Wenn man die Dämonen
(Бесы) zu Recht für
Dostojewskis gelungenstes Werk hält, weiß man auch, daß das nicht zuletzt ein
Verdienst des fiktiven Erzählers Anton Lawrentjewitsch G-w ist. Nahezu das
gesamte restliche Personal des Romans ist verhaltensauffällig, den noch
jungen Erzähler zeichnen Solidität und verläßliche Bürgerlichkeit aus, er
verleiht damit dem Roman seine besondere schräge Tonlage, gründend auf dem zwiespältigen
Miteinander einer Häufung von Unvernunft jeglicher Art auf der einen und
einsamer biederer Vernunft auf der anderen Seite. Warum die Verkürzung G-w und nicht der
volle Name wie bei allen anderen Figuren des Romans? Sebalds Erzähler, das kann
einem bei dieser Frage einfallen, ist sogar gänzlich namenlos. Ab und zu scheint es
Hinweise zu geben, daß der Erzähler den Namen des Autors teilt, ein sicherer
Beleg dafür scheint der vom Konsulat in Mailand, wie auf einem Photo erkennbar, auf
den Namen Sebald ausgestellte neue Reisepaß zu sein. Die die Prosa begleitenden Photographien
sind aber nicht zuverlässig, auch der photographierende Austerlitz sieht in der
Spiegelung der Schaufensterscheibe des Antikos Bazar dem Autor verblüffend
ähnlich. In den Schwindel.Gefühlen hätte sich der Autor demnach im
Erzähler eingenistet, in Austerlitz in der Gestalt des Protagonisten. G-w
hat einen eigenen, festen Namen, die Verkürzung betont seine singuläre Stellung
als Hotspot der Vernunft auf verlorenem Posten.
Auf seine eigene Person, sein eigenes Leben geht G-w so gut wie
gar nicht ein. Er ist offenbar ledig, Feund und Vertrauter des Stepan Trofimowitsch Werchowenskij
und vor allem der fiktive Verfasser des Romans. Er selbst bezeichnet sich als Chronist des Geschehens, der sich wenige Monate, nach dem alles
vorüber ist, an die Arbeit macht. Alles ist vorbei, aber noch nichts ist
abgekühlt. Бесы unterliegen einem Rhythmus von Steigerung hin zu einem
Eklat oder zu einem Verbrechen und einer Rückkehr zum Alltagsverlauf bis zum
nächsten Skandal. Die ruhigen Passagen
schildert G-w in Chronistenmanier. Schwieriger ist es mit den oft über endlose
Seiten sich erstreckenden Gesprächsprotokollen, die der Erzähler unmöglich
wortwörtlich memoriert haben kann, er hat sie für die Niederschrift wohl neu
inszeniert. Was aber ist mit den Zwiegesprächen wie sie etwa Stawrogin ohne
Beisein eines Dritten mit Schatow, Kirillow und anderen führt? Hier hat Dostojewski
offenbar ohne weitere Skrupel G-w für eine bestimmte Zeit gegen einen allwissenden
Hintergrunderzähler ausgetauscht, der nicht als Figur im Roman auftritt. Der
Höhepunkt des Romans, der zugleich Anton G-w zu seinem gelungensten Auftritt
verhilft, ist die in ein völliges Chaos abgleitenden Kulturveranstaltung
der Gouverneurin. Rückblickend kritisiert Anton G-w in
scharfer Weise das Veranstaltungskonzept und legt die im Hintergrund
ablaufenden Intrigen und Sabotageakte
der revolutionären Kräfte bloß, er erzählt auch vom Scheitern seiner eigenen aufopfernden Versuche, das Schlimmste zu
verhindern. In den folgenden Kapiteln ist intermittierend der gestaltlose allwissende
Erzähler wieder mehrfach an der Reihe. Auch an Stepan Trofimowitsch’s letzter
Wanderschaft, die Tolstois letzte Wanderschaft zum Tod vorwegnimmt, ist Anton
G-w nicht beteiligt. Erst das Schlußwort, das auf wenigen Seiten das ganze
Unheil noch einmal überfliegt, kann im wesentlichen wieder ihm zugerechnet
werden.
G-w hat keine Ähnlichkeit mit Dostojewski, Sebalds Erzähler hat große
Ähnlichkeit mit dem Autor. Wie aber
würde man sich den Erzähler vorstellen, wenn der Autor, so wie Homer oder auch,
jedenfalls für längere Zeit, wie B. Traven oder Elena Ferrante unbekannt wäre? Verschiedene Merkmale und Themen die dem Erzähler am Herzen liegen, tauchen immer
wieder auf. Der Erzähler ist
umweltbewußt, eine auf Verbrennung, brucia continuamente, beruhende
Zivilisation hält er nicht für bestandsfähig. Er beklagt, die Vernichtung und
das Sterben der Wälder. Bei alldem neigt er eher zum Defaitismus als zum Aktivismus.
Ein anders Motiv: Wenn der Erzähler uns begegnet, ist er fast immer auf Reisen,
andererseits verabscheut er kaum etwas mehr als das reisenden Ferienvolk. Auch
selbst denkt er oft, er sei besser zuhaus geblieben, bei seinen Fahrplänen und
Landkarten. Und weiter, in einer katholischen Gegend aufgewachsen, ist ihm die
Glaubenswelt nachhaltig fremd geworden, jedenfalls jeder Glauben an einen speziell
dem Menschen und nicht allen Geschöpfen verpflichteten Gott. Welcher bekannte deutsche Autor könnte sich
hinter einem Erzähler mit diesen Merkmalen verbergen, so würde man fragen, wenn
man die Antwort nicht wüßte.
Die Rolle eines Icherzählers kann schlecht einem allwissenden und konturenlosen Hintergrunderzähler anvertraut werden. Im ersten Kapitel des Prosawerks, Beyle, und ebenso im dritten Kapitel, Riva, tritt allerdings kein Erzähler auf, der Autor arrangiert im wesentlichen Aufzeichnungen von Stendhal und Kafka, im weiteren Prosawerk ist der Erzähler immer präsent, ohne eine dominante Stellung zu beanspruchen. In Gesprächen, die immer Zwiegespräche sind, läßt der Erzähler dem anderen oder der anderen den Vorrang, er selbst, so scheint es jedenfalls, bleibt weitgehend stumm. In Austerlitz scheint es über lange Strecken, als habe der Protagonist, also Austerlitz, die Rolle des Erzählers übernommen. Der Unterschied fällt kaum auf.
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