Terre de tous les dangers
Wenn das Unglück es wollte, passierten im Verlauf einer Blutfehde mehrere Todesfälle oder tödliche Anschläge kurz hintereinander. Fünf Jahre und länger, beim Tod eines Ehegatten das ganze restliche Leben hindurch wurde Trauer getragen. Kein Wunder also, daß das hochgeschlossene schwarze Kleid mit dem schwarzen Kopftuch und der schwarze Manchesteranzug bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein die korsische Nationaltracht zu sein schien. Von den schwarzen, überall in den Gassen der Ortschaften und Städte und draußen auf dem Land gegenwärtigen Gestalten ging eine Aura der Schwermut aus, die sich, sogar an den strahlendsten Tagen, wie ein Schatten über sie grüne Blattwelt der Insel legte. Der Dichter beläßt es bei diesem allgemeinen Bild der Vendetta und geht auf Einzelfälle nicht ein.
Die Festlandfranzosen und umso mehr die Literaten des 19. Jahrhunderts richteten schon der korsischen Kaiser wegen den Blick gern auf die Mittelmeerinsel, die archaischen Verhältnisse galten zudem eine interessante Gegenstimme zum Leben in Paris. Die Inlandkorsen ihrerseits wußten wenig von den Franzosen, deren Sprache sie nicht verstanden, vielen wußten nur von Hörensagen, daß sie auf einer Insel lebten umgeben von anderen Welten. Für die Romanschreiber war das ganze ein sogenanntes gefundenes Fressen. Dumas erzählt von den Frères Corses, den Zwillingsbrüdern Lucien und Louis de Franchi. Lucien bemüht sich auf Korsika erfolgreich um die Befriedung der Vendetta, die vor Jahren ausgelöst worden war von einem Huhn, das sich widerrechtlich in Nachbars Garten verirrt hatte. Der Vorfall hatte bereits ein Dutzend Todesopfer gefordert, der Streit wurde nun mit zeremoniellem Pomp beigelegt. Einen pazifizierten Eindruck machen die Streiter keineswegs, bis zum Ende des Romans aber hält das Abkommen. Nur wenige Wochen später aber hat Louis de Franchi ein Paris ein Duell auszufechten. Unter Edelleuten befleißigt man sich beim Töten einer ausgesuchten Höflichkeit und Etikette, die Louis freilich nicht bewahrt vorm Sterben. Wiederum nur Wochen später erledigt Lucien de Franchi den Widersacher in einem Folgeduell. Welcher Art des Tötens soll man den Vorzug geben, der ruppigen Art der Vendetta auf Korsika oder der mit allem Comme il faut ausgestatteten Vorgehensweise in Paris?
Trotz seiner offenbar kolportagehafte Erzählweise kann Austerlitz Balzac einiges abgewinnen, ob der Erzähler, hinter dem wiederum der Autor steht, auch in diesem Punkt mit seinem Protagonisten übereinstimmt, bleibt offen. In La vendetta zieht Balzac alle Register der Melodramatik. Das Blutrachedrama hat einen Julia und Romeo-Verlauf und spielt sich unter Korsen weit entfernt von Korsika in Paris ab. Die Tochter des letzten Vertreters der einen Seite erwählt, ohne daß sie es weiß, den letzten Vertreter des anderen, feindlichen Seite. Der Vater verzichtet auf Blutrache im engeren Sinne, entzieht aber dem jungen Paar, das ohne irgendwelche Einkünfte ist, jegliche Unterstützung und liefert es damit dem Hunger- und Kältetod aus. Die Vendetta ist damit nach seinem Verständnis ordnungsgemäß abgeschlossen.
Cassanu Idrissi ist der älteste, fast hundertjährige Akteur in Michel Bussis 2016 erschienenen Roman Le temps est assasin. Geboren in den zwanziger Jahren war er nicht mehr mit der Vendetta als populärem Brauchtum konfrontiert. Es scheint aber so, als seien die traditionellen Bausteine noch vorhanden. Einerseits sind die Korsen, die Idrissi, Pinelli, Casasoprana, Poggioli, längst nicht mehr unter sich auf der Insel, ab und zu mag es scheinen als wären sie von dem Ferienvolk aus Deutschland, England und nicht zuletzt Frankreich so gut wie verdrängt. Die Fremden haben sich eingenistet und die Grundstückspreise in schwindelnde Höhen getrieben. Das führt zu einer gewissen Entlastung, der Haß der Korsen richtet sich vermehrt nach außen, auf die anderen, die Korsika und die Korsen nicht verstehen. Gleichzeitig aber bleibt die Urbevölkerung unter sich und den überkommenen Sitten weitgehend treu. Die Korsen glauben an Phantome, übersinnliche Erscheinungen, an die Macht der Toten. Vor allem, und das erweist sich als ein zentraler Punkt des Romans, bleibt die Rechtsprechung in der Familie als höchste Instanz der staatlichen Rechtsprechung übergeordnet, mit der Folge einer latenten Vendettabereitschaft. Cassanu Idrissi, der keinerlei Amt bekleidet, gilt gleichwohl als Herr der Balagne. Sein Urteilsspruch in einer entscheidenden Familienangelegenheit erweist sich nach langen Jahren als falsch, großes Unrecht wer die Folge. Ihm gelingt eine Art Wiedergutmachung, weiter leben mag er dann aber nicht mehr. Les femmes habillées de noir treten nach wie vor zahlreich auf, von einer korsische Nationaltracht kann aber nicht mehr die Rede sein.
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