsrezension in Sebalds Lyrik erstmals kaum wahrnehmbare hellgrüne Spuren von Humor entdecken, Spurenelemente, so der Rezensent, die in der Prosa auch mit dem Elektronenmikroskop nicht auszumachen seien. Was hat es dann aber auf sich mit der siegreichen Eroberung eines Cappuccinos im Bahnhofsbuffet von Venedig, der Begegnung mit den Kafkazwillingen im Bus nach Riva, dem einsamen Kampf mit der panierten Fischschnitte im Victoriahotel zu Lowestoft, was mit der Geschichte vom verlorenen Paß in Limone und anderen Geschichten mehr: Geschichten komisch bis hin zum Slapstick. Offenbar hatte der Zeitungsmann Sebalds Prosawerk nur zur knappen Hälfte gelesen. Eckhard Henscheid hat in seinem Dostojewskibuch Nietzsche wegen ähnlicher Vorkommnisse einen lesefaulen Sprücheklopfer genannt. Fürchtet auch Ihr seinen Zorn!

*Europe, revue littéraire mensuelle, nr. 1009, 2013
**Über W.G. Sebald, 2016


Donnerstag, 17. November 2016

Steinbrücke, Holzbrücke

Ort in der Fremde


Selysses hat fast seinen Geburtsort erreicht, auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern blieb er lange stehen, horchte auf das gleichmäßige Rauschen der Ach und schaute in die nun alles umgebende Finsternis hinein. Uwe Schütte weist auf die Ähnlichkeit mit dem ersten Absatz von Kafkas Schloß hin, ein anderer Wanderer, der kurz vor Erreichen seines Ziels auf einer Brücke längere Zeit nachdenklich innehält: Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor.

In seinem fiktionalen Text ist Kafka frei in der Gestaltung seiner Brücke, er entscheidet sich für eine Holzbrücke, Selysses muß eine reale, aus Stein gebaute Brücke betreten. Er hört, wie unter ihm der Fluß dahin rauscht, zu sehen ist er in der Dunkelheit kaum noch, von der umgebenden Landschaft sind allenfalls schemenhaft noch abgedunkelte Farbschattierungen wahrnehmbar. Ob unter der Brücke des Landvermessers ein Gewässer fließt, erfahren wir nicht, eher wird wohl nur eine Geländeunebenheit überwunden. Ganz vorn ist es weiß vom Schnee, weiter hinten milchig weiß vom Schnee und Nebel, einzelne schwarze Flecken, ganz hinten nur noch das Grau und Schwarz der Nacht.

Der Landvermesser, der ohne Vergangenheit aus dem Unbekannten kommt, geht in die Kälte einer unbekannten Zukunft, die sich, soweit ihm darein folgen können, nicht gut anläßt. Für Selysses ist sein Geburtsort gleich hinter der Brücke weiter in der Fremde als jeder andere denkbare Ort. Diesen Ort aber betritt er dann auch kaum, er betritt vor allem den Ort, der zu seiner Kindheit hinter der Brücke gelegen hatte.

Montag, 14. November 2016

Ya-ik-tee

Tischgespräche

Dem Zeitungsbericht zufolge hatte Le Strange Florence Barnes, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. Redeverbot beim Essen ist nicht gleichbedeutend mit einem umfassenden Schweigegebot, selbst das krasse Gegenteil soll möglich sein. Wir denken an Buñuels Film: Die Nahrungsaufnahme gilt als beschämend, das Essen wird einsam in einer kleinen Kammer hastig und selbstverständlich schweigend heruntergeschlungen, anschließend trifft man sich plaudernd beim geselligen Stuhlgang – ein Lehrstück, das uns einweisen will in die totale Konventionalität und Zufälligkeit aller Konventionen, ein Lehrstück freilich, von dem sich kaum jemand belehren läßt, die Darmentleerungsparty ist offensichtlich ein bloßer Humbug.

In dem Westernfilm The Stalking Moon bietet Gregory Peck Eva-Marie Saint, die er aus zehnjähriger Gefangenschaft der Apachen befreit hat und die nun nicht weiß wohin, aus Mitleid, mehr aber noch wegen einer rapide anwachsender Zuneigung, die Stelle als Hauswirtschafterin und Köchin auf seiner Ranch in Neu Mexiko an, die er nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst fortan bewirtschaften will. Schon ist die erste Mahlzeit zubereitet, Peck nimmt am Tisch Platz, Saint steht mit ihrem Apachensohn wortlos in einer Ecke. Auf Schweigsamkeit bei den Mahlzeiten ist der Rancher nun aber gerade nicht aus. Er bittet die beiden, Platz zu nehmen am Tisch und beginnt dann mit einfachen Gesprächsübungen: Kann ich bitte das Salz haben, möchten Sie noch etwas Fleisch &c. Der Junge, der außerhalb der Apachensprache kein Wort versteht, schweigt naturgemäß weiter und Saint gelingt schließlich unter Mühen ein einziger Satz nur: Es ist nicht einfach für mich. Es ist nicht einfach, zurückzufinden aus den sozialen Verhaltensweisen und Konventionen von Steinzeitmenschen in die Welt des weißen Mannes. Bis zum Ende des Filmes wird Saint erfreuliche Fortschritte machen, die Sache ist ja nicht so verfahren wie bei Buñuel. Der Vater des Apachenjungen, das sei noch erwähnt, heißt Ya-ik-tee, übersetzt: Er-ist-nicht-da. So könnten auch Le Strange und die anderen heißen, ob sie nun in ein fernes Land oder in ein anderes Segment ihres Inneren, eine andere Seele* ausgewandert sind. Im übertragenen Sinn kann Ya-ik-tee auch Er-ist-tot bedeuten.

* Inna dusza, Eine andere Seele, ein Roman von Łukasz Orbitowski

Samstag, 5. November 2016

Prawo i sprawiedliwość

Gerichtshöfe

Frederick Farrar hatte in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er gelegentlich mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Hochachtung oder gar Begeisterung für die Juristerei kommt in diesen Worten nicht zum Ausdruck, andererseits ist aber auch nicht ganz klar, woraus sich das Entsetzen herleitet, vielleicht ist es ganz allgemein das Entsetzen über ein halbes Jahrhundert entfremdeten Lebens, wie man gern sagt. Den Laien ist die Jurisprudenz in der Mehrzahl verwunderlich, nicht nur, daß sie unseren immerwährenden Durst nach Gerechtigkeit nicht stillt, auch das simple Recht scheint sich nicht selten in der anwaltlichen Artistik zu verflüchtigen. William Tapply erzählt von einem begnadeten Strafverteidiger, der in nahezu jedem Fall für seinen Mandanten den Freispruch erzielt, zum eigenen Leidwesen, denn immer weniger erträgt er es, die Schurken dank seines Geschicks unbeschadet auf freiem Fuß zu sehen, ihr Schandwerk ungeniert fortführend. Schließlich bringt er drei besonders üble, ursprünglich von ihm befreite Zeitgenossen der Reihe nach um, einen Kinderschänder, einen Hitman der Mafia und einen betrunkenen Todesfahrer. I tried to convince myself that he made justice happen, sagt später eine ihm nahestehende Person. Daß er die bestehende Rechtsordnung zu ihrem verborgenen Zentrum geführt habe, kann nicht ernstlich gemeint sein. Ob er der Gerechtigkeit einen Schritt näher gekommen war, darüber kann man einen Augenblick zumindest nachdenken.

Sonntag, 23. Oktober 2016

Fließgewässer

Friaulisch

Die Luft war erfüllt von einem ständigen Rauschen, das nicht von dem Wind in den Bäumen herrührte, sondern von den in geringer Entfernung niedergehenden, wenn auch von meinem Fenster aus unsichtbaren Ithaca Falls, nur einem von den über hundert Wasserfällen, die in der Gegend des Cayugasees seit dem Ende der Eiszeit in die tief eingeschnittenen Schluchten und Täler hinunterstürzen. Alles deutet daraufhin, daß der Dichter es bei dem akustischen Eindruck bewenden läßt und keinerlei Anstrengung unternimmt, das sogenannte Naturschauspiel eines Fließgewässers im freien Fall auch in Augenschein zu nehmen. Ein ander Mal wandert er im Gebirge, nur zu seiner Linken, über dem von Weg aus nicht sichtbaren Bachlauf schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund. Von einem Versuch, vielleicht doch einen Blick auf das fließende Wasser zu erhaschen, wird nicht berichtet. Dann, bei schon einfallender Dunkelheit in der Ebene angelangt, blieb er lange auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern stehen und horchte auf das gleichmäßige Rauschen der Ach. Sehen kann er offenbar bereits kaum noch etwas, und so erfahren wir nichts über den Verlauf des Fließwassers, seinen Grund, seine Tiefe, die Ufergestalt. Monate zuvor war er in Verona unter den Bäumen der Uferpromenade den Adige entlangspaziert und war ab und zu stehengeblieben, um ein wenig auf den Fluß hinabzusehen. Vom Hund, der ihn begleitet, erfahren wir immerhin, er habe versonnen auf das fließende Wasser geschaut, von den gewässerbezogenen Eindrücken des Spaziergängers erfahren wir nichts.

Schwer beladen bis zur Bordkante im Wasser zogen die Kähne vorbei. Rauschend tauchten sie aus dem Nebel auf, durchpflügten die aspikgrüne Flut und verschwanden wieder in den weißen Schwaden der Luft: ein eindrucksvolles Wasserbild, aber die Kanäle Venedigs lassen sich nicht als Fließgewässer einordnen. Durchweg werden die stehenden Gewässer bevorzugt. An einer Wegkehre sah ich in die Tiefe hinunter und erblickte die dunkeltürkisgrünen Flächen des Fernsteinsees und des Samaranger Sees, die mir schon in der Kindheit wie der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit vorgekommen waren. Und gar der Gardasee: Am jenseitigen östlichen Ufer stieg der Abendglanz immer höher hinauf. Der ganze dunkelglänzende See lag jetzt still da. Die in ihrer Gewaltigkeit ungeheure Schattenwand ragte so steil und hoch auf, daß man meinte, sie neige sich und könne, im nächsten Augenblick, in den See hineinstürzen. Selbst der unscheinbare Brackwassersee entfaltet einen stillen Zauber, an diesem Tag konnte man glauben, man schaue hinein in die Ewigkeit. Das Himmelsgewölbe war leer und blau, kein Hauch regte sich in der Luft, wie gemalt standen die Bäume, und nicht ein einziger Vogel flog über das samtbraune Wasser.

Eine bewußte Bevorzugung der stehenden gegenüber den fließenden Gewässern ist nicht anzunehmen, eher denkt man an die eingestandene Vorliebe des Dichters für die langsamen, nahezu stehenden Sätze in der Musik. Ich riß das Fenster herab. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Kopf und dachte an die Zerstörungen, die im Friaulischen vor wenigen Monaten erst sich zugetragen hatten. Und haben wir nicht erst in diesen Tagen erlebt, daß harmlose Bäche und Flüßchen wie die Ache ganze Ortschaften fortgeschwemmt haben. Die Wasserfälle am Fernpaß verwandelt der Dichter gleichsam in stehende Gewässer, es erstaunt ihn die schleierhafte Zeitlupenhaftigkeit der unverändert herabstürzenden Bäche, so als ständen sie still vor der Felswand.

Donnerstag, 20. Oktober 2016

Grußkarte

Puenty nie ma

Im Spiegel der Flurgarderobe steckte eine Visitenkarte mit einer Nachricht: Have gone to Ithaca. Yours ever – Ambrose. Die Visitenkarte ist als Bild in den Text eingefügt, die Abbildung enthält aber abgesehen von der New Yorker Anschrift des Ambros Adelwarth keine weiteren Nachrichten, so daß wir nur flüchtig darauf blicken. Was aber, wenn wir das Kärtchen auf dem Tisch eines Kaffeehauses finden würden, der Gast, der zuvor an dem Tisch gesessen hatte, ist gerade zur Tür hinaus. Auch dann würden wir das Kärtchen wohl nur ratlos eine Weile hin und her drehen, beschließen, daß mit Ithaca eher die amerikanische Stadt als die griechische Insel gemeint ist, um es dann beiseite zu legen; die Angaben sind einfach zu knapp, um ins Träumen zu geraten, jeder New Yorker kann schließlich dann und wann in das genau 222 Meilen entfernte Ithaca fahren oder fliegen, zu welchem Zweck und mit welchem Vorhaben auch immer.

Szczepan Twardoch erzählt vom antiquarischen Kauf eines Hegelbuches, in der er eine halbierte Weihnachtsgrußkarte findet, der Teil mit der Anschrift ist abgeschnitten, erhalten der Textteil. Auf der Bildseite sind die Farben garstig, die Motivgestaltung wenig geschmackvoll. Auf der Rückseite als Anrede ein männlicher Name in einer Koseform, dann der Text: ich kann Dir kein Geschenk schicken, aber es gibt keinen Augenblick, in dem ich in Gedanken nicht bei Dir bin. Lies in einer freien Minute René Chars Commune présence. Ich bin die Deine geblieben. Abschließend ein nicht eindeutig zu entziffernder Frauenname. Jeder Satz, jede Wortgruppe wirft Fragen auf, alle Antworten bleiben ihrerseits fraglich, gleichwohl bewegen wir uns auf einem gestalteten und weitaus engerem Sinnfeld als bei der Ithacanachricht.

Wer schreibt wem, eine Ehefrau ihrem Mann, eine Frau ihrem Geliebte, eine Mutter ihrem Sohn – zur letztgenannten Möglichkeit paßt die abschließende Formel nicht recht, aber wer weiß. Warum ist man getrennt – darauf sind die möglichen Antworten endlos. Ist man für eine kurze Zeit getrennt oder für eine längere – wieder mit Hinblick auf die Schlußformel für eine längere Zeit wohl schon. Wer von den beiden ist nicht am Ort – man denkt zuerst an sie, sicher aber ist das keineswegs. Warum kann sie kein Geschenk schicken – fehlen ihr die Mittel, die Einkaufsmöglichkeiten, ist sie durch eine Krankheit ans Haus gebunden? Wie paßt die recht geschmacklose Karte zu dem feinsinnigen wenn auch äußerst kraftvoll gebauten französischen Lyriker – vielleicht war eine gediegenere Karte nicht aufzutreiben. War der Eigner des Hegelbandes der Adressat, oder hatte das Buch nicht zum ersten Mal den Besitzer gewechselt?

So wenig sich auch nur eine der Fragen sicher beantworten läßt, so sicher haben wir den Eindruck eines schönen Seelenbezirks in widrigen Umständen. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Omen, wenn der Hegelband samt der halben Grußkarte, Jahre später offenbar, in den antiquarischen Handel gelangt ist? Bei Adelwarth wird das schlimme Ende mit allen Umständen erzählt, hätten wir aber nur das Kärtchen und nicht das Buch, gäbe es keinen Grund Schlimmes anzunehmen. Puenty nie ma, eine Pointe gibt es nicht, schließt Twardoch gern seine Beobachtungen.

Freitag, 14. Oktober 2016

Großvater

Behütet
Mützen und Kappen aller Art sind an der Tagesordnung, Hüte nicht, wer einen Hut trägt, fällt auf und will auffallen. Das war anders zu Zeiten des Großvaters, der, wie andere damals auch, fast immer seinen Hut getragen hat. Wenn er am Morgen aus der Haus trat und zuerst stehenblieb, um nach dem Wetter zu schauen, hatte er den Hut bereits auf. Allerdings trug er den Hut nicht ausnahmslos, sondern nach einer strengen, wenn auch nicht leicht lesbaren Ordnung. Beim Kartenspielen mit der Mathild Seelos hatte er immer den Hut auf dem Kopf. Erst wenn mit dem Spielen aufgehört wurde und die Mathild in die Küche hinausging, den Kaffee zu kochen, nahm er den Hut ab. Das Kartenspiel galt wohl als ernste Arbeit, auf die dann die Erholung folgte. Den Kaffee der Mathild zog er dem häuslichen Milchkaffee vor. Den Milchkaffee, der auf dem Herdschiffchen eigens für ihn warmgehalten wurde, verabscheute er regelrecht und goß ihn nach und nach, wenn die Mutter grad nicht hersah, in den Ausguß. Befördert auch durch die Ähnlichkeit der Statur, denkt man an Gary Cooper in The Friendly Persuasion, es ist seine Frau, eine Quäkerin strenger Observanz, die er in kleinen Dingen ein ums andere Mal behutsam hinters Licht führen muß. Das Kartenspiel, um darauf zurückzukommen, verlief, abgesehen von den unerläßlichen kurzen Ansagen und Kommandos, so gut wie stumm, der Kaffee war dann Untermalung ausgedehnter Gespräche zwischen der Mathild und dem Großvater. Offenbar bestand zwischen den beiden eine Seelenverwandtschaft. Der Enkel saß dabei, konnte sich aber von dem, was erörtert wurde, nur die unzulänglichsten Vorstellungen machen. Der Enkel war auch sonst oft dabei, wenn der Großvater unterwegs war, überallhin hat er ihn mitgenommen. Oft sind sie für eine kurze in eine der zahlreichen kleinen Kapellen in der Gegend eingetreten und noch heute erinnert er sich an die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten ebenso wie an die in ihren Inneren herrschende vollkommene, man möchte sagen berauschende Stille. Der Großvater war es auch, der, gerade vom Wegmachen hereingekommen, die Nachricht überbrachte, daß man den Jäger Schlag eine gute Stunde außerhalb seines Reviers, auf der Tiroler Seite, auf dem Grund des Tobels liegen gefunden habe, tot; eine Sensation für die ereignisarme Gegend. Wenig später, im November, ist dann der Junge an Diphterie erkrankt. Das Krankenzimmer wurde in eine Quarantänestation verwandelt, die Fenster mußten zumindest tagsüber weit offenstehen, und manchmal hat es hineingeschneit. Der Großvater ist die ganze Zeit in einem schweren Überzieher am Krankenbett gesessen, mit dem Hut auf dem Kopf, diesmal nicht der Ordnung, sondern der Kälte halber. In der Obhut des Großvaters fühlte der Junge sich wohl und behütet.

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Fleisch und Blut

Hoc est enim


corpus meum, hic est enim calix sanguinis mei: Als der Priester sich anschickte, die Kommunion auszuteilen, die für ihn immer der ungeheuerste Teil der Liturgie gewesen ist, hat er die kaum erst betretene korsische Kirche wieder verlassen. Was ist so ungeheuer an der Liturgie und besonders an der Kommunion und welche seiner vielen Bedeutungen hat das Ungeheure hier?

In den Augen Girards hat der Christus eine Art Schubumkehr in der Menschheitsgeschichte eingeleitet. Während bis dahin der immer neu aufkeimende mörderische Grimm in den Horden, Sippen und Stämmen nur durch die periodisch wiederkehrende Opferung eines der Schuld bezichtigten Unschuldigen gezügelt werden konnte, habe der Christus durch sein Sterben die Unschuld des Opfers offenbar gemacht, nachdem er schon zu Lebzeiten wichtige Hinweise gegeben hatte, wie der Zorn und Haß unter den Menschen auf andere Weise gezähmt werden könne. Diese Lesart besagt naturgemäß nicht, die alte Welt sei daraufhin verschwunden, das ist sie bis heute nicht. Im Abendmahlssakrament selbst ist leicht der rituelle Kannibalismus der Vorzeit erkennbar. Während sich der Dichter zur Ungeheuerlichkeit der Kommunion nicht näher äußert, wird er gelegentlich der Besprechung von Rembrandts Prosekturbildes umso deutlicher, was die Fortdauer der archaischen Einstellung zu Fleisch und Blut in der tendenziell gottlosen Moderne anbelangt: Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Die Ähnlichkeit mit der fortgesetzten Zerstückelung des Leibes Christi während der schon vieltausendfach schon erteilte Kommunion ist unübersehbar.

Welcher Art aber ist der Leib der bei der Kommunion immer wieder zerstückelt und verteilt wird. Bereits Dante hatte sich aufwendige Gedanken zu den Leibeigenschaften der Bewohner seiner drei Jenseitssphären gemacht. Zumal die Höllenbewohner wären mit ihrem natürlichen Leib, dem der ihre täuschend ähnlich sieht, den ihnen zugedachten Strapazen für keinen Augenblick gewachsen gewesen und gleich aufs neue verschieden. Auch für den wiedererstandenen Herrn sind die natürlichen Leibeigenschaften von Fleisch und Blut nicht länger anzunehmen, so daß der interkonfessionelle Streit über den Realismus der Wandlung im Grunde überflüssig ist, der neue Leib des Herrn tilgt den Unterschied zwischen dem alten Leib und der Hostie.

Der venezianische Astrophysiker Malachio hatte in letzter Zeit viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Es bleiben die Gebeine, die Leiber wären nach einiger Zeit verschwunden und mit ihnen die schwierige Frage nach dem Fleisch und dem Blut und der Wandlung, die noch schwierigere Frage der Wiederauferstehung wird dadurch aber nicht leichter. Antworten habe er, Malachi, denn auch nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich schon die Fragen.

Sonntag, 9. Oktober 2016

Hammer

Bahnhofsvorplatz

Hammer betrat den Bahnhofsvorplatz, fröhlich schien die Spätaprilsonne. Zunächst aber ging er zurück in das Innere des leeren Gebäudes und wanderte treppauf und treppab eine geraume Zeit darin herum, bis er das Pissoir gefunden hatte. Beim Händewaschen betrachtete er die Graffiti neben dem Spiegel, Il cacciatore stand da, rechts daneben Berlinguer ti amo, darunter Merda, links, besonders rätselhaft, MOSCH. Zirka eine halbe Stunde ist er dann auf dem Bahnhofsvorplatz gesessen und hat einen Espresso und ein Wasser getrunken. Es war schön sitzen im Schatten und ruhig in der Mittagszeit. Das Mädchen im Zug war von vollendeter Schönheit gewesen, una dolce madonna bionda. Besonders hatte er den tiefen Ernst bewundert, mit dem sie die Blätter des Buches umwendete, in dem sie las. Er würde heute nicht nach Mailand weiterreisen. Auf dem Platz dösten ein paar Taxifahrer in ihren Taxis und hörten Radio. In dem Wagen vorn in der Reihe saß eine schwarzhaarige Fahrerin, die ihn in einer Viertelstunde in die Oberstadt brachte und vor der Goldenen Taube, nein, dem Goldenen Lamm, Agnello d’Oro, absetzte. Dem Hotel vorgelagert war ein Brunnen, Wasser von sich plätschernd. Die imposante Empfangschefin saß klafterbreit in der Rezeptionsabteilung, inmitten eines Flurs, der Hammer auf den ersten Blick äußerst rötlich und recht überladen dünkte. Schon war er einquartiert, Zimmer Nr. 23, Fahrstuhl bis zum vierten Stock. Hammer sah aus dem Fenster. Unter dem Kammerfenster stand ein kleiner brauner Schreibtisch, er legte ein Paar Bücher aus dem Koffer drauf und Schreibgerät. Bald verließ er das Hotel wieder und eilte gassenaufwärts. Schon war der Stadtplatz erreicht. Hammer trat etwas zur Seite, um einen eigensinnig schnurgerade vorwärts strebenden Schäferhund ohne Komplikationen passieren zu lassen. Unversehens aber kehrte der Hund um und begann ihm zu folgen. Blieb er stehen, um ein wenig auf die Unterstadt herabzusehen, so hielt auch der Hund ein und schaute versonnen hinab. Ging er weiter, machte sich auch der Hund wieder auf den Weg. Als Hammer aber eine breitere Straße überquerte, blieb der Hund an der Bordsteinkante zurück, und als Hammer sich mitten auf dem Corso nach ihm umwandte, wäre er um ein Haar überfahren worden. Hammer ist nicht der geringste unter den bedeutenden Italienreisenden, an Goethe reicht er naturgemäß nicht heran.

Sonntag, 2. Oktober 2016

Abendmahl

Chiaroscuro


Allen verfügbaren Hinweisen zufolge hat der Dichter nach dem Ende seiner Kindheit nie wieder eine Kirche während der heiligen Messe betreten, auf Korsika durchbricht er die Regel. Die Kirchentür ist offen, drinnen wird die Messe gelesen. Er stellt sich in die letzte Reihe. Die Gemeinde besteht fast nur aus alten, schwarz gekleideten Frauen. Der junge Priester hingegen ist großgewachsen, hat ein auffallend markantes Kinn und einen militärischen Haarschnitt. Er blickt hinauf zu den an das Tonnengewölbe gemalten Fresken, kann aber nichts erkennen. Als der Priester sich anschickt, die Kommunion auszuteilen, die für ihn immer der ungeheuerste Teil der Liturgie gewesen ist, geht er hinaus. Warum ist ihm, als er aufschaute zu den Fresken, nicht Tiepolo in den Sinn gekommen, an den er so oft schon gedacht hat. Als er nach Italien einreist, hat er Tiepolos Santa Tecla libera Este della peste vor Augen, bei der Rast in der Krummenbacher Kapelle sieht er vor seinem inneren Auge Tiepolo zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen, wie er trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur einträgt, und zusammen mit Aurach beugt er sich über einen Bildband, der die Wunderwelt des Würzburger Deckengemäldes ausbreitet. Warum also kein Gedanke an Tiepolos Ultima cena?

Der flüchtige erste Blick sieht in Tiepolos Werk vielleicht gar keine Abendmahlsdarstellung. Die klassischen Darstellungen, man nehme etwa Giotto, zeigen eine kompakte, eng gefügte Gruppe aus Heiland und Jüngern, bei Bassano ist es ein rechtes Gedränge und Getümmel der Leiber. Hier ist es eine überwiegend in recht entspannter Haltung locker um den Tisch gescharte Versammlung mit reichlich freien Plätzen, rechts und links vom Tisch ahnt man viel freien Raum, nach oben hinaus umso mehr. Es ist nicht recht klar, ob man in dem palastähnlichen Gebäude tafelt oder davor auf einer Art Veranda. Keine Spur der Flora ist zu sehen, die Fauna ist durch einen Hund am unteren Bildrand vertreten. Der helle Sandstein des Gebäudes, der durch die vier dunkelgrünen Säulen nur noch lichter wirkt, bestimmt den Ton, davor die farbenträchtigen Kleider der Tafelnden. Wollte man die Prosa des Dichters in Farben beschreiben, käme man zu einer ähnlichen Palette. Um den Christuskopf leuchtet die Sandsteinfarbe aufgrund eines momentanen Lichtspiels – vielleicht hängt es zusammen mit der im Hintergrund herabhängenden Plane – um einige Grad intensiver. Zwei ebenso steinerne wie liebliche Frauen blicken von hinten auf die Versammelten und beheben das Bedrückende, das reine Männergesellschaften unvermeidbar an sich haben. Bei dem Apostel an der rechten Tischseite kann man nicht sicher sein, ob er den Christus oder aber, hinten an der Säule vorbei, die links plazierte Schöne betrachtet. Mit dem Mahl, das ohnehin seinem Ende entgegen zugehen scheint, ist er, so wie er sich zurückschiebt vom Tisch, offenbar schon fertig. - Ein Bild von nahezu unmerklich sakral veredelter Weltlichkeit, das alles Ungeheuerliche der Abendmahlsliturgie vergessen läßt.

Der Dichter denkt nicht an Tiepolo und schwer wäre es auch, beim Blick in das dunkle Tonnengewölbe der korsischen Kirche Tiepolos lichtes Bild sich vorzustellen. Die Häuser der Altstadt draußen sind in einem bösen Zustand. Aus schwarzen Eingängen und Mauerlöchern schauen die mageren korsischen Katzen hervor, stumm und klug, schwarz wie die alten, schwarz gekleideten Kirchgängerinnen.

Donnerstag, 22. September 2016

Trinkerinnen

Sinnenfreude

Über die Anna Seelos erfahren wir noch weniger als über die Rosina Zobel und das wenige liegt in einem Nebel von Gerüchten und Mutmaßungen, die wir fortspinnen müssen. Die Anna hat ihre Tage beim Kaffeesieden verbracht, das sie auf die türkische Art vornahm. Auf wieviel Tassen täglich wird sie es bei diesem ihren einzigen Zeitvertreib gebracht haben? Sie war eine schwere, langsame Frau und die türkische Art ist vergleichsweise zeitaufwendig. Nichts weist auch darauf hin, daß sie, die seit dem Tode ihres Mannes allein wohnte, über das Kaffeesieden die allgemeinen Haushaltspflichten vernachlässigt hätte, so daß die hohen Stückzahlen, wie sie Balzac oder Edgar Wallace zugeschrieben werden, eher nicht erreicht wurden. Wenn es zunächst heißt, sie habe die türkische Art der Zubereitung von ihrem Mann erlernt, der als erfolgreicher Baumeister längere Zeit auch in Konstantinopel verbracht hatte, und dessen Andenken sie auf diese Weise zu ehren wußte, wird später erwogen, die orientalische Kaffeekunst habe sie womöglich erst später von dem jungen Türken Ekrem übernommen, der sich in dem Büro des verstorbenen Baumeisters eingerichtet hatte, verbunden naturgemäß mit der unausgesprochenen Frage, ob es bei dem Verhältnis zwischen der Anna und dem Ekrem ausschließlich um den süßen Mokka gegangen ist. Daß Annas Tochter Lena beizeiten mit einem Kind Ekrems niedergekommen ist, macht diese Erwägungen nicht gegenstandslos, nicht zuletzt im ländlichen Raum ist die Sinnenfreude so allgegenwärtig wie ansonsten nur die drückende Last des Lebens.

Für Rosina Zobel stand Kaffee nicht obenan auf der Liste. Nachdem sie die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, hielt sie sich den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube auf. Entweder sie saß in ihrem Ohrensessel, das Weinglas in der Hand, oder sie ging mitsamt dem Glas hin du her, oder sie lag auf dem Kanapee. Ihre beiden Kinder sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Tochter mit dem schweren Trinken angefangen hat und nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hat. Kurios ist, daß man sie nie bei einer Arbeit sah, weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen, ein wahres Rätsel, da weder von einer Haushaltshilfe etwas bekannt noch auch eine besondere Verwahrlosung auffällig war. Die undurchsichtige Situation wird noch weitaus undurchsichtiger dadurch, daß im Hinterzimmer der an einer mysteriösen Wunde leidende Mann der Rosina als Pflegefall bettlägrig sein sollte, wo doch die Rosina ganz offensichtlich zur Pflege weder willens noch imstande war. Fast schon denkt man an den grauen Jäger, der im Haus der Mathild Seelos angeblich den Dachboden bewohnte und sich im nachherein als eine Kleiderpuppe erwiesen hat, der man ein Jägergewand übergeworfen hatte. Tatsächlich wird es auch dem Dichter rückblickend immer unwahrscheinlicher, daß es den Engelwirt tatsächlich gegeben haben soll, wenngleich genauere, vor Ort angestellte Nachforschungen daran angeblich keinen Zweifel ließen. Wie zuverlässig aber waren die Nachforschungen und vor allem: für welche Dauer konnte die Liegezeit des kranken Wirtes bestätigt werden?

Selten nur wirft der Dichter einen tieferen Blick in die Abgründe von Ehe und Familie, und hier, bei den beiden Trinkerinnen, lassen sich die Gerüchte und Mutmaßungen fortspinnen, ohne daß die Wahrheit klar aufscheint. Je nach Temperament wird man einer freundlichen oder einer weniger freundlichen Annahme zuneigen. In der freundlichsten Annahme hat die Anna ihm, dem toten Gatten, über die Jahre hin in der Gestalt ungezählter Tassen türkischen Mokkas ein fortwährend fließendes Denkmal gesetzt, die Rosina hat ihren kranken Mann über die Jahre hin ebenso liebevoll wie unauffällig gepflegt. Die härteste Annahme wäre, der Ekrem war auf zwei Ebenen und sozusagen schon im Bereich der Blutschande tätig und bei der Rosina ist irgendwann etwas in der Art geschehen, wie wir es, nicht ohne Schaudern bei der bloßen Erinnerung, aus dem Kinofilm Das Fenster zum Hof kennen. Wer im Bereich der Kunst vornehmlich an Darstellungen der Schlachtung des Holofernes bei Caravaggio und anderen Gefallen findet, wird sich für die härteren Annahmen entscheiden, wer gern vor den Bildern Ludwig Richters verweilt für die freundlichen. Naturgemäß sind Freunden der Mitte mittlere Lösungen nicht verschlossen.

Dienstag, 13. September 2016

Geschäftsmodelle

Wandel


Wohl auf Betreiben des Baptist, der seine ledigen Schwestern versorgt sehen wollte, hatten die Babett und die Bina das Café Alpenrose aufgemacht, in das aber nie jemand hineingegangen ist; Touristen gab es zu der Zeit so gut wie keine und für die Einheimischen ging von den Schwestern, von denen die eine mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend fortwährend im Haus und im Garten herumgelaufen ist, während die andere den ganzen Tag in der Küche gesessen und Geschirrtücher zusammenfaltet hat, kein Anreiz aus. Heute würde man von einem nicht tragfähigen Geschäftsmodell sprechen. Vermutlich hatte der Baptist Seelos, der ein erfolgreicher Baumeister gewesen war, den Schwestern obendrein noch hinreichend Kapital hinterlassen, um davon ihr Leben zu fristen. Als weitaus geschäftstüchtiger zeigte sich die Frau Unsinn, die das Konsumgeschäft am Ort führte. In der Auslage hatte sie eines Tages eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Die Sanellapyramide ragte hinein in die Zukunft und im Geiste baute man sie höher und höher, so hoch, daß sie schon bis in den Himmel hinauf reichte. Von dem Supermarkt oder dem Discounter, der wohl bald schon in der nächstgrößeren Ortschaft eröffnen und auch ihr Geschäftsmodell gefährden würde, ahnte Frau Unsinn da noch nichts. Die Grundlage der Ökonomie in ländlichen Gegenden war ohnehin nicht die Gastronomie oder der Einzelhandel, sondern Land- und Forstwirtschaft. Die Bauern und Holzknechte sehen wir allerdings nicht bei der Arbeit, sondern in einem übel beleumundeten Wirtshaus, wo sie bis tief in die Nacht hinein hockten und tranken, oft bis zur Besinnungslosigkeit. In einem späten Gespräch versichert der Dichter, dank der Agrarpolitik der EU seien die Bauern mittlerweile schweinereich geworden, eine Wortwahl, die Zufriedenheit mit diesem Zustand nicht zum Ausdruck bringt. Dabei hatte die Entwicklung fraglos zur Verfeinerung der Sitten beigetragen und unter anderem das Wirtshaus gezwungen, sein Geschäftsmodell umzustellen und sich aus einer Spelunke in eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit zu verwandeln. Aber auch das verbucht der Dichter seltsamerweise nicht auf der Habenseite. Noch weniger beeindruckt es ihn, daß die Bauern- und Waldarbeiterschaft schon früh zu einer Brutstätte der Kunst geworden war. Der Maler Hengge war in den 30er Jahren auf dem Höhepunkt seines Ruhmes gestanden und bis nach München hinaus bekannt gewesen. Überall in W. und in der weiteren Umgebung konnte man an den Hauswänden seine stets in braunen Farben gehaltenen Wandmalereien sehen, die von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, nur dann abgewichen, wenn ihm ein besonderer Gegenstand ausdrücklich vorgegeben war. Der Maler Hengge war sehr wohl imstand, sein Repertoire auszuweiten. Doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt. Auch die alten Meister, so möchte man diesen spöttischen Anmerkungen entgegenhalten, hatten in der Regel aus der Auftragsarbeit heraus zu ihrem überragenden Kunstsinn gefunden. Das Schreibwarengeschäft des alten Specht, der nicht mehr unter den Lebenden ist, wird heute noch von der Frau des Lukas Seelos weitergeführt. Von den anderen Kleingewerbetreibenden und Dienstleistern, dem Uhrmacher, dem Bader, dem Schmied, dem Bäcker haben wir keine Nachrichten für die Neuzeit. Die akademischen und beamteten Dienstleister, Ärzte, Lehrer, Pfarrer, werden sicher geeignete Nachfolger gefunden haben.

Samstag, 10. September 2016

Gedankenverloren

Buenos Aires

Selysses bewundert die Größen des Schachspiels, immer wieder habe es in der Geschichte des Schachs solche gegeben, die ihrer Spielmanie praktisch ihr ganzes Leben geopfert haben, arabische Kalifen, spanische Könige, böhmische Kaffeehausspezialisten, deutsche Mathematiker, Juden in Brooklyn und in den Vorstädten von Buenos Aires. Bei den wahrhaft dem Schach Verfallenen wechselte das Spielen auch ständig ab mit dem Analysieren des Spiels und dem Versuch, so etwas wie eine höhere Schachtheorie auszubilden, Kohtz, Kockelhorn und Gelbfuß, Musil, Traxler, Tarrasch und viele andere, sie alle waren auf die eine oder andere Weise bestrebt, die Fehler in den überlieferten Strategien zu finden und ein neues, zuverlässigeres Repertoire zu erstellen. Das eigene Spielvermögen schätzt Selysses als sehr dürftig ein. Kaum je erkenne er die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich ihm anbieten, kaum je sehe er weit genug voraus. Immer habe er beim Schachspielen wie auch beim Schreiben das Gefühl gehabt, daß seine Denkfähigkeit völlig unterentwickelt sei.

Im Tonfall der Schilderung glaubt man ein gewisses Einverständnis mit dem eigenen Unvermögen, wenn nicht gar ein Wohlgefallen an ihm herauszuhören und, so können wir uns fragen, wäre Virtuosität am Schachbrett dem Dichter überhaupt förderlich und ist er bei seiner Schreibtätigkeit nachhaltig auf das Denken angewiesen? Denken wird überschätzt, hat Luhmann lapidar wissen lassen und hätte wohl gern bestätigt, daß das nicht zuletzt auch für Kunst und Literatur gilt. Blumenberg hat Denken gar als Abnormität gekennzeichnet: Nicht zu denken ist durchaus normal, was immer Berufsdenker darüber denken und von anderen verlangen mögen. In der fraglosen Lebenswelt wird habituell nicht gedacht. Wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken. Und hatten nicht die Bilder Pisanellos haben im Dichter vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen?

Das Schachbrett und die Figuren hinter sich lassend, durchstreift er gedankenverloren die Täler und Höhen der Inselwelt. Frohgemut ist er dahingegangen unter den hundert Fuß und mehr aufragenden, von sonderbaren Sträußen gekrönten Lariziokiefern. Wie von selbst, gedankenlos, fügte sich das Wahrgenommene zu Worten, Sätzen und Bildern. Das stille Strömen in den Zweigen und Nadeln hoch oben war wie das Rauschen in einer Muschel und selbst kam man sich vor wie ein Taucher, der sich mit halb schwebenden Schritten bewegt über den Boden des Meers. Von einem seltsamen Fließen umgeben war er in einer anderen, gleichsam submarinen Zeit, in der alles viel langsamer sich abspielte, ohne Anstrengung, mit einer im wirklichen Leben nie zu erreichenden Leichtigkeit. Hie und da gestreift von dem in unsichtbaren Schleiern durch die Kühle des Waldes hängenden Harz- und Modergeruch ging er mehrere Stunden bergan.

Freitag, 9. September 2016

Untröstlich

Wo ist dein Stachel

Der Dr. Rambousek mußte zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden, einer auch sonst im Werk des Dichters erheblich verbreiteten Menschengattung. Ob einzelne Berufsgruppen besonders anfällig sind, läßt sich schwer sagen, Dr. Rambouseks Kollege am Ort, Dr. Piazolo, der offenbar beschlossen hat, im hohen Alter irgendwann im Sattel seiner Zündapp zu sterben, steht, voller Lebenskraft und Zuversicht, jedenfalls am entgegengesetzten Pol. Besonders dünn ist die empirische Decke, wenn es um die Beurteilung der Sicherheitskräfte geht. Eine Polizeistation gab es nicht im Heimatort W., frühe Erfahrung ähnlichen denen mit den Medizinern, fehlen. Der Carabiniere, dem die Taxifahrer auf dem Bahnhofsvorplatz von Desenzano zusetzen, mag für den Augenblick trostbedürftig sein, aber um Augenblicke geht es nicht. Postenkommandant Dalmazio Orgiu dann später, mit seiner Rolexuhr und dem schweren Goldarmband am rechten Handgelenk, gibt, schwungvoll wie er das Dokument aus der Walze reißt, keine Anzeichen von Trübsinn zu erkennen, der äußere Eindruck mag täuschen, naturgemäß. Bei der Verfolgung der Untaten der Gruppe Ludwig treten keine individuellen Ermittler in Erscheinung, der Raubversuch vorm Mailänder Bahnhof bleibt ohne Anzeige und auch nach der Messerattacke in nächtlichen Den Haag werden anscheinend keine polizeilichen Untersuchungen aufgenommen. Greift man angesichts des kargen Ergebnisses zur umfänglichen Fachliteratur, dem Kriminalroman, erweisen sich nicht wenige Ermittler als von der Melancholie befallen, Rubem Fonsecas Comissário Mattos einer der untröstlichste von allen.

Mattos fällt der Umgebung weniger durch Untröstlichkeit auf als durch seine, glaubt man Fonseca, völlig aus brasilianischer Polizistenart geschlagene Unbestechlichkeit. Untröstlichkeit, Unbestechlichkeit, das ist bei genauer Betrachtung ein- und dasselbe. Mattos' Ehrlichkeit nährt sich nicht aus der Kantischen Ethik und beruht auch nicht auf einem gesteigerten Moralbewußtsein. Er hat einfach kein Interesse an den Vorzügen der Bestechlichkeit, wer nicht zu trösten ist, kennt keine Gier. Fehlendes Verlangen ist nicht gleichzusetzen mit umfassender Gleichgültigkeit, seinen Beruf übt Mattos, ohne irgend von ihm überzeugt zu sein, mit zäher Gradlinigkeit aus. Man denkt an den untröstlichen Aurach, der sich auf seinem ganz anders gearteten Betätigungsfeld ebenso verhält, zehn Stunden täglich im Atelier, sieben Tage die Woche, ohne Trost zu finden dabei. Trost findet er eher schon beim Verzehr der zuverlässig grauenhaften Mahlzeiten allabendlich im Wadi Halfa. Mattos, der an einem Magengeschwür leidet, ist auch diese Freude versperrt. In einem gewissen Umfang ist er ein Liebling der Frauen, diesen seltsamen, auf den Namen Alice, Laura oder Salete hörenden Wesen, findet aber auch daran keine rechte Freude. Ein weiterer Ableger der Untröstlichkeit ist die mangelnde Todesfurcht. Nicht durch Verwegenheit zeichnet sich Mattos aus, sondern durch völlige Unbeirrtheit auf seinem Weg. Ehrlichkeit im Verein mit Unbeirrtheit bedeuten, so wie die Dinge liegen in Fonsecas Brasilien, unweigerlich den Tod. Uns fällt es schwer, Abschied zu nehmen vom Comissário Mattos.

Donnerstag, 1. September 2016

Far West

Müdigkeit

Wer beim Besuch des Café des Sports in Avisa an Sergio Leone denkt, entfernt sich nicht vom Dichter, der selbst bei anderen Einkehrstationen auf Korsika die Stimmung der Westernfilme spürt: Es war als befinde man sich irgendwo im Wilden Westen, an einem gottverlassenen, von Mord- und Bluttaten ruinierten Ort, an dem nichts mehr sich rührt als bloß der Grasbüschel und Staubwolken über die Straße treibende Wind. Es beginnt bereits auf dem Flugfeld, dabei muß man sich vor Augen halten, daß Flugbetrieb zwar nicht im klassischen, wohl aber im sogenannten Spätwestern durchaus seinen Platz hat. Mancher mag sich etwa dunkel an den Film erinnern, als Mitchum zur Unterstützung von Pancho Villa in einem Doppeldecker über Mexico kreist. Der zum Flugfeld gehörende Saloon hatte gerade erst geöffnet, der Barkeeper hinter der Theke sah aus, als hätte er soeben noch im Bett gelegen. Das Haar am Hinterkopf plattgedrückt, die Augen zur Hälfte geschlossen, stapelte er mit traumverlorenen Bewegungen Teller und Tassen auf seine Kaffeemaschine. Ein zweiter, ebenso verschlafener Mensch, dem der Hemdzipfel aus der Hose hing, wischte mit einem Fetzen die Tische ab und ein Bäcker, der mehlüberstäubt wie er war, einem vom ersten Gegenlicht überraschten Gespenst glich, brachte auf einer mit Papier ausgelegten Plane den Tagesbedarf an Stangenbrot und Croissants herein. Später stößt der Reisende, nachdem er stundenlang über Land geritten ist, auf eine Wirtschaft, die zu einer kleinen Ansammlung mehr oder weniger verlotterter, auf keiner Karte verzeichneter Häuser gehörte. Hier regiert Schweigen und eine grenzenlose Müdigkeit. Der Wirt saß, unrasiert und in einem Zustand totaler Apathie auf der hölzernen Veranda und auch die Wirtin, die unter der Tür lehnte, schien todmüde zu sein. Wortlos nahm sie die Bestellung entgegen, wortlos verschwand sie im Dunkel des Innenraums, wortlos kam sie nach einer gewissen Zeit daraus wieder hervor und brachte einen Teller mit ein paar Salatblättern und etwas weißem Käse. Sämtliche Läden der anderen Häuser waren geschlossen, nichts rührte sich, bloß der Grasbüschel und Staubwolken über die Straße treibende Wind

Verboten

Als sei nichts geschehen

Dem Jungen war es verboten, in den Dachboden hinaufzusteigen, wo, wie ihm die Mathild mit der ihr eigenen Überzeugungskraft beigebracht hatte, der graue Jäger logierte. Wenn die Mathild den Jungen überzeugen konnte so sicher nicht die Leser, und viele Jahre später erweist sich der Jäger als eine mit einem hechtgrauen Jägeranzug angetane Kleiderpuppe. Warum aber, so fragt man sich, wurde dem Jungen der Aufstieg in den Dachboden verwehrt? Vielleicht ist es die Sorge um seine körperliche Unversehrtheit, niemand weiß schließlich was da lauert an scharfen Ecken und Klingen unter den gelagerten Gerätschaften, den Kisten und Körben, den Schellen, Stricken, Mausfallen und Futteralen, den Truhen, Kommoden und Kästen mit zum Teil offenstehenden Deckeln. Die Bibliothek der Mathild ist vermutlich erst nach ihrem Tod auf den Dachboden verbracht worden, andernfalls könnten dem kindlichen Gemüt mentale Blessuren drohen von den Gebetbüchern mit zum Teil drastischer Abschilderung der uns alle erwartenden Pein auf der einen und den satanischen Traktaten von Bakunin und Fourier auf der anderen Seite. Eigentlich aber gibt es keine Hinweise auf ein ängstliches Gemüt und besondere Fürsorglichkeit bei der Mathild. Eher schon wäre plausibel, daß sie eine Pädagogik des Abenteuers und der Verzauberung verfolgt, und in der Tat haben der graue Jäger und die anderen Jäger, der Gracchus und der Hans Schlag, tiefe Spuren im Empfinden und Denken des Jungen hinterlassen, man möchte sich zu der Behauptung versteigen, ohne den verbotenen Dachboden der Mathild hätte es die Schwindel.Gefühle, hätte es den Dichter nicht gegeben. Man konnte sich leicht einbilden, daß diese gesamte Versammlung der verschiedensten Dinge sich in Bewegung, in einer Art Evolution befunden hatte, und nur wenn Menschen den Dachboden aufsuchten für die Zeit des Besuchs lautlos verharrten als sei nichts geschehen. Auch diese Einbildung verdankt des Dichter der Mathild, denn ohne Zweifel ist dies der wahre Grund des Verbots: die Dinge in ihrer Bewegung hin zu eigenem, unabhängigem Leben vor Störungen zu bewahren.

Freitag, 19. August 2016

Salettl

Lieblinge der Götter

Jung stirbt, wen die Götter lieben, und es ist nicht gesagt, daß es den Götterlieblingen im Leben gut gehen muß. Gerald Fitzpatrick in seiner Begeisterung für die Sterne und das Fliegen war sicher ein Liebling der Götter und bei dem venezianischen Arbeitskollegen Malachi kann man ähnliches vermuten, wenn auch die Belege, angesichts des wenigen, das wir überhaupt wissen von ihm, nicht stringent sind. Das Merkmal des frühen Todes, wenn es denn zutrifft, wird jedenfalls verschwiegen, vielleicht ist Malachi, eine Stufe niedriger, ein bloßer Günstling der Götter. Verwundern jedenfalls könnte es nicht, wenn das ihnen bei der Ausübung des Berufes zugewachsene Vermögen, alles und nicht nur die Sterne aus der größten Entfernung zu sehen, dem Glück der Astronomen förderlich wäre. Ohnehin sind die Sterne selbst das Glück der Götter und, funkelnd wie sie an Kristallschalen geheftet um uns kreisen, das der Menschen gleichermaßen.

Anders als bei den studierten Astrophysikern sieht es aus bei den Sternguckern aus dem Amateurlager. Wäre Ashmans Ahn noch ein Anhänger der Ptolemäischen Kosmologie gewesen, hätte das kaum jemand bemerkt, da er sich als Selenograph so oder so dem letzten Himmelskörper verschrieben hatte, der auch heute noch getreu die Erde umkreist. Zur Astronomie hat den Bewohner von Iver Grove die Schlaflosigkeit gebracht - oder war es umgekehrt? -, wenn der Himmel bewölkt ist, spielt er die ganze Nacht Billard, eine Partie nach der anderen gegen sich selbst. Ein von den Göttern gefördertes Leben stellt man sich anders vor. Der erdnahe Trabant hat vielleicht nicht die nötige Distanz für die Entwicklung des Vermögens, alles aus der größten Entfernung zu sehen. Der Billardspieler stirbt in der Silvesternacht von 1813 auf 1814, das Sterbealter ist nicht bekannt, nichts aber deutet auf einen ungewöhnlich frühen Tod hin.

Weitaus schlechter noch ist es dem Peter Seelos ergangen. Seinen Beruf als Wagner hat er nach und nach aufgegeben. Seine letzte Tat war der Bau des von ihm so genannten Salettls. Dem Dach des Seeloshauses hat er ein Holzgerüst für ein rundum verglastes Observatorium aufgesetzt und den Großteil der ersten Kriegsjahre dort oben zugebracht, indem er die Tage verschlief und bei der Nacht die Sterne studierte. Der Verlust des Nachtschlafes macht den herkömmlichen Astronomen das Leben schwer. Gegen Ausgang des Krieges verschlechterte sich der Zustand des Peter Seelos, bisweilen wandelte er mit einem aus seinen Himmelskarten geschnittenen Umhang im Dorf herum. Schließlich ist er ins Spital nach Pfronten eingeliefert worden, aus dem er aber schon bald wieder entwichen war unter Hinterlassung eines Zettels: Ich bin ins Tirol gegangen. Man ist bis heute nicht auf die geringste Spur gestoßen von ihm und bis auf den heutigen Tag ist nicht bestätigt, daß die Götter den Seelos zu sich gerufen haben.

Sonntag, 14. August 2016

Auf der Stiege

Beyond this point

Auch der allerhöchste der höchsten Berge der Welt erreicht mit seinem Gipfel nicht den oberen Rand des Blattes, die längsten Flüsse aber sind wie bizarre Tiefseeaale emporgeschwommen bis an die Grenze ihres Elements, weiter geht es nicht, Aale müßten ersticken, Flüsse verlören sich ins salzige Meer. Im Frühjahr und Sommer, an trockenen Tagen, sitzt der Junge mit dem Atlas draußen am grünen Tisch in einem Gartensessel, in der schlechten Jahreszeit sitzt er auf dem oberen Absatz der Stiege, dort, dort wo vom Stiegenhausfenster das Licht einfällt. Der Weg die Stiege hinauf ist der Witterung geschuldet und spiegelt zugleich die Aufwärtsbewegung im Bild. Nicht die Berggipfel, über denen sich der Himmel wölbt, spiegeln sich, sondern die Flüsse oder auch Aale, die verstört am undurchlässigen oberen Rand zappeln. Höher zu steigen, in den Dachboden, ist auch ihm untersagt, denn dort, so heißt es, logiere der graue Jäger. Zermürbt wie die Flüsse oder auch Aale vom Aufenthalt an der Grenze, ist er jedesmal erlöst, wenn der Großvater aus dem Kaffeezimmer hervorkam, den Hut auf den Kopf setzte und sich von der Mathild verabschiedete. Als er, längst erwachsen, Jahrzehnte später auf den Dachboden hinaufgeht, findet er neben zahllosen anderen Dingen eine alte Schneiderpuppe, angetan mit hechtgrauen Beinkleidern und einem hechtgrauen Rock, auf dem Kopfholz einen hechtgrauen Jägerhut mit einem grünen Hahnenfederbusch. Kaum berührt er einen der herunterhängenden Uniformärmel, zerfällt dieser zu seinem blanken Entsetzen in Staub. Alte Grenzen verlieren ihren Sinn, neue finden den ihren, unter den Menschen geht das weitaus schneller vonstatten als in den Bewegungen der Erdzeitalter, aber auch die höchsten Berge sind schließlich abgetragen und die mächtigsten Ströme versiegen irgendwann.

Samstag, 6. August 2016

Freitod im Ardennerwald

Lange Weile

Die Wohnzimmereinrichtung entsprach akkurat den Geschmacks- vorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars. Das Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden und so weiter und so fort: Die elterliche Wohnung wird rückblickend einer, wie man sagt, kritischen Bewertung unterzogen, eine rückversetzte Betrachtung mit den Augen des Kindes wäre unergiebig geblieben, dem Kind war die Stube hinter einer Firniß der Selbstverständlichkeit verborgen, besondere Eindrücke konnten sich nicht einstellen. Das war anders bei der Wohnstätte der Seelosschwestern.

In der Regel einmal in der Woche hat der Großvater die Mathild Seelos besucht zum Kartenspiel und zu ausgedehnten Gesprächen und oft hat ihn der Enkel begleitet. Wenn der bei diesen Besuchen lange Weile hat, war ihm doch nie langweilig. Unter anderem zwei als Wohnungsschmuck dienende Bildkunstwerke fesseln seine Aufmerksamkeit. Angesichts der Jugend des Betrachters waren die Gemälde vor einer vermutlich vernichtenden kunstkritischen Untersuchung geschützt. Auch unterbleiben Überlegungen, was die an sich eigentümliche Wahl dieser Bilder hatte begünstigen können. An der Wand über der Anrichte hing das Bild, auf dem der Selbstmord eines Liebenspaares dargestellt war. Am Ende des Landungsstegs angekommen, strebt der Fuß des Mädchens und des Mannes in die Tiefe, man fühlt aufatmend, wie beide schon von der Schwerkraft ergriffen sind. Da aber der nächste Augenblick nicht eintreten kann, sind die beiden mit der Hilfe der Kunst gleichsam in die Ewigkeit eingetreten. An der Wand der nach oben bis zum Dachboden führenden Stiege findet sich ein Öldruck, der ein aus dem Waldesdunkel hervorbrechendes Wildschwein zeigt, das nachhaltig die Laune einer zum Frühstück versammelten grünbefrackten Jägertruppe stört. Das Motiv des gejagten Jägers ist zumal dem kindlichen Gemüt immer eine große Genugtuung, die in diesem Falle wohlig noch überschattet wird von dem dunklen, in seiner Tiefe nicht auszulotenden Titel Im Ardennerwald.

Gerade die disparate Thematik der beiden Bildwerke läßt über eine verborgene Verbindung nachdenken, aber eine Synthese etwa in der Art von Freitod im Ardennerwald erweist sich nicht als sinnvoll. Eher ist Augenmerk darauf zu richten, daß der Liebestod zum Wohnbereich der Babett und der Bina zählt, das Wildschwein zu dem der im oberen Stockwerk logierenden Mathild. Die Babett und die Bina führen eine Jungfernwirtschaft, an der nichts die Männer im Dorf jemals hat anziehen können, das Motiv des Liebestodes wirkt gezielt deplaziert, es hätte aber wenig Zweck, dem Dichter wegen des den armen Schwestern zugedachten Bildes geringe Empathie vorzuwerfen, er würde sich sogleich auf die Chronistenpflicht berufen. Die Mathild hatte sich vor langen Jahren, in der roten Zeit, einige Monate lang in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Die damaligen Ereignisse, die wir im einzelnen nicht kennen, lassen sich zwar nicht präzis, aber vielleicht doch irgendwie passend unter dem volkstümlichen Ausdruck zusammenfassen, das Geschehen seien wie eine Wildsau über sie hinweggegangen.

Mittwoch, 3. August 2016

Kartenspieler

Hut auf, Hut ab

Erst die Arbeit, dann das Spiel. Der Großvater behielt nach einer alten Gewohnheit zum Kartenspielen immer den Hut auf dem Kopf. Erst wenn mit dem Spielen aufgehört wurde und die Mathild in die Küche hinausging, den Kaffee zu kochen, nahm er den Hut ab. Also wäre das Kartenspiel die Arbeit, auf die dann die Erholung beim Kaffee folgt, und, in der Tat, leicht erscheint ja den Kindern, wie manch einer sich erinnern wird, das Kartenspiel als ein besonders wichtiges und ernstes Geschäft der Erwachsenen.

Für die Ernsthaftigkeit des Kartenspiels ist allerdings das Spiel zu zweit nicht die gelungenste Konstellation. Das Wesen aller Kartenspiele beruht letztlich darauf, daß man nicht weiß, wo die Karten sind, die man nicht selbst in der Hand hält. Beim Spiel zu zweit können sie aber, abgesehen von den im Stock verbleibenden Spielkarten, nur beim Gegenüber sein. Verzwicktere Spiele wie Schlesisch Bridge oder Schafskopf haben denn auch drei und mehr Teilnehmer. Einer Vermehrung der Spielerzahl kommt bei dem Spiel, das wir vor Augen haben, aber nicht in Betracht. Wer sollte das Duo ergänzen? Der Enkel, der den Großvater immer begleitet und der, zu Jahren gekommen, uns berichtet von der Angelegenheit, ist schlicht noch zu jung und die Babett und die Bina haben kaum das Kartenspielertemperament. Sie sind denn auch gehalten, für die Zeit des Besuches zur Vermeidung von Störungen mit der Küche Vorlieb zu nehmen. Die Babett, die ohnehin den ganzen Tag in der Küche sitzt und Geschirrtücher zusammenfaltet, trifft es nicht besonders hart, anders sieht es aus bei Bina, die üblicherweise mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend fortwährend im Haus und im Garten herumrennt. Es bleibt zu hoffen, daß die Küche, wenn schon an das Herumrennen im Haus für den Augenblick nicht zu denken ist, einen direkten Ausgang zum Garten hat.

Man kann unterstellen, der Großvater ist verwitwet. Ein verheirateter Mann, der einmal in der Woche eine andere, unverheiratete Frau zum Kartenspiel oder, wie es schnell geheißen hätte, vorgeblich zum Kartenspiel aufsucht, wäre in einem bayerischen Dorf in den frühen fünfziger Jahren nicht gut denkbar gewesen. Ernstlich ist anzunehmen, daß es sich bei der Mathild und dem Großvater um verwandte Seelen gehandelt hat und daß es letzten Endes weniger um das Kartenspiel, als um die anschließenden langen Gespräche beim Kaffee gegangen ist. Worüber die beiden sich unterhalten, erfahren wir nicht. Selbstredend sind die Babett und die Bina auch von diesem zweiten Teil der Veranstaltung ausgeschlossen. Der Enkel sitzt zunächst dabei, kann sich aber von dem, was erörtert wird, nur die unzulänglichsten Vorstellungen machen und zieht sich bald zurück. Offensichtlich also geht es nicht um das Wetter. Der Großvater richtet jeden Morgen, wenn er aus dem Haus tritt, den Blick prüfend zum Himmel, das reicht aus für den Tag. Die Mathild hatte in frühen Jahren mit den wichtigen geistigen Strömungen des Katholizismus und des Kommunismus Bekanntschaft gemacht. Zunächst war sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hatte das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten. Mit beiden Vorstellungskomplexen, dem frommen und dem unfrommen war die Begegnung offenbar nicht glückhaft, was sie aber als Grundlage für weitere Diskussionen auch Jahrzehnte danach keineswegs ausschließt. Die belletristischen Anteile in der nachgelassenen Bibliothek der Mathild waren, wie sich später zeigen wird, eher gering und rechtfertigen nicht die Annahme, Literaturkundliches oder Literaturschwärmerisches hätte die Debatten befeuert. Welche anderen Gesprächsmöglichkeiten bestanden noch nach dem Krieg in der Adenauerzeit, wenn das Spiel aus und die Karten niedergelegt waren?