Alles nur Stein
Die Gründe für eine Überquerung der zwischen 150 und 250 Kilometer breiten Alpen als natürlichem Hindernis zwischen Mittel- und Südeuropa einerseits, West- und Osteuropa anderseits sind vielfältig; die wichtigsten Motive sind wirtschaftlicher, militärisch-politischer, religiöser, wissenschaftlicher, touristischer und alpinistischer Art.
Die legendärste Alpenüberquerung aus militärischen Gründen gelang 218 v. Chr. dem Karthagerführer Hannibal mit seiner Alpenüberquerung. Während des Zweiten Punischen Krieges überschritt Hannibal die winterlichen Alpen mit anfänglich circa 50 000 Soldaten, 9000 Reitern und 37 Kriegselefanten auf einem bis heute nicht genau zu bestimmenden Paß, um Rom anzugreifen. Die Hälfte seines Heeres und alle Elefanten gingen dabei verloren.
Mehr als zweitausend Jahre später, Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36 000 Mann über den Großen St. Bernhard, ein Unternehmen, das bis zu diesem Zeitpunkt für so gut wie ausgeschlossen gegolten hatte. Fast vierzehn Tage lang bewegte sich ein unansehbarer Zug von Menschen, Tieren und Material von aus über Orsières durch das Tal von Entremont und sodann in endlos scheinenden Serpentinen hinauf auf die zweieinhalbtausend Meter über dem Spiegel des Meers liegende Höhe des Passes, wohin die schweren Kanonenrohre von der Truppe in ausgehöhlten Baumstämmen teils über den Schnee und das Eis, teils über die bereits aperen Felsplatten geschleift werden mußten. – Es sind vor allem auch diese das Buch einleitenden Sätze, die die Schwindel.Gefühle in der Leseerinnerung als Buch der Alpen und der Alpenüberquerungen verbleiben lassen, ebenso wie dann die folgende Stelle:
Tiepolo war ihm wieder in den Sinn gekommen und die von ihm seit langem gehegte Vorstellung, daß der Maler, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, sich in Zirl entschlossen hat, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen. Und er sah den Tiepolo, der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritzten Gesicht und trotz de Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. - Es fragt sich, warum der Meister des schwerelosen Deckengemäldes nicht einfach, wie es ihm ohne Zweifel möglich gewesen wäre, über die Alpen hinweggeschwebt ist.
Im Fall Napoleons hat die Überquerung des Gebirges zwei Wochen in Anspruch genommen und auch im Fall Tiepolos werden es einige Tage gewesen sein, so daß die Alpinisten notgedrungen auch genächtigt und geschlafen haben müssen, keine Rede kann aber davon sein, daß sie im Schlaf durch’s Gebirg gegangen wären. Selysses seinerseits nimmt den Nachtzug von Wien nach Venedig, draußen ist alles bald in die Dunkelheit eingetaucht und er in den Schlaf gesunken. Im Schlaf hat er dann, wenn man so will, einen Hochgebirgstraum: Draußen war alles längst in Dunkelheit eingetaucht, als er ein seither unvergeßliches Landschaftsbild gesehen hat. Über den Dächern erhoben sich dunkel bewaldete Kogel, die schwarzgezackte Höhenlinie wie ausgeschnitten aus dem Gegenschein des Abendlichts. Zuoberst aber glühend, transparent, feuerspeiend und funkenstiebend die Spitze des Schneebergs, hineinragend in die letzte Helligkeit des Himmels, an dem die seltsamsten graurosafarbenen Wolkengebilde trieben und zwischen diesen die Winterplaneten und die Sichel des Mondes. Aufgewacht ist er erst mit dem Gefühl, daß der Zug nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es ihm durch den Kopf, und der äußere Eindruck verband sich in seiner Vorstellung mit einem Bild Tiepolos, das die von der Pest heimgesuchte Stadt Este zeigt, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. - Wieder Tiepolo. Von den Alpen hat Selysses nur die letzten Ausläufer gesehen und weder Glück noch Mühsal des Gebirges verspürt.
Bei Napoleon ist unter den vom modernen Lexikon für eine Alpenüberquerung in Betracht kommenden Gründen leicht der militärisch-politische auszumachen, für Tiepolo waren wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, in Würzburg erwarteten ihn in der Gestalt des Fürstbischofs Carl Philipp von Greiffenclau ein zahlungskräftiger Auftraggeber. Der Begründungskatalog des Lexikons ist aber offenbar nicht vollständig, schon Goethes Italienreisen sind schwer unterzubringen, man müßte jedenfalls den inzwischen gründlich entwerteten Begriff des Touristischen ganz neu fassen, und auch bei Selysses ist die Einordnung schwierig. Es läßt sich nicht einmal mit Sicherheit feststellen, ob ein Plan, Venedig zu besuchen, von vornherein feststand, oder ob Venedig sich nur aus dem Augenblick heraus als Zielort angeboten hat für die Flucht, die irgendwohin schließlich führen mußte.
Die zweite Fahrt nach Venedig verläuft zwar im mancher Beziehung deutlich anders als die erste, nicht aber was die geringe Wahrnehmung der Alpenpracht anbelangt. Nachträglich wird bekannt, daß Selysses vor Jahren, bei seiner ersten Reise, in alleiniger Begleitung einer neuseeländischen Schullehrerin gereist war, die sie betreffenden Angaben bleiben aber zu karg, als daß sie Aufnahme unter den Mitreisenden finden könnte. Wieder ist es Nacht in dem diesmal ganz und gar überfüllten Zug, hinter den Fenstern nur Dunkelheit. Wollte man Tiepolos Bild von der Stadt Este die bei älteren Kunstwerken gern gestellte Fragen stellen, was sie uns Heutigen zu sagen haben, welche aktuelle Botschaft sie entfalten, so ließe sich mutmaßen - bei Berücksichtigung dessen, was sich bei der zweiten Anreise offenbart -, daß der Maler hellseherisch die neuzeitliche Pest des Tourismus vorausgeahnt und dementsprechend warnend den Malpinsel erhoben hat: In der Bahnhofshalle lagerte wie hingestreckt von einer schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz lagen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum.
1913 fährt Kafka von Wien nach Triest. Gut zwölf Stunden verbringt er auf der Südbahn allein im Winkel eines Coupés. Die Landschaftsbilder reihen sich draußen nahtlos aneinander, überstrahlt vom Similiglanz eines ganz und gar unwahrscheinlichen Herbstlichts. Er hat vermutlich kaum hingeschaut in die Welt, ein Vorwurf, der ihm ganz allgemein zu machen ist. Wie schön es ist, und wie man es unterschätzt, ruft er gern, schweigt sich über Einzelheiten aber aus. Wir wissen daher nicht, was er in Wirklichkeit gesehen hat.
Den zwei Hinfahrten von Wien nach Venedig entsprechen zwei Rückfahrten über den Brenner. Bei der ersten Fahrt, nach der Flucht aus Verona, ist Selysses, ganz abgesehen davon, daß er wieder den Nachtzug genommen hat, bei weitem zu verstört für die Würdigung der Berglandschaft. Der Zug zieht bergan, so viel nimmt er wahr. Regenstriche schraffieren die Fenster. Wir halten am Brenner. Eine schwere Stille liegt über dem Areal, durchbrochen allein vom Brüllen namenloser, auf irgendeinem Abstellgleis ihren Weitertransport erwartender Tiere. – Damit bricht der Bericht von dieser Heimreise ab.
Die zweite Heimreise, die eine Heimreise im doppelten Sinn ist: in einem ersten Schritt nach W. und dann weiter nach England -, geht aus vom Gebiet oberhalb von Bruneck, also aus dem Hochgebirge, das uns aber nicht weiter nahe gebracht wird, abgesehen von der Feststellung, daß eines Nachmittags der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle aus einer grauen Schneewolke auftauchte. Die Fahrt nach Innsbruck findet statt im Nachtexpreß, also ohne Blick auf die Alpen. Der wird uns dann nach der Abfahrt von Innsbruck vom Bus aus gewährt. Die brandroten Lärchenstände leuchteten an den Seiten der Berge, und es zeigte sich, daß es sehr weit heruntergeschneit hatte. Wir überquerten den Fernpaß. Geröllhalden griffen hinein in die Wälder wie Finger ins Haar, und in schleierhafter Zeitlupenhaftigkeit stürzten seit jeher unverändert die Bäche über die Felswände herab. An einer Wegkehre erblickte man in der Tiefe die dunkeltürkisgrünen Flächen des Fernsteinsees und des Samaranger Sees, die ihm schon in der Kindheit wie der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit vorgekommen waren. Von Oberjoch wandern wir dann mit Selysses, eingenommen von der Allgäuer Vorgebirgslandschaft, hinab nach W.
Bereits zurück in England erscheinen Selysses die Alpen im Traum auf ganz anderer Weise. Die mit feinem weißen Schotter bedeckte Straße zog sich in endlosen Kehren durch die Wälder hinan und hinauf und führte zuletzt auf der Höhe des Passes durch einen tiefen Einschnitt auf die andere Seite des Gebirges hinüber, das, wie er im Traum wußte, die Alpen gewesen sind. Alles war einerlei kalkfarben, ein helles gleißendes Grau, in dem Myriaden von Quarzsplitten schimmerten. Dieses machte seltsamerweise den Eindruck, als zerstrahle der Stein. Zur Linken ging es in eine wahrhaft schwindelerregende Tiefe hinab. Nirgends war ein Baum zu sehen, kein Strauch, kein Krüppelholz, kein Büschelchen Gras, sondern es war alles nur Stein. - Es ist schwer zu entscheiden, ob das Alpenthema hier noch Eigenständigkeit hat oder ganz den Schlußakkorden der letzten Seiten eingeordnet ist.
Man schließt die Schwindel.Gefühle im guten Glauben, ein Buch über die Alpen gelesen zu haben. Das Geschehen spielt sich ab in der cis- und transalpine Vorgebirgslandschaft, das Hochgebirge kommt selten in den Blick und wenn, dann fast öfters im Traum als in der Wirklichkeit. Das Buch der Alpen ist nur eine Lesart der Schwindel.Gefühle und es würde sicher die Proportionen verderben, wenn wir auf jeder Seite von Schneegipfeln und Murmeltieren hören würden. Auffällig und, wenn man so will, erklärungsbedürftig bleibt gleichwohl, daß die Alpenüberquerungen fast durchwegs nachts und also blicklos stattfinden, und man kann auch rätseln, warum von allen Aufenthaltsorten nur der in Sichtweite des Großvenedigers unausgemalt bleibt. Der letzte mögliche Grund wäre, daß der Dichter den Herausforderungen des Hochgebirges sprachlich nicht gewachsen wäre, am Fernpaß führt er mühelos vor, was er im Gebirge erzählerisch zu leisten vermag. Hier sind die Alpen der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit, im englischen Traum dann eine den Weltuntergang vorwegnehmende Todeszone. Das Gebirge steht stellvertretend für die Unvereinbarkeit unserer verschiedenen Wahrnehmungen. Die historischen Alpenüberquerungen Tiepolos und Napoleons strahlen weit aus über den knappen Erzählraum, den sie beanspruchen. Der suggestiven Kraft des Dichters reichen wenige Aufrufe.
Die legendärste Alpenüberquerung aus militärischen Gründen gelang 218 v. Chr. dem Karthagerführer Hannibal mit seiner Alpenüberquerung. Während des Zweiten Punischen Krieges überschritt Hannibal die winterlichen Alpen mit anfänglich circa 50 000 Soldaten, 9000 Reitern und 37 Kriegselefanten auf einem bis heute nicht genau zu bestimmenden Paß, um Rom anzugreifen. Die Hälfte seines Heeres und alle Elefanten gingen dabei verloren.
Tiepolo war ihm wieder in den Sinn gekommen und die von ihm seit langem gehegte Vorstellung, daß der Maler, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, sich in Zirl entschlossen hat, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen. Und er sah den Tiepolo, der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritzten Gesicht und trotz de Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. - Es fragt sich, warum der Meister des schwerelosen Deckengemäldes nicht einfach, wie es ihm ohne Zweifel möglich gewesen wäre, über die Alpen hinweggeschwebt ist.
Im Fall Napoleons hat die Überquerung des Gebirges zwei Wochen in Anspruch genommen und auch im Fall Tiepolos werden es einige Tage gewesen sein, so daß die Alpinisten notgedrungen auch genächtigt und geschlafen haben müssen, keine Rede kann aber davon sein, daß sie im Schlaf durch’s Gebirg gegangen wären. Selysses seinerseits nimmt den Nachtzug von Wien nach Venedig, draußen ist alles bald in die Dunkelheit eingetaucht und er in den Schlaf gesunken. Im Schlaf hat er dann, wenn man so will, einen Hochgebirgstraum: Draußen war alles längst in Dunkelheit eingetaucht, als er ein seither unvergeßliches Landschaftsbild gesehen hat. Über den Dächern erhoben sich dunkel bewaldete Kogel, die schwarzgezackte Höhenlinie wie ausgeschnitten aus dem Gegenschein des Abendlichts. Zuoberst aber glühend, transparent, feuerspeiend und funkenstiebend die Spitze des Schneebergs, hineinragend in die letzte Helligkeit des Himmels, an dem die seltsamsten graurosafarbenen Wolkengebilde trieben und zwischen diesen die Winterplaneten und die Sichel des Mondes. Aufgewacht ist er erst mit dem Gefühl, daß der Zug nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es ihm durch den Kopf, und der äußere Eindruck verband sich in seiner Vorstellung mit einem Bild Tiepolos, das die von der Pest heimgesuchte Stadt Este zeigt, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. - Wieder Tiepolo. Von den Alpen hat Selysses nur die letzten Ausläufer gesehen und weder Glück noch Mühsal des Gebirges verspürt.
Bei Napoleon ist unter den vom modernen Lexikon für eine Alpenüberquerung in Betracht kommenden Gründen leicht der militärisch-politische auszumachen, für Tiepolo waren wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, in Würzburg erwarteten ihn in der Gestalt des Fürstbischofs Carl Philipp von Greiffenclau ein zahlungskräftiger Auftraggeber. Der Begründungskatalog des Lexikons ist aber offenbar nicht vollständig, schon Goethes Italienreisen sind schwer unterzubringen, man müßte jedenfalls den inzwischen gründlich entwerteten Begriff des Touristischen ganz neu fassen, und auch bei Selysses ist die Einordnung schwierig. Es läßt sich nicht einmal mit Sicherheit feststellen, ob ein Plan, Venedig zu besuchen, von vornherein feststand, oder ob Venedig sich nur aus dem Augenblick heraus als Zielort angeboten hat für die Flucht, die irgendwohin schließlich führen mußte.
Die zweite Fahrt nach Venedig verläuft zwar im mancher Beziehung deutlich anders als die erste, nicht aber was die geringe Wahrnehmung der Alpenpracht anbelangt. Nachträglich wird bekannt, daß Selysses vor Jahren, bei seiner ersten Reise, in alleiniger Begleitung einer neuseeländischen Schullehrerin gereist war, die sie betreffenden Angaben bleiben aber zu karg, als daß sie Aufnahme unter den Mitreisenden finden könnte. Wieder ist es Nacht in dem diesmal ganz und gar überfüllten Zug, hinter den Fenstern nur Dunkelheit. Wollte man Tiepolos Bild von der Stadt Este die bei älteren Kunstwerken gern gestellte Fragen stellen, was sie uns Heutigen zu sagen haben, welche aktuelle Botschaft sie entfalten, so ließe sich mutmaßen - bei Berücksichtigung dessen, was sich bei der zweiten Anreise offenbart -, daß der Maler hellseherisch die neuzeitliche Pest des Tourismus vorausgeahnt und dementsprechend warnend den Malpinsel erhoben hat: In der Bahnhofshalle lagerte wie hingestreckt von einer schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz lagen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum.
1913 fährt Kafka von Wien nach Triest. Gut zwölf Stunden verbringt er auf der Südbahn allein im Winkel eines Coupés. Die Landschaftsbilder reihen sich draußen nahtlos aneinander, überstrahlt vom Similiglanz eines ganz und gar unwahrscheinlichen Herbstlichts. Er hat vermutlich kaum hingeschaut in die Welt, ein Vorwurf, der ihm ganz allgemein zu machen ist. Wie schön es ist, und wie man es unterschätzt, ruft er gern, schweigt sich über Einzelheiten aber aus. Wir wissen daher nicht, was er in Wirklichkeit gesehen hat.
Den zwei Hinfahrten von Wien nach Venedig entsprechen zwei Rückfahrten über den Brenner. Bei der ersten Fahrt, nach der Flucht aus Verona, ist Selysses, ganz abgesehen davon, daß er wieder den Nachtzug genommen hat, bei weitem zu verstört für die Würdigung der Berglandschaft. Der Zug zieht bergan, so viel nimmt er wahr. Regenstriche schraffieren die Fenster. Wir halten am Brenner. Eine schwere Stille liegt über dem Areal, durchbrochen allein vom Brüllen namenloser, auf irgendeinem Abstellgleis ihren Weitertransport erwartender Tiere. – Damit bricht der Bericht von dieser Heimreise ab.
Die zweite Heimreise, die eine Heimreise im doppelten Sinn ist: in einem ersten Schritt nach W. und dann weiter nach England -, geht aus vom Gebiet oberhalb von Bruneck, also aus dem Hochgebirge, das uns aber nicht weiter nahe gebracht wird, abgesehen von der Feststellung, daß eines Nachmittags der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle aus einer grauen Schneewolke auftauchte. Die Fahrt nach Innsbruck findet statt im Nachtexpreß, also ohne Blick auf die Alpen. Der wird uns dann nach der Abfahrt von Innsbruck vom Bus aus gewährt. Die brandroten Lärchenstände leuchteten an den Seiten der Berge, und es zeigte sich, daß es sehr weit heruntergeschneit hatte. Wir überquerten den Fernpaß. Geröllhalden griffen hinein in die Wälder wie Finger ins Haar, und in schleierhafter Zeitlupenhaftigkeit stürzten seit jeher unverändert die Bäche über die Felswände herab. An einer Wegkehre erblickte man in der Tiefe die dunkeltürkisgrünen Flächen des Fernsteinsees und des Samaranger Sees, die ihm schon in der Kindheit wie der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit vorgekommen waren. Von Oberjoch wandern wir dann mit Selysses, eingenommen von der Allgäuer Vorgebirgslandschaft, hinab nach W.
Bereits zurück in England erscheinen Selysses die Alpen im Traum auf ganz anderer Weise. Die mit feinem weißen Schotter bedeckte Straße zog sich in endlosen Kehren durch die Wälder hinan und hinauf und führte zuletzt auf der Höhe des Passes durch einen tiefen Einschnitt auf die andere Seite des Gebirges hinüber, das, wie er im Traum wußte, die Alpen gewesen sind. Alles war einerlei kalkfarben, ein helles gleißendes Grau, in dem Myriaden von Quarzsplitten schimmerten. Dieses machte seltsamerweise den Eindruck, als zerstrahle der Stein. Zur Linken ging es in eine wahrhaft schwindelerregende Tiefe hinab. Nirgends war ein Baum zu sehen, kein Strauch, kein Krüppelholz, kein Büschelchen Gras, sondern es war alles nur Stein. - Es ist schwer zu entscheiden, ob das Alpenthema hier noch Eigenständigkeit hat oder ganz den Schlußakkorden der letzten Seiten eingeordnet ist.
Man schließt die Schwindel.Gefühle im guten Glauben, ein Buch über die Alpen gelesen zu haben. Das Geschehen spielt sich ab in der cis- und transalpine Vorgebirgslandschaft, das Hochgebirge kommt selten in den Blick und wenn, dann fast öfters im Traum als in der Wirklichkeit. Das Buch der Alpen ist nur eine Lesart der Schwindel.Gefühle und es würde sicher die Proportionen verderben, wenn wir auf jeder Seite von Schneegipfeln und Murmeltieren hören würden. Auffällig und, wenn man so will, erklärungsbedürftig bleibt gleichwohl, daß die Alpenüberquerungen fast durchwegs nachts und also blicklos stattfinden, und man kann auch rätseln, warum von allen Aufenthaltsorten nur der in Sichtweite des Großvenedigers unausgemalt bleibt. Der letzte mögliche Grund wäre, daß der Dichter den Herausforderungen des Hochgebirges sprachlich nicht gewachsen wäre, am Fernpaß führt er mühelos vor, was er im Gebirge erzählerisch zu leisten vermag. Hier sind die Alpen der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit, im englischen Traum dann eine den Weltuntergang vorwegnehmende Todeszone. Das Gebirge steht stellvertretend für die Unvereinbarkeit unserer verschiedenen Wahrnehmungen. Die historischen Alpenüberquerungen Tiepolos und Napoleons strahlen weit aus über den knappen Erzählraum, den sie beanspruchen. Der suggestiven Kraft des Dichters reichen wenige Aufrufe.
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