Samstag, 14. August 2021

Tempel mit Mauerfleck

Zweitausend Figuren

Frohmann aus Drohobycz hielt ein aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe gemachtes Modell des Tempels Salomonis auf dem Schoß und erläuterte, wie er den Tempel nach den Angaben der Bibel in siebenjähriger Arbeit erbaut habe. Man erkenne eine jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät. Und ich, sagte Aurach, beugte mich über das Tempelchen, und wußte zum erstenmal in meinem Leben, wie ein wahres Kunstwerk aussieht. Aurachs Tempel, der ihm zeigt, wie ein wahres Meisterwerk  der bildenden Kunst aussieht, entspricht zweifellos Bergottes petit pan de mur jaune, dem kleinen gelben Mauerfleck, den er auf Vermeers Ansicht von Delft entdeckt haben will und der ihm zeigt, wie er seine Bücher hätte schreiben sollen. Der Tempel ist geträumt, ob es einen Mauerfleck auf Vermeers Bild von Delft überhaupt gibt, ist umstritten, das Geheimnis der Kunst bleibt uns, den Amateuren, verborgen. Auch wenn Bergotte und Aurach versichern, das Geheimnis erkannt zu haben, sie können oder wollen es uns nicht überantworten. Das Kunsterleben ist auf die Künstler beschränkt, dem Leser würde sich aus dem Mauerfleck, wenn er ihn denn auf Vermeers Gemälde entdecken könnte, Bergottes Prosaideal nicht erschließen, aus dem Tempelmodell, wenn er es denn zu Gesicht bekäme, nicht Aurachs künstlerisches Wunschbild.


Alec Garrard ist von anderem Schlag, er nähert sich dem Tempel Salomonis zunächst nicht als Künstler, sondern als Laienhistoriker. Ursprünglich Landwirt, hat er seit Jahrzehnten diesen Beruf zugunsten des Modellbaus immer weiter zurückgestellt, wurde zunächst als hinterfür und dann zunehmend auch international als Tempelfachmann und -bauer angesehen. In seinem jetzigen Zustand beansprucht das Modell eine Fläche von zehn Quadratmetern, und kann, anders als das Produkt des Traumukrainers aus Drohobycz, keinesfalls auf dem Schoß abstellt werden. Es ist aber weniger die Größe des Modells als die Winzigkeit und Genauigkeit der Details, die die Fertigstellung des Tempels immer weiter zu einem fernen Horizont verschob. Um nur ein Beispiel zu nennen, mehr als zweitausend Figürchen, jedes weniger als einen Zentimeter groß, belebten inzwischen die Umgebung des Tempels, eine der Figuren trägt vielleicht eine gelbe Joppe, lehnt sich an die Mauer des Tempels, für das unbewehrte Auge nichts als ein kleiner gelber Mauerfleck.


 

Keine Kommentare: