Freitag, 20. August 2021

Säkularisierung

Vagabundierende Heilige


Der Dichter war angetan von Wittgensteins Art und Lebensweise, mit seiner Philosophie hat er sich nicht vertieft beschäftigt. Von Heideggers Art und Lebensweise war er nicht angetan, in seine Philosophie ist er nicht eingedrungen, auch Heideggers Einlassung, das Tier sei weltarm, der Mensch dagegen weltbildend, ist im möglicherweise entgangen. G. Dux wiederum hat, ohne auf Heidegger zurückzugreifen, diese Unterscheidung zum Zentrum seiner Anthropologie und Soziologie gemacht. Auch der Mensch ist ein biologisches Wesen, sein instinkthaftes Verhalten ist aber weitgehend eingeschränkt, die biologische Grundlage überlagert von einer selbstgeschaffenen geistigen Schicht. Das dem Menschen eigene Bedürfnis, die Welt insgesamt zu verstehen, läßt sich über Jahrtausende nur religiös befriedigen, jede Gruppierung, jeder Stamm, jedes Volk, jede Ethnie entwirft eine eigene Religion. So war es seit Urzeiten. In Erweiterung der Evolution entsteht menschliche Geschichte, auch diese lange Zeit unter den Augen Gottes. Das seit dem siebzehnten Jahrhundert aber rapid und inzwischen explosiv ansteigende Wissen von der Welt läßt für Gott und Götter der herkömmlichen Art keinen Platz. Wenn nach Einsteins Annahme Gott nicht würfelt, dann vor allem, weil es ihn nicht gibt. Ohne Religion hätte die Menschheit, überwältigt von der Unverständlichkeit des Seins, in ihrer Frühe nicht bestehen können, nun aber, so Dux, ist die Zeit der Religion so oder so abgelaufen.

Eine Welt zwischen Glauben und Wissen, zwischen Unwissen und Unglauben. Herrenlose, vagabundierende Heilige beleben das Werk des Dichters. San Giorgio wird zu Giorgio Santini, einem Hochseilartisten, der Major Le Strange verkörpert einmal den heiligen Franziskus und dann wieder den heiligen Hieronymus, die ursprüngliche Ordnung der Heiligenwelt ist aus dem Ruder. Unserem Herrn selbst wird bei der Rettung des Gadareners, eine Rettung, die zweitausend Säue mit dem Tode bezahlen müssen, ein böser Kunstfehler vorgeworfen. Auf Giottos Bild Gli angeli visitano la scena della disgrazia wird uns der am Kreuz gestorbene, kaum dreißigjährige Gott vorenthalten, der Teil des Bildnisses unterhalb der mit vor Schmerz zusammengezogenen Brauen dahinschwebenden Engeln ist verborgen. Von Bereyter heißt es, er sei gottgläubig. Ob es ein Gerücht ist, und wer es dann aufgebracht hätte, oder eine belegbare Wahrheit, wird nicht gesagt. Zu denken gibt, daß Bereyter am Sonntagvormittag, der Kirchzeit gern Schach mit dem Schuhmacher Colo spielte, der ein Philosoph und regelrechter Atheist gewesen ist. Nachweislich wahr bleibt jedenfalls Bereyters Haß auf die von ihm so genannte katholische Salbaderei. Man kann wohl annehmen, daß Bereyter auf dem Scheideweg zwischen Glaube und Unglaube gestanden ist. Ein idyllischen Bild der Säkularisierung wird uns bei der Zugfahrt nach Mailand vor Augen geführt. Die Franziskanerin las ihr Brevier, das Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide. Die von der Franziskanerin verkörperte Glaubenswelt mag als trauter und anspruchsvoller erscheinen, das bunte Mädchen aber ist womöglich noch ein wenig schöner als die Nonne. - Der Dichter ist auf seine spezielle Weise ein Kollaborateur im Prozeß der Säkularisierung der Welt.

Dux bestätigt, die Entstehung der Welt könne man nicht schöner erzählen, als sie in der Genesis erzählt worden ist, wenn es doch so wäre, wie es erzählt wurde. Der Sache nach aber kann das Erzählte vor dem Hintergrund der modernen Astrophysik keinen Bestand haben. Gerald Fitzpatrick paßt sich den neuen Gegebenheiten an und schwärmt von der Pracht der Sternengeburten, wahre Kinderstuben von Sternen seien dort draußen zu entdecken. Malachio verbindet seine astrophysischen Kenntnisse mit der Frage der Auferstehung der Toten, Antworten findet er keine, wie vorauszusehen war, aber ihm genügen auch schon die Fragen. Gott ist in den Tiefen des Alls nicht anzutreffen, da ist es nur verständlich, wenn sich Stachuras Erzähler nach einem Gefährte wenigstens im All sehnt, einem Zwillingsbruder Lichtjahre entfernt auf einem der Erde ähnlichen Planeten (Jasny pobyt nadrzeczny). Wer möchte anders empfinden?

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