Mittwoch, 2. Dezember 2020

Verschoben

Wandelbar


Das Korsikaprojekt wurde aufgegeben, an die Stelle trat der Roman Austerlitz. Verschiedene Motive aus dem Korsikaentwurf wurden in den Roman verlegt, teils mehr oder weniger wörtlich, teils der neuen Umgebung angepaßt. Das Motiv der in Scharen, Gruppen oder auch Regimentern umherziehenden kleinwüchsigen Toten wurde von Korsika nach Wales verschoben und dort neu geordnet. Austerlitz hört von den Toten nicht als Reisender, sondern als Bewohner von Wales, ja, wie er ursprünglich dachte, als Waliser mit dem Namen Dafydd Elias. Emyr Elias, Dafydds vermeintlicher Vater, tatsächlich aber sein Adoptivvater, ist freikirchlich-protestantischer Prediger, der im Hintergrund des korsischen Totenkults stehende Katholizismus samt Messe, Marienverehrung und korsischen Katzen vor den Kirchentüren kann daher nicht an den neuen Ort des Geschehens verlagert werden. Auch die für die Übermacht der Toten verantwortliche Vendetta (dial gwaed) mit angeschlossenem Banditentum ist in Wales nicht vergleichbar populär. Dafydd Elias entzieht sich aber auch der freikirchlichen Glaubenswelt, wie sie der Prediger verkündet, sein spiritueller Lehrmeister ist vielmehr der Schuster Evan, bei dem er dann auch die im Vergleich zum Korsischen um Welten unzugänglichere walisische Sprache wie im Flug erlernt. Während der Prediger Elias Krankheit und Tod immer in Zusammenhang brachte mit gerechter Strafe und Schuld, erzählte Evan von Gestorbenen, die das Los zur Unzeit getroffen hatte. Sie, die Unschuldigen und Betrogenen, sind es, die nicht zur Ruhe kommen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber ihre Gesichter flackern ein wenig, und, wie auf Korsika, sind sie eine Spanne kleiner als zu Lebzeiten. Anders als auf Korsika, wo sie in Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern herumziehen, gehen sie in Wales fast immer alleine, manchmal aber auch in kleinen Schwadronen. Evans Großvater hatte einmal den Weg freimachen und zur Seite treten müssen, um den Gespensterzug vorbeizulassen.

In gewissem Sinne wird auch das Motiv der Cessna, des kleinen Motorflugzeugs, nach Wales verschoben und an Gerald Fitzpatrick delegiert, der, wenn auch kein Waliser, in Wales geboren wurde. Das Fliegen nimmt er aber nicht in Wales auf, sondern von seinem Studienort Cambridge aus, um es dann von seiner Arbeitsstätte in Genf aus fortzusetzen. Während für Gerald Ashman, dem Piloten des Korsikaprojektes, nichts über die Flugleidenschaft geht, ist sie für Gerald Fitzpatrick wohl eher eine Sparte seiner Leidenschaft für die von ihm auch beruflich ausgeübte Astrophysik, für das nach oben gerichtete Augenmerk, für die Geburt und das Sterben der Sterne.

Der Zirkus zieht aus der kleinen korsischen Stadt Piana weiter in die Weltstadt Paris. Das Programm ist in einigen Punkten verändert, was bleibt ist das Finale, als alle Schausteller, die zuvor Zauberkünstler, Seiltänzer, Feuerschlucker oder Hellseher gewesen waren, ausgerüstet mit Musikinstrumenten und begleitet von einer weißen Gans vor das Publikum treten, um auf die eindringlichste, zu Herzen gehende Weise die Abschiedsmelodie zu spielen.

Überall im Flughafengebäude Gatwick, wo der Erzähler auf den Flug nach Calvi wartet, stehen diese knallfarbigen Kästen herum, wo man mit einer Maschinenpistole, die an einer Art Nabelschnur befestigt ist, in apokalyptische Szenearios - brennende Städte, einstürzende Fassaden, fliehende Menschen - hineinfeuern kann. An Kunden, die bei diesem Divertissement dabei sein möchten, fehlt es nicht. Austerlitz erlebt ähnliches am Bahnhof Prag. Wie ausnahmslos alles Schöne wurde das an sich wundervolle Jugendstilgebäude schon bald nach seiner Fertigstellung zielstrebig ruiniert und in den sechziger Jahren umgeben mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton. Auf einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter messenden Plattform stehen in mehreren Batterien gewiß an die hundert in debilem Leerlauf vor sich hindudelnde Spielautomaten. Weitere vom Korsikaprojekt zum Roman Austerlitz verschobene Motive wären noch zu nennen, etwa das des an chronischer Schlaflosigkeit leidenden einsamen Billardspielers, mais brisons.

Wenn einerseits korsische Motive in den Roman Austerlitz verschoben wurden, tauchen im Korsikaprojekt auch Motive aus den zuvor bereits veröffentlichten Büchern auf. In Brüssel, Fünfter Teil der Ringe des Saturn, wurde eine überraschende Konzentration von Buckligen und Irren beobachtet, auf Korsika zeigt sich eine gar übernatürliche Flinkheit der Buckligen. Das im Neunten Teil der Ringe des Saturn erlebte Sterben der Bäume wird zu einem Hauptmotiv des Korsikaprojektes.

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