Dienstag, 1. Dezember 2020

Isule, cuntinenti

Corsica


Wäre das Korsikaprojekt abgeschlossen worden, hätte sich eine Reise- und Wandertrilogie bestehend aus den Schwindel.Gefühlen, den Ringen des Saturn und eben Korsika, sicher mit anderem Titel, ergeben. Stattdessen wurde Austerlitz in Fortsetzung der Vier langen Geschichten als fünfte, sehr lange Geschichte veröffentlicht. Zahlreiche Passagen des Korsikaprojektes, das für die Leser einmal aus den einleitenden vier kurzen Erzählungen des Bandes Campo Santo und zum anderen aus dem Marbacher Katalog Wandernde Schatten besteht, finden sich umgeformt in Austerlitz wieder, so daß das Projekt, auch Deo vitam dante, in dieser ausgeschlachteten Form wohl nicht wieder aufgegriffen worden wäre. Das Gros der Leser, die Austerlitz für das wichtigste Werk des Autors halten, sind es zufrieden, die wahren Leser eher nicht. Ihnen ist es unbenommen, aus den in Campo Santo und Wandernde Schatten veröffentlichten und jetzt als Trümmerfeld verbliebenen Fragmenten eine weitere Reise- und Wandererzählung nach eigenen Vorlieben zu phantasieren. Diese Erzählung, nennen wir sie mit korsischen Klang Isule, cuntinenti, würde dem gleichen Konzept nachgehen wie die Schwindel.Gefühle und die Ringe des Saturn. Man folgt den Reise- und Wanderbewegungen des Erzählers, Begegnungen mit anderen Menschen finden in Maßen statt, viel Aufmerksamkeit gilt der die Tier- und Pflanzenwelt, vermittels mentaler Ausschweifungen gerät man immer wieder in andere Weltgegenden. Letzteres könnte, so die Befürchtung, auf der räumlich begrenzten Insel, hat man sie erst betreten, auf Schwierigkeiten stoßen. Noch im neunzehnten wußten viele im Inneren des Landes lebende Korsen nur vom Hörensagen, daß sie Inselbewohner waren, das Meeresufer haben sie nie zu Gesicht bekommen, das Rauschen der See nicht gehört. Auch der Dichter kommt es bei seinen Wanderungen im Inneren des Landes so vor, als bewege er sich nicht auf einer Insel, sondern auf einem Kontinent. Eine andere Dimension, die ihn herausfordert, ist die Tiefe der Geschichte Korsikas, die durchgehend eine Leidensgeschichte ist. Napoleon, dem mit großem Vorsprung bekanntesten Korsen, blieb ein zufriedenstellendes kontinentales Erleben auf Korsika verschlossen, ihn zog es in die Ferne, sein Drang nach Osten wurde, wie uns Tolstoi unübertroffen vor Augen geführt hat, erst in Moskau aufgehalten. Auf Elba, das nur einen Bruchteil der Größe Korsikas hat, kam er nicht zur Besinnung, sondern erst auf der noch deutlich kleineren Insel St. Helena. Das Musée Fesch und die Casa Bonaparte in Ajaccio weisen aus, was von ihm bleibt. Im Souvenirshop des Musée Fesch werden Napoleonfigürchen aus Speckstein und Elfenbein zum Kauf angeboten, die den exilierten Kaiser in Mantel und Dreispitz zeigen, rittlings auf einem Sesselchen, den Blick mit gefurchter Braue hinaus in die Ferne gerichtet. Hauptattraktion der Casa Bonaparte ist ein Stammbaum der Familie, der sie allesamt zeigt, den König von Neapel, den König von Rom und den König von Westfalen, Maria Elisa, Maria Annunziata und viele andere mehr. Erhellend ist ein neueres wissenschaftliches Ergebnis, das auf eine optische Beeinträchtigung des Kaisers hinweist. Eine Farbenblindheit habe ihn nicht Rot und Grün unterscheiden lassen. Je mehr Blut floß auf dem Schlachtfeld, desto frischer schien ihm das Gras zu sprießen. Das erklärt so manches.

Anders als die Schwindel.Gefühle beginnt Isule, cuntinenti nicht mit Napoleons Zug über die Alpen und auch nicht mit der Kindheit des späteren Franzosenkaisers, sondern mit einem Blick aus der Höhe beim morgendlichen Anflug auf die offenbar menschenleere Gebirgsinsel. Purpur- und feuerrot, als seien sie in Brand gesteckt, leuchteten die zweieinhalb- bis dreitausend Meter hohen Gipfel auf, von denen aus man über das nach allen Richtungen absteigende Inselland das ständig sich verändernde Blau hinwegsieht bis zu den weißen Seealpen. Menschen sind von der Höhe aus nirgends zu entdecken. Der Anschein einer unbewohnten Insel verflüchtigt sich aber gleich nach der Landung, überall ist das den Lesern der Schwindel.Gefühle nur zu gut bekannte Ferienvolk unterwegs, vorwiegend in mit Surfbrettern, Sporträdern und anderen Ausrüstungsgegenständen beladenen Wohnmobilen deutscher Fabrikation, und wieder muß der Erzähler sich eingestehen, daß es sich, was tragischerweise so gut wie immer der Fall ist, um Urlauber aus seiner süddeutschen Heimat handelt. Auch unter der zunächst weniger auffälligen einheimischen männlichen Bevölkerung der Insel lassen sich offenbar keine Sympathen finden wie etwa Malachio oder Altamura in den Schwindel.Gefühlen oder der Richter Farrar, der Tempelmodellbauer Garrard und andere in den Ringen des Saturn. Deutlich besser sieht es auf der Frauenseite aus. Die sehr dunkel und korsisch aussehende, noch namenlose Mme XYZ, Alleinherrscherin des Hotels Roches Rouches hätte sich im Zuge der weiteren Ausarbeitung durchaus noch in eine zweite Luciana Michelotti wandeln können. Auch die beiden Empfangsdamen in der Casa Bonaparte sind akzeptabel. Nicht zuletzt aber überzeugt die Brieffreundin Séraphine Aquaviva, die dem Dichter das Geheimnis der Ancienne École erläutert und die Lebensumstände zur Zeit ihrer Kindheit in Porto Vecchio.

Die Roches Rouches sind nicht sie erste und letzte gastliche Stätte, auf die der Erzähler während seines Aufenthalts auf Korsika stößt. In der Cafeteria des Flughafengebäudes begann soeben der neue Tag. Der Kellner hinter der Theke sah aus, als habe er gerade noch im Bett gelegen, mit traumverlorenen Bewegungen stapelte er Teller und Tassen auf seine Kaffeemaschine. Ein zweiter, ebenso verschlafener Mensch, dem der Hemdzipfel aus der Hose hing, wischte mit einem Fetzen die Tische ab. Auf der Fahrt zum Hotel bietet sich eine Wirtschaft, die zu einer Ansammlung mehr oder weniger verlotterter Häuser gehörte für eine Rast an. Der Wirt saß, unrasiert und in einem Zustand totaler Apathie auf der hölzernen Veranda. Auch die Wirtin, die unter der Tür lehnte, schien todmüde zu sein. Wortlos verschwand sie im Dunkel des Innenraums, wortlos kam sie nach einer gewissen Zeit daraus wieder hervor und brachte einen Teller mit einigen Salatblättern und etwas weißem Käse. Man hätte meinen können, sich irgendwo im Wilden Westen zu befinden, an einem von Mord- und Bluttaten ruinierten Ort. Als der Erzähler bereits im Roches Rouches untergekommen ist, setzt während einer Wanderung in der Ortschaft Evisa plötzlich starker Regen ein, der Erzähler rettet sich in das Café des Sports. Der einzige Gast war ein greiser, mit einem wollenen Kittel und einem ausgedienten Armeeanorak bereits für die Wintermonate gerüsteter Mann. Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Es schien nicht, als ob er die seltsam theatralisch wirkende Person wahrgenommen hätte, die nach einiger Zeit unter ihrem aufgespannten Regenschirm draußen vorbeiging, oder auch das halbwüchsige Schwein, das ihr auf dem Fuße folgte. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Aus einem Kassettenrekorder neben der Kaffeemaschine drang eine von Pathos bewegte Männerstimme, in kurzen, einprägsamen Sätzen rief sie die Erinnerung auf an die Stationen der korsischen Geschichte. Was mag das für das Mädchen hinter der Bar bedeuten?

Die Erzählung Campo Santo in dem gleichnamigen Band handelt von auf Korsika noch bis in das zwanzigste Jahrhundert anzutreffenden archaischen Zuständen, die Erzählung Die Alpen im Meer von den gegenwärtigen, wenn man so will modernen Verhältnissen. Dabei geht es am übersichtlichen Beispiel Korsikas letztlich um die Entwicklung in Europa und der Welt, keine Entwicklung vom Schlechten zum Guten, sondern von einem Schlechten zu einem anderen Schlechten, eine Sichtweise, die inzwischen vielleicht eher überzeugt als noch zur Zeit des Korsikaprojektes. In der alten Zeit konnten sich die Lebenden kaum der Überzahl und Übermacht der Toten erwehren. Nicht zuletzt die auf der Grundlage endogamer Sippen florierende Vendetta und das Banditenwesen stärkten nachhaltig die Toten und schwächten die Lebenden. Vendetta und Banditenwesen führen aber nicht zu einer chaotischen Gesellschaft, ihre streng hierarchische Struktur spiegelt sich wiederum in der Friedhofsordnung. Auch auf dem Friedhof des kleinen Ortes Piana ist die Hierarchie der Gräber sofort zu erkennen. Ein paar mit Giebeln versehene Totenhäuschen der Bessergestellten, sarkophagartige Kästen für die nächstniedrigere Stufe, Gräber noch geringerer Toter unter Steinplatten, die wirklich Armen müssen sich mit einem blechernen Kreuz begnügen. Hungerleider wurden lange Zeit einfach in einen Sack eingenäht und in einen Schacht, die sogenannte arca geworfen, wo sie wie Kraut und Rüben durcheinanderlagen. Andererseits gaben die Toten keineswegs Ruhe. Einen Fuß etwa kleiner als zu Lebzeiten zogen sie herum in Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern hinter einer Fahne. Die Trauerrituale waren entsprechend ausgeprägt. Es wäre nicht gerecht, in den Klagegesängen der Voceratrici eine vom Herkommen vorgeschriebene, hohle Veranstaltung zu sehen. In Wahrheit besteht kein Widerspruch zwischen dieser Art von Berechnung und einer echten, bis an den Rand der Selbstauflösung gehenden Verzweiflung. Als zwiespältig mag man auch das oft mehrere Tage dauernde Totenmahl, das eine Familie in den Ruin stürzen konnte, wenn das Unglück es wollte.

Heute sind wir auf dem Punkt, wo die Zahl der auf der Erde Lebenden sich im Verlauf von nur drei Jahrzehnten verdoppelt hat und schon bald verdreifacht haben wird. Das einst übermächtige Volk der Toten hat jede Dominanz verloren, nicht nur auf Korsika werden die Toten kaum noch beachtet. Mit Photos aus dem Alltagsleben auf ihren Sterbeanzeigen bleiben sie in einem vermeintlich ewigen banalen Leben sich selbst überlassen, mehr können wir, die Lebenden, für Euch, die Toten, nicht tun, behelligt uns nicht weiter. Vormals mit Räubertum und Vendetta beschäftigt, haben die Korsen ihre Aktivitäten längst auf das Schlagen der letzten Bäume und das Erschießen des letzten jagdbaren Wildes verlegt. Die wohl schönste Waldung der Insel, die von Bavella, war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch weitgehend unberührt. Der Topograph van der Velde nennt Bavella le plus beau en fait de forêt, fügt aber schon hinzu, Touristen müßten sich beeilen, wenn sie ihn noch in seiner Pracht bewundern wollten, die Axt gehe um im Wald. Heute ist im Bavella-Gebiet nichts mehr so, wie es einmal gewesen ist. Wenn man aus der Ferne schaut könnte man meinen, die wunderbaren Wälder stünden noch, in Wahrheit aber wachsen nur mehr die von der Forstverwaltung nach dem riesigen Waldfeuer vom Sommer in die Brandflächen gesetzten Bäume, schmächtiges Nadelholz, von dem man nicht denken kann, daß es ein Menschenleben überdauert, geschweige denn Dutzende von Generationen. Auch auf das Wild hatte van der Velde sein Augenmerk gerichtet, le gibier y abonde, stellte er fest. Ungemein zahlreich waren etwa die Steinböcke und der inzwischen längst ausgestorbene tyrrhenische Rothirsch, über den Felsstürzen kreisten Adler und Geier. Auch heute noch bricht in Korsika jeden September das Jagdfieber aus. Ungeachtet des Umstandes, daß es kaum noch etwas zu jagen gibt, scheint sich die gesamte männliche Bevölkerung an dem längst ziellos gewordenen Zerstörungsritual zu beteiligen, die älteren Männer vorwiegend im blauen Zivil eines Arbeitsanzugs, die jüngeren in einer Art paramilitärischer Ausrüstung. Die Frauen scheinen hinter der aus übergeordneter Sicht erfreulich geringen Ausbeute eine Art Impotenz der Männer zu vermuten, mon mari, qui rentrait toujours avec cinq ou six perdrix, on a tout juste pris une. Abzusehen ist die Zeit, in der auf der Insel nur noch bizarre Lebewesen wie der Prozessionsspinner, Bombix processionis, aufzutreiben sind. Flauberts legendenhafte Erzählung vom dem Jagdfieber in einem weder zuvor noch danach bekannten Ausmaß verfallenen heiligen Julian ist die ideale literarische Ergänzung, eine wahrhaft perverse Geschichte über die Verruchtheit der Menschengewalt. 

Zum Abschluß wieder der Rote Brand. Die monströsen Felsformationen der Calanches leuchteten in feurigem Kupferrot, als stünde das Gestein selbst in Flammen und glühe aus seinem Inneren heraus. Manchmal glaubte man, in dem Geflacker die Umrisse brennender Pflanzen und Tiere zu erkennen oder die eines zu einem großen Scheiterhaufen geschichteten Volks. Sogar das Wasser drunten schien in Flammen zu stehen. Die Farbe Rot ist aber nicht das letzte Wort. Man konnte das Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Es war eine weiße, anscheinend menschenleere Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein verborgener Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon. Das Zeichen ist da, aber wie soll man es deuten?

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