Gleisgelände
In den Schwindel.Gefühlen haben wir es mit drei Reisenden in der Alpengegend zu tun, Stendhal, Kafka und Selysses. Erste Gleisanlagen werden noch zu Stendhals Lebzeiten erbaut, für ihn hat das aber keine große Bedeutung mehr gehabt. Kafkas Tagebücher sind voller Bahnhöfe, Zugfahrten und Mitreisender, in den Schwindel.Gefühlen findet man davon aber wenig. Unterwegs auf den Gleisen sind wir so gut wie nur mit Selysses. Zweimal fahren wir mit ihm im Zug von Wien nach Venedig, die Anfahrt nach Wien macht er jeweils ohne uns. Beim ersten Mal scharfe Rasur beim Bahnhofsbarbier, dann schon alsbald Aufbruch von Venedig nach Verona, im Stehbuffet der Ferrovia von Venedig Kampf um einen Capuccino. Panische Flucht aus Verona und Heimreise, in Rovereto steigt eine alte Tirolerin ein mit einer aus Lederflecken zusammengenähten Einkaufstasche, in Begleitung ihres vielleicht vierzigjährigen Sohnes. Beim zweiten Mal, sieben Jahre später, Weiterfahrt von Venedig nach Desenzano, das Bahnhofsgebäude macht seiner Verlassenheit zum Trotz einen ausgesprochen zweckmäßigen Eindruck. Im Pissoir, neben dem Spiegel, ein Graffito: Il cacciatore, Beleg, daß Kafka, viele Jahre zuvor von Verona herüberkommend, ebenfalls hier ausgestiegen war. Später dann von Riva nach Mailand, im Abteil gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Von Mailand dann nach Verona. Von Verona in die Gegend des Großvenedigers wohl eher mit dem Bus, wir erfahren es nicht. Von dort mit dem Nachtexpreß über den Brenner nach Innsbruck, im Bahnhof Sandler und die ausgeschämte Bedienerin in den Tiroler Stuben. Von W. aus, das mit dem Bus erreicht wurde, Rückreise auf der Rheinstrecke. Die letzte der neuzugestiegenen Fahrgäste war eine junge Frau mit einem braunen Samtbarett und lockigem Haar, in der ich auf den ersten Blick und ohne den allergeringsten Zweifel, Elizabeth, die Tochter James I, erkannte, die als die Winterkönigin bekannt geworden ist. In Bonn, wo sie ausgestiegen ist, suchen die Passanten noch heute in den Straßen nach ihr. In London schließlich bewegte sich der Zug langsam aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus, vorbei an den rußigen Ziegelmauern die mir wegen der in sie eingelassenen Nischen immer wie Teile eines weitläufigen und hier an die Oberfläche tretenden Katakombensystems vorgekommen sind. Aus den Fugen und Ritzen des im letzten Jahrhunderts fertiggestellten Mauerwerks sind im Verlauf der Zeit zahlreiche Schmetterlingssträucher gewachsen, die ja bekanntlich mit den ärmlichsten Bedingungen vorliebnehmen. Im Traum dann Einfahrt in den großen Brand und den Untergang der Welt.
In den Ausgewanderten klingt das Gleismotiv verschiedentlich an, entscheidend und in einer von den Schwindel.Gefühlen grundlegend unterschiedenen Weise aber in der Erzählung Paul Bereyter, in der der Titelheld sich eine kleine Strecke außerhalb des Ortes, dort, wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinen Weidengehölz herausführt und das offene Feld gewinnt, vor den Zug legt. Schon in jungen Jahren hatte ein Onkel ihm prophezeit, er werde einmal bei der Eisenbahn enden und hatte das natürlich in einem harmlosen, bürgerlichen Sinn gemeint. Die Eisenbahn hatte für Bereyter aber immer eine tiefere Bedeutung gehabt. Wahrscheinlich schien es ihm immer, als führe sie in den Tod. Fahrpläne, Kursbücher, die Logistik des ganzen Eisenbahnwesens, das alles war für ihn zeitweise zu einer Obsession geworden - eine Obsession, die auch Selysses nicht gänzlich fremd ist: Auf Reisen finde ich an nichts Gefallen, bin von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie ich oft meine, viel besser bei meinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben. Am Ende der Schwindel.Gefühle ist auch er, wir hatten es gerade gesehen, mit der Eisenbahn in den Tod gefahren, dem allerdings die letzte Wirklichkeit in diesem Augenblick noch abging.
In den Ringen des Saturn wird die Wanderschaft, die überwiegend nur in dunkle und öde Gebiete führt, mit einer Fahrt auf der Eisenbahn eingeleitet. Mit einem alten, bis an die Fensterscheiben hinauf mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen bin ich an die Küste hinuntergefahren. Meine wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten lilafarbenen Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. Die meiste Zeit rollte der unsicher auf den Schienen schwankende Wagen im Leerlauf dahin, denn es geht dem Meer zu fast immer leicht bergab. Nur zwischendurch, wenn mit einem das ganze Gehäuse erschütternden Schlag das Triebwerk in Gang gesetzt wurde, war eine Weile das Mahlen der Zahnräder zu hören, ehe wir unter gleichmäßigem Pochen weiterrollten wie zuvor, an Hinterhöfen und Schrebergartenkolonien und Schutthalden und Lagerplätzen vorbei in das der östlichen Vorstadt sich ausdehnende Marschland hinaus. Kaum daß er ausgestiegen ist aus dem zweifelhaften Gefährt, kann er sich an einem durch die Felder dampfenden Miniaturbähnchen erfreuen, bei dem die darin hockenden Menschen an verkleidete Hunde oder Seehunde im Zirkus erinnerten. Vielleicht ist der Anblick gar nicht so erfreulich, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte, und eine ganz und gar ungute Stimmung kommt auf, als die Güterwagen der Eisenbahn den ruhelosen Wanderer des Meeres - gemeint ist der Hering (Clupea harengus) - aufnehmen, um ihn an die Stätten zu bringen, wo sich sein Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird. Am Kongofluß lassen zwischen 1890 und 1900 jedes Jahr schätzungsweise fünfhunderttausend namenlose, in keinem Jahresbericht verzeichnete eingeborene Opfer ihr Leben, während im selben Zeitraum die Aktien der Compagnie du Chemin de Fer du Congo von 320 auf 2850 belgische Franken steigen. Eine seinerzeit zwischen Halesworth und Southwold verkehrende Schmalspurbahn, deren Waggons, wie von verschiedenen Lokalhistorikern behauptet wird, ursprünglich bestimmt waren für den Kaiser von China, trägt Selysses ohne Verzug ins Reich der Mitte, wo kaum Geschehnisse auf ihn warten, die jenen im Kongo an Grauenhaftigkeit kaum nachstehen.
Literarische Werke sind mit keiner Lektüre in ihrer Vollständigkeit zu erfassen, das gilt für Sebalds Bücher in besonderem Maße, bei jeder neuen Lektüre läßt sich ein neuer Leseweg einschlagen. Den geringsten Gewinn von Austerlitz hat man nicht, wenn man ihn als das Buch der Bahnhöfe liest. Vier große Hauptbahnhöfe bestimmen das Buch, Antwerpen, der Liverpoolbahnhof in London, der Wilsonbahnhof in Prag und die Gare d’Austerlitz in Paris. Sie stehen im Bezirk des Textes ähnlich beherrschend da wie die vier Türme der Pariser Nationalbibliothek und man mag sich frage, ob es anstelle von La tour des lois, La tour des temps, La tour des nombres, La tour des lettres auch La gare des lois, La gare des temps, La gare des nombres und La gare des lettres heißen könne. Wahrscheinlich wäre weder ein Zugewinn noch ein Verlust an Sinn zu verzeichnen, der auch so schon unklar ist. Bei näherem Hinsehen aber sind es weniger Türme, die sich dort über den Texte erheben als riesige Gleisanlagen, die sich weit in ihn hinein verzweigen. Eine Verbindung scheint allerdings nicht zu bestehen zwischen diesen Bahnhöfen, nie sitzen wir in einem Zug, der uns von dem einen zu einem anderen fährt, so wie wir in den Zügen nach Venedig, Mailand oder auch Bonn gesessen haben. In Prag scheint es denn auch so, in einer von Kafka entworfenen Vision, als ob der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei.
Der Bahnhof von Antwerpen wird vom Nocturama aus in der entsprechend abgedunkelten Stimmung betreten. Hier triff Selysses auf Austerlitz, der ihn gleich in ein Gespräch über die Architektur und Baugeschichte des Bahnhofs zieht, das dann übergleitet in die Geschichte des Festungsbaus und schließlich die Katakomben und Folterkammern der nahe Antwerpen gelegenen Festung Breendonk erreicht.
Der Londoner Liverpoolbahnhof wird in nächtlichen Wanderungen durch London und über das auf verschütteten und überbauten Totenfelder errichtete Gleisgelände erreicht. Er wird zum Ort der Offenbarung, der Erleuchtung und Illumination der verlorenen Vergangenheit.
Der Wilsonbahnhof in Prag ist der Ort, an dem alles begann und wiederbeginnt. Von hier aus ist der kleine Jacques abgefahren, mit einer Wiederholung dieser Fahrt beginnt er die Recherche de sa vie volée.
Der Wilsonbahnhof in Prag ist der Ort, an dem alles begann und wiederbeginnt. Von hier aus ist der kleine Jacques abgefahren, mit einer Wiederholung dieser Fahrt beginnt er die Recherche de sa vie volée.
Vom Südostturm der Bibliothek aus - welchen Namen trägt er? Des temps würde wohl am passendsten sein - schauen wir mit Selysses auf den der rätselhaftesten aller Pariser Bahnhöfe, die Gare d’Austerlitz. Auf dem Ödland zwischen dem Rangiergelände war bis Kriegsende ein großes Sammellager. Über siebenhundert Eisenbahnzüge sind von dem Bahnhof abgegangen in die zerstörten Städte des Reichs mit dem aus den Wohnungen der Pariser Juden geholten Beutegut. Vom Bahnhof, der seinen Namen trägt, wird Austerlitz die Suche nach seiner verlorenen Vergangenheit fortsetzten wird. Hier nehmen wir endgültig Abschied von ihm. Selysses wird auf der Rückreise noch einmal am Antwerpener Bahnhof für eine Zwischenaufenthalt aussteigen.
Neben den vier Großstadtbahnhöfen gibt es einige kleinere Vorort- und Kleinstadtbahnhöfe. Zwei vor allem sind zu nennen, ein dunkler und ein heller. Die Bahnhöfe treten zurück hinter den von ihnen ausgehenden Fahrten. Ich bin auf dem Perron des trostlosen Bahnhofs Holešovice gestanden, die Geleise verliefen zu den beiden Seiten ins Unendliche. Im Zug dann habe ich an einem Gangfenster gelehnt und hinausgeschaut auf die draußen vorbeiziehenden Vororte, auf die Moldauauen und die Villen und Gartenhäuser am anderen Ufer. Als ich in Lovosice ausgestiegen bin, war der Platz vor dem Bahnhof verlassen.
Andererseits: Schon zu Beginn des Sommers, wenn wir mit der kleinen Dampfbahn auf dem Rheilffordd von Wrecsam westlich durch das Tal des Afon Dyfrdwy, merkte ich, wie mir das Herz aufzugehen begann. Schleife um Schleife folgte unser Zug den Windungen des Flußlaufs, durch das offene Waggonfenster schauten die grünen Wiesen herein, die steingrauen und die geweißelten Häuser, die glänzenden Schieferdächer, die silbrig wogenden Weiden, die dunkleren Erlengehölze, die dahinter aufsteigenden Schafweiden und die höheren, manchmal ganz blauen Berge und der Himmel darüber mit den immer von Westen nach Osten ziehenden Wolken. Dampffetzen flogen draußen vorbei, man hörte die Lokomotive pfeifen und spürte den Fahrtwind kühl an der Stirn. Zuletzt, als wir über die fast eine Meile lange, auf mächtigen Eichenpfosten ruhende Brücke auf die andere Seite hinüberrollten, zur Linken bis an den hellen Horizont die Bucht von Abermaw, wußte ich vor Freude kaum, wo ich hinsehen sollte.
Sebalds Prosa ist realistisch, streckt sich aber ständig, mit und ohne Zutun des Autors, mühelos, fast ist man versucht zu sagen hilflos, in den symbolischen Raum. Dem Leser bleibt es weitgehend überlassen, wo er die Grenze ziehen und auf welcher Seite er sich aufhalten will. Ganz so frei ist er, der Leser, dann aber wiederum auch nicht, denn er folgt dem deutenden Erleben des Selysses, der ihm immer nur einen Schritt voraus ist. Gern läßt er sich überreden, den Kaffeeausschank im Stehbuffet der Ferrovia als übermütig ausgestaltete Allegorie des Jüngsten Gerichts zu erleben. Gern fährt er mit der Franziskanerin und dem jungen Mädchen nach Mailand und liest im Beredten Italiener von einer Welt, in der alles auf das schönste geordnet ist. Gern auch läßt er sich mit der Eisenbahn durch Wales in das Paradies fahren, wo er vor Freude kaum weiß, wo er hinsehen soll. Zunehmend aber spürt er einen dunklen Sog, wie Bereyter ihn wohl gespürt hat. Er schaut herab von der Tour des temps und sieht die siebenhundert Eisenbahnzüge mit dem Beutegut aus den geplünderten Wohnungen der Juden, sieht die Güterwagen der Eisenbahn, die den ruhelosen Wanderer des, um ihn an die Stätten zu bringen, wo sich sein Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird, sieht Bergen Belsen und will verstummen wie Wyndham Le Strange. Er sieht die Leichenberge am Kongo und den turmhohen Aktienkurs der Compagnie du Chemin de Fer du Congo. In einem belgischen Restaurant sieht er eine alte Frau ihr Selchfleisch verzehren und fragt sich, ob ihr Geburtsjahr das der Fertigstellung der Kongobahn ist. Die Eisenbahn ist ihm zum exemplarischen Vehikel unseres widersprüchliche Welterlebens geworden.
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