Montag, 7. März 2016

Dieses fromme Weib

Namenlos

Wozu dient dieser Unrat? singt der Chor der Jünger vierstimmig im Anfang von Bachs Matthäuspassion. Eine namenlose Frau begießt Jesus in Haus Simons zu Bethanien mit einem kostbaren Duftwasser, und nicht wenige unter den Jüngern vertreten die Ansicht, die für das Luxusprodukt drangegebene Summe wäre besser den sozial Schwachen zugute gekommen. Andere und auch der Herr selbst halten die Aktion dagegen für angemessen - die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit - und dieser Fraktion gesellt sich naturgemäß auch Bach zu: So lasse mir inzwischen zu, von meiner Augen Tränenflüsse ein Wasser auf dein Haupt zu gießen. Die Inkonsequenz der Matthäuspassion, so Blumenberg, ist die ihres Evangelisten: sie gibt Ruhm und Recht an das Duft spendende Weib, erfüllt aber die Bedingung allen Rühmens nicht, die Namensnennung. Sie bleibt anonym dieses fromme Weib.

Was ist Rühmen anderes als ein Superlativ des Erinnerns. Sebald scheint von der Sorge getrieben, den Fehler des Evangelisten zu wiederholen und setzt in seinen Lebensgeschichten den Namen des zu Erinnernden und in gewisser Weise zu Rühmenden vorsorglich gleich in den Titel: Selwyn, Bereyter, Adelwarth, Aurach, Austerlitz. In dem Buch, das Sebalds Erinnerungsmodus am nächsten kommt, verfährt Modiano gleichermaßen: Dora Bruder. Bei Modiano, der immer nur le peu de choses qu'il sait erzählt, ist der genannte Name bereits ein beträchtlicher Teilbetrag des Erreichbaren.

Auch sonst scheint Sebald von einer gewissen Ungeduld der Namensnennung getrieben. Selysses habe sich mit Salvatore Altamura verabredet, heißt es, ohne daß wir zuvor von Salvatore Altamura gehört hätten. Alec Garrard, der Name geht allem voraus, was wir über Garrard noch erfahren &c. Schwer ist es, die Namenlosen zu würdigen, würde Selysses längere Zeit sinnend am Mahnmal im Engen Plätt verharren, wenn es unbekannten Soldaten gewidmet wäre? Geehrt sind Alois Thimet von Rosenheim, Erich Daimler von Stuttgart, Rudolf Leitenstorfer von unbekanntem Heimatort und der aus Börneke stammende Werner Hempel, gefallen für das Vaterland, wie es heißt, und zwar im April 1945.

Namenlosigkeit ist das Verderben, Prominenz nahe dem ewigen Heil, so will es scheinen, und doch sind uns, wenn wir durch eine Stadt gehen, so gut wie alle Passanten unbekannt und namenlos. Wir können uns Namen für sie ausdenken, sie können Gestalt und Namen bekannter Persönlichkeiten annehmen, Dante, König Ludwig. Gern gewußt hätte Selysses die Namen des jungen Mädchens und der Franziskanerin im Zug nach Mailand, auch wenn der Ordensname immer ein Gefühl des Unmaßgeblichen, ja Unrichtigen zurückläßt, so als sei er nur wenig entfernt von der Sammelbezeichnung der frommen Weiber.

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