Dienstag, 8. März 2016

Fischersleute

Nichts als Leere

Auf dem von flachen Kiesbänken durchzogenen Strand sind zu allen Tages- und Jahreszeiten in ziemlich gleichen Abständen voneinander entlang dem Saum des Meeres allerlei zeltartige Unterstände aufgeschlagen. Es ist, als hätten sich die letzten Überreste eines wandernden Volkes hier am äußersten Rand der Erde niedergelassen. In Wirklichkeit aber handelt es sich um Leute aus der engeren Umgebung, die nach alter Gewohnheit von ihren Angelplätzen aus hinausschauen auf die See. Ihre Zahl bleibt trotz fortwährendem Wechsels seltsamerweise immer mehr oder weniger dieselbe. Nur selten soll es geschehen, daß einer der Fischer Kontakt aufnimmt mit seinem Nebenmann. Tatsächlich wird heute vom Ufer aus kaum noch etwas gefangen, sie wollen sich einfach aufhalten an einem Ort, an dem sie die Welt hinter sich haben und voraus nichts mehr als Leere.

Welcher umfassenderen, uns aus dem Werk bekannten Menschenkategorie sind die Fischer an der Küste südlich vom Lowestoft zuzuordnen? Es sind offenbar keine Berufsfischer, eine Zuordnung zum Ferienvolk wäre daher möglich. Sie erfüllen aber nicht die an anderer Stelle des Werkes für diesen Bevölkerungssektor gesetzten Maßstäbe. Die besichtigungserprobten Ferienleute fahren auf einem Miniaturbähnchen durch die Felder, verkleideten Hunde ähnlich oder Seehunden im Zirkus. Um Mitternacht noch sind sie paar- und familienweise unterwegs, eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen, lauter Lemurengesichter, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske. In Bahnhofshallen lagern sie hingestreckt wie von einer schweren Krankheit, ein wahres Heer in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch wenn sie sich vielleicht nicht viel zu sagen haben, sind Ferienleute doch immer in Gruppen oder Horden dichtgedrängt beieinander, das krasse Gegenteil der Einsiedler am Meer.

Rechnen wir die Fischersleute zur Gruppe der Einsiedler, so wäre diese, was die Zahl anbelangt, erheblich erweitert. Aber eignen sich die aus Stangen und Strichwerk, Segeltuch und Ölzeug aufgeschlagenen Unterstände für Eremiten, und vor allem, sind die Abstände groß genug? Wieder orientieren wir uns nicht an objektiven Maßstäben des Einsiedlerlebens, sondern an denen, die das Werk vorgibt, und hier reicht vielleicht, ohne in die Breite zu gehen, der Hinweis, daß der führende Einsiedler, der Eremit strengster Observanz, der Major George Wyndham Le Strange nämlich, den wir nur wenige Seiten später, gleich nach den Fischersleuten, treffen, ein großes steinernes Herrenhaus inmitten eines weitläufigen Gartens bewohnt.

Die Schwierigkeiten bei der Einordnung der Fischersleute beruht nicht zuletzt darauf, daß wir kein Bild von ihnen haben, sie nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Gesichtslosigkeit begünstigt denn auch die träumerische Vorstellung, die letzten Überreste eines wandernden Volkes hätten sich hier am äußersten Rand der Welt niedergelassen. Wandernde Volksstämme begegnen uns immer wieder mit ihren Karawanen, sei es als Gegenstand von Bildwerken, wie in Aurachs Wadi Halfa, sei es als Halluzination, wie in der Pariser Bibliothek. Hier nun sind die Wüstenmenschen buchstäblich und endgültig gestrandet, ein Weiter gibt es nicht, der Sand unter ihren Füßen mag ihnen einen Rest von Heimatgefühl geben. Haben wir es überhaupt mit lebenden Menschen zu tun? Auf dem Bild der Strandkolonie ist kein lebendes Wesen zu entdecken, von hinten sind die Unterstände nicht einsehbar und vorn, zwischen den Verschlägen und dem Meeresufer, traut niemand sich zwischen den aufgestellten Angeln hindurchzugehen. Fände sich ein Verwegener, so stieße er womöglich auf vom Salzwind mumifizierte Körper, leere Augenhöhlen in die Leere gerichtet.

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