Dienstag, 1. März 2016

Phototermin

Schlieren

Man unterstellt, daß die Schwarzweißaufnahmen wie die des Eingangsbillets zum Giardino Giusti, der Verlustanzeige für den Paß, des Ersatzdokumentes &c. aus der Kamera des Erzählers stammen. Allerdings ist er, wie man dann erfährt, ohne Kamera unterwegs, er muß die Dokumente also für die spätere Ablichtung verwahrt haben. Eine Schwierigkeit ergibt sich beim Rechnungsbeleg der Pizzeria VERONA. Er legt 10 000 Lire auf den Teller, rafft die Zeitung zusammen, stürzt auf die Straße hinaus, läuft zur Piazza hinüber: kein Wort über die in all der Eile noch mitgenommene Rechnung, warum auch, das Verfassen der Schwindel.Gefühle, bei dem sie ihm von Nutzen sein wird, stand noch in den Sternen. Selbst wenn er mit einer Kamera ausgestattet gewesen sein sollte - ausdrücklich bestätigt wird das Fehlen nur für die zweite Reise, nicht für die erste, die mit der Flucht aus der Pizzeria schließt -, hätte er sie in seiner Panik wohl kaum noch zum Einsatz gebracht. Oft schon haben wir den Verzehrbeleg studiert, jeden Quadratzoll durchforscht und fragen uns erst jetzt, wie das möglich war, wie der Beleg uns unter die Augen kommen konnte.

Gravierend werden die Schwierigkeiten, wenn es sich um nicht mitnehmbare Photoobjekte handelt, sondern um frei bewegliche Menschen oder um Immobilien, die sich nicht vom Fleck rühren. Eine geradezu niederdrückende Erfahrung macht Selysses, als er sich im Bus zum Gardasee auf Gedeih und Verderb aber ohne Erfolg ein Photo der kafkaesken Zwillinge beschaffen will. Man muß sich fragen, warum er nicht klug wird aus dem Schaden und sich für die weitere Reise eine preiswerte Minox zulegt. Sofern in Riva dazu keine Gelegenheit bestand, dann doch in jedem Fall wenige Tage später in Mailand, aber auch in Verona ist er noch ohne Photoausrüstung. Die Buchstaben über dem Restaurant des Carlo Cadavero, das er vor sieben Jahren fluchtartig verlassen hatte, waren noch dieselben, aber die Eingangstür war mit einer Spanplatte vernagelt und auch die Läden in den oberen Stockwerken waren sämtlich verschlossen. Im Laden des Photographen nebenan hält Selysses nicht etwa nach einer Minox oder Canon Ausschau, sondern versucht den Inhaber zu überreden, ein Bild von der Vorderfront des Hauses für ihn aufzunehmen. Der aber schüttelt auf seine Bitte hin wie auch auf Fragen zu den Gründen der Geschäftsaufgabe der Pizzeria nur stumm den Kopf. Wieder auf der Straße, gelingt es Selysses, ein junges, aus der Erlanger Gegend stammendes Paar auf Hochzeitsreise zu einem Photo der Pizzeria sowie der Zusage einer späteren Übersendung nach England zu überreden. Ein erbetenes zweites Photo verhindert die Braut durch ungeduldiges Zupfen am Ärmel frisch Vermählten.

Wir wollen uns bescheiden und die Bedenklichkeiten einstellen. Hätte Selysses rational gehandelt und ein Photographiergerät erstanden, wäre uns eine nicht nur schöne, sondern auch unverzichtbare Erzählpassage abhanden gekommen. Wir wären dem anscheinend taubstummen Photographen nicht in der Dunkelkammer seines Ladens begegnet, hätten beim Gehen nicht seine plötzlichen wüsten Verwünschungen gehört. Aus dem Dunkel wäre nicht aufs neue ein altes Bild von seltsamen Schlieren durchzogen aufgetaucht mit zwei Männern in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen, die aus einem Hinterhaus eine Bahre hinaustrugen, auf der unter einem blumengemusterten Tuch offensichtlich ein Mensch lag. Und wir wären nicht den Erlanger Jungvermählten begegnet, die uns an die aus Franken stammenden Eheleute Härdtl denken lassen, deren mediterranes Elend uns Thomas Bernhard vor Augen geführt hat. Möge den Hochzeitsreisenden ein ähnliches Schicksal erspart bleiben.

Keine Kommentare: