Sonntag, 10. Januar 2021

Brimborium

Auf einem Fuß


Lewin sowie der Dichter und Modianos Helden sind sich einig mit Wittgenstein: Es ist eigentlich egal, was man zu sich nimmt, wenn es nur immer das Gleiche ist. Aus einer grundsätzlichen Einstellung heraus beschränkt sich dieses Desinteresse an der haute Cuisine, diese Fremdheit nicht etwa auf das Drumherum der Nahrungsaufnahme, sondern erfaßt jede Art von Brimborium, alles, was am Kern der Sache und des Lebens vorbeigeht. Als Lewin sich mit Kitty einig geworden ist und nach dem Datum der Hochzeit gefragt wird, schlägt er allen Ernstes den nächstfolgenden Tag vor. Der künftigen Schwiegermutter ist zunächst stumm vor Schreck und klärt ihn dann auf, was alles rund um die Hochzeit erforderlich ist: Bereitstellung der Aussteuer, die nicht einfach aus dem Ärmel gezogen werden kann, Gästeliste, Einladung der Gäste, Planung ihrer Unterbringung, Planung des Festmahls, vorbereitendes Gespräch mit dem Popen und anderes mehr, ein halbes Jahr müsse wohl ins Land gehen, erfährt der ungläubige Lewin. Man einigt sich schließlich auf eine begrenzte Anzahl von Wochen bei zunächst unvollständige Aussteuer.

Für Wittgenstein ist der Rucksack Symbol und Fakt der Konzentration auf das Wesentliche. Ständig hat er ihn dabei gehabt, in Puchberg und Otterthal geradeso, wie wenn er nach Norwegen fuhr oder nach Irland oder nach Kasachstan oder zu den Schwestern nach Hause, immer und überall ist der Rucksack und weiter nichts. Austerlitz hat einen ganz ähnlichen Rucksack gehabt, den er in einem Surplus-Store in der Charing Cross Road für zehn Schilling aus ehemaligen schwedischen Heeresbeständen gekauft hatte, eine wahrhaft lohnende Investition.

Lewin ist bereits im mittleren Alter, als er Kitty heiratete, in seiner Jugend war er nicht der Mensch, der er heute ist. Er verfaßt einen Rückblick auf seine Jugend und seinen damaligen Lebensstil, die Lektüre löst bei Kitty Entsetzen aus, Einzelheiten erfahren wir nicht. Jetzt steht er mit zwei Beinen fest im Leben, die Familie das eine Standbein, die Verwaltung der Güter das andere. 
 
Die Lewin umgebende Gesellschaftsform in Rußland scheint für das bloße Auge übersichtlich und stabil, eine dünne Adelsschicht und eine überwältigende Mehrzahl der Bauern, das ist es schon. Derart ruhige Konturen kann Modianos junger, achtzehn- oder neunzehnjähriger, in seinen diversen Inkanationen immer ein wenig an Parzival erinnernder Held nicht erwarten. Les choses reprenaient guère un peu de consistance et de réalité. Er hat Eltern und ist doch elternlos. Er gerät in eine Welt von Hochstaplern, Lebemännern und Schiebern, unklare Identitäten, echter Adel und falscher, das eine nicht besser als der andere, Porfirio Rubirosa persönlich segnet diese Demimonde, dieses gigantische Brimborium ab. Der Eigentümer hat Yvonne und dem Erzähler die Villa triste für eine unbestimmte Zeit überlassen. Alles schwebte, wir zündeten kein Licht an, lagen ausgestreckt auf dem Canapé oder auch am Boden, niemals diese Villa verlassen, niemals wieder über Flugsand gehen, hier bleiben, sich petrifizieren. Das ist keine langfristige Perspektive. Boden unter den Füßen verspürt der Erzähler, der, wie er sagt, bis zu seinem zwanzigsten Jahr kein eigenes Leben gehabt hat, erst, als er sein erstes Buch geschrieben und veröffentlicht hat. Hat man den ersten Schritt getan und Fuß gefaßt, kann man den zweiten Schritt wagen, wie immer er ausfallen mag.

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