Dienstag, 6. März 2012

Lichtverhältnisse

Im Nocturama

and oh so bright

Antwerpen
Zu Beginn von Austerlitz betreten wir mir Selysses den Nocturamazoo in Antwerpen, sehen verschiedene Tiere, die ihr von einem fahlen Mond beschienenes Dämmerleben führen, und schauen schließlich des längeren auf den Waschbären, der am Bächlein sitzt und immer denselben Apfelschnitz wäscht, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. So unvergeßlich er uns bleiben wird, hat der Waschbär damit sein Leben im Roman auch schon beendet, während Lichtverhältnisse der einen oder anderen Art uns weiter begleiten werden. Grundsätzlich ist in der Prosa zu unterscheiden zwischen begrenzten, umrissenen und grenzenlosen, fortwährenden Realitäten. Selysses hätte die Käfigtür öffnen können und der Waschbär hätte ihm fortan folgen können wie der Hund Struppi seinem Herrchen Tim im Comic. Diese Wandlung von einer begrenzten in eine fortwährende Realität ist im Bildmedium sicher einfacher zu bewerkstelligen als mit Worten, wir denken aber an die Kröte, die ein Protagonist in den Büchern der Autorin Fred Vargas ständig in der Tasche trägt, um sie dann und wann zu ihrer Erholung, zum Erstaunen der Anwesenden und zur Erinnerung der Leser vor sich auf den Tisch in eine Brasserie oder auch in einer Amtsstube zu setzen. Um uns nicht weiter in Details wenig artgerechter Tierhaltung zu verlieren, zurren wir die Definition enger und beschränken die hier gemeinten fortwährenden Realitäten auf die unmittelbaren Reflexe von Zeit und Raum. Immer herrschen irgendwelche Lichtverhältnisse, immer ist irgendeine Jahreszeit, immer ist es warm oder aber kalt.

Der Roman wird in aller Regel den umrissenen Realitäten den Vorzug geben und kann von der ausdrücklichen Erwähnung der fortwährenden weitgehend absehen. Wenn sein Held ein Behördengebäude betritt, unterstellt der Leser, daß es Tag ist und eher hell. Sollte die Handlung allerdings in der Nähe oder gar jenseits des Polarkreises spielen, ist der Leser für seine Mitarbeit auf einen entsprechenden Hinweis angewiesen. Umgekehrt kann man sich einen weitgehend auf die Behandlung der fortwährenden Realitäten beschränkten Roman vielleicht wünschen aber doch nur schwer vorstellen. Der Grad der Erwähnung fortwährender Realitäten ist für ein Prosawerk ein wichtiges Stilmerkmal. Die Extremwerte an beiden Skalenenden werden nicht erreicht, bei Sebald ist der Grad der Berücksichtigung fortwährender Realitäten überdurchschnittlich hoch. Wenn sich das Dämmerlicht des Nocturamas sogleich in das metaphorische Dunkel wandelt, das Maler und Philosophen vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens zu durchdringen versuchen, sind wir schon auf die hohe Bedeutung der Lichtverhältnisse im Buch eingestellt.
Der Text stellt das Nocturama und die Centraal Station von Antwerpen als ein Kontinuum dar. Versuche ich den Wartesaal mir vorzustellen, so sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, dann kommt mir der Wartesaal in den Sinn, eine Überblendung, die natürlich auch daher kommen konnte, daß die Sonne sich hinter den Dächern senkte, gerade als ich den Wartesaal betrat, den ein unterweltliches Dämmern erfüllte. Die mächtige Uhr hatte ein von Eisenbahnruß und Tabaksqualm eingeschwärztes Zifferblatt. Aus dem dusteren Himmel über dem Turm der Kathedrale ging gerade ein Schneeschauer nieder. Und weiter vom Bahnhof über die Behandlung dunkler Fragen des Festungsbaus bis nach Breendonk, das sich verdunkelt hatte in der Erinnerung, wohl auch weil es am Tag des Besuchs nur vom schwachen Schein weniger Lampen erhellt und für immer vom Licht der Natur getrennt war. Das Dunkel löste sich nicht auf, sondern verdichtete sich bei dem Gedanken, wie wenig wir festhalten können, was alles und wieviel in Vergessenheit gerät. - Antwerpen und Umgebung, ein Reich der Dunkelheit. In einem vor Zeiten vielleicht von Flußauen durchzogenen Tal loht der Widerschein der Hochöfen einer gigantischen Eisengießerei gegen den Himmel hinauf.

Bala
Ein Ort der Dunkelheit ganz anderer Art ist die kleine in Wales gelegene Stadt Bala und vornehmlich das Predigerhaus, in dem Austerlitz den zweiten Teil seiner Kindheit verbringt. In diesem unglücklichen Haus dämmerten die Zimmer in einem Halbdunkel dahin, das bald schon jedes Selbstgefühl auslöschte in mir. In der Finsternis senkten sich meine Lider. Wo eben nichts als eine bodenlose Düsternis gewesen war, leuchtete nun, umgeben von schwarzen Schatten, eine kleine Ortschaft herauf, und die Bergseiten traten hervor hell aus der Dunkelheit. Feuer- und Funkengaben stieben aus den Schmelzöfen eines Hüttenwerks bis hoch in den Himmel hinauf. In einer Tiefe aber von vielleicht hundert Fuß unter dem dunklen Wasser stehen die Kirche und drei Kapellen und drei Bierschenken. Gegen das allgegenwärtige Dunkel steht das Einweißen des Predigerhauses durch die hemmungslose Verwendung eines billigen Talkums, daß die Zimmer und Korridore mit einer weißen Schicht überzog, ähnlich einer Schneedecke. Nicht jede Erhellung aber führt zum Licht. Das verzweifelte Weißpudern kann aber nicht die noch verzweifeltere Frage unterbinden: What is it that so darkened our world. All die Tage war es nie richtig hell geworden.
Abermaw
Ganz anders sind die Lichtverhältnisse in Abermaw und dem ein wenig außerhalb dieses walisischen Seestädtchens gelegenen Landhaus der Fitzpatricks, Andromeda Cyfrinfa. Schon die Herfahrt führt vorbei an geweißelten Häusern mit glänzende Schieferdächer und an silbrig wogende Weiden. Am Ziel erstreckt sich bis an den hellen Horizont die Bucht von Abermaw und man weiß nicht, wo hinschauen vor Freude. Draußen schimmert das Meer, und über eine Felswand stürzt ein Bach zu Tal, dessen weißer Staub das Blätterdach der hohen Bäume durchweht. Weißgefiederte Kakadus umfliegen das Haus und rufen aus den Gebüschen heraus. In einem perlgrauen Dunst lösten sämtliche Formen und Farben sich auf; es gab keine Kontraste, keine Abstufungen mehr, nur noch fließende, vom Licht durchpulste Übergänge, ein einziges Verschwimmen, aus dem nur die allerflüchtigsten Erscheinungen noch auftauchten, und seltsamerweise ist es gerade die Flüchtigkeit dieser Erscheinungen gewesen, die so etwas wie ein Gefühl für die Ewigkeit gab. Aus der nebligen Tiefe des Gartens tritt uns Adela entgegen, in grünlichbraune Wollsachen gemummt, an deren hauchfein gekräuseltem Rand Millionen winziger Wassertropfen eine Art von silbrigen Glanz um sie bildeten.

Das Motiv des Paradieses, der hellen Ewigkeit, ist eins mit dem Motiv völliger Flüchtigkeit, des Schwebens auch. Die Abermawepisode schließt mit dem Tod der beiden Onkel. Evelyn hatte sich auf eine dunkle, ungute Weise um den schwarzen Kontinent und die vermeintlich im Unglauben schmachtenden schwarzen Seelen gesorgt, Alphonso hatte in seinem weißen Kittel und bedeckt mit einem hellen Strohhut die Umgebung in einer Weise aquarelliert, die die Farben verblassen und das Gewicht der Welt vor den Augen zergehen ließ. Das Doppelbegräbnis der beiden erinnert an eine flüchtige Aquarellskizze Turners, auf der wenige dunkle Figuren sich von der Lichtflut über dem Wasser absetzen. Durch das bewegte Gezweig eines Weißdorns dringen die letzten Strahlen der Sonne. Die schütteren Muster, die in ständiger Folge auf der lichten Fläche erschienen, hatten etwas Huschendes, Verwehtes. Gemeinsam blicken wir in die langsam verdämmernde Welt hinein.
London
Austerlitz denkt an die rußschwarze Glashallen der Bahnhöfe und das leise Davongleiten der hellerleuchteten, geheimnisvollen Pullmanzüge. Später nimmt er, um der Schlaflosigkeit zu entkommen, seine Nachtwanderungen auf durch die Stadt. Nur einzelne Nachtgespenster begegnen ihm auf diesen Wegen. Selbst an sonnigen Tagen dringt durch das gläserne Hallendach der Liverpool Street Station nur ein diffuses, vom Schein der Kugellampen kaum erhelltes Grau, und in dieser ewigen Düsternis bewegen sich ungezählte aus den Zügen entlassene oder auf sie zustrebende Menschen. Die hoch aufragenden gußeisernen Säulen sind eingeschwärzt von einer Schicht aus Koksstaub und Ruß. In einem wahren Lichtgewitter, das uns in Piranesis Kerker zu versetzen scheint, hat Austerlitz im Ladies Waiting Room des Bahnhofs sein Erweckungserlebnis: Eisgraues, mondscheinartiges Licht dringt durch einen unter der Deckenwölbung verlaufenden Gaden und hängt einem Netz oder einem schütteren, stellenweise zerfransten Gewebe über mir. Trotzdem diese Licht in der Höhe sehr hell war, eine Art Staubglitzern, hatte es den Anschein, als würde es von den Mauerflächen und den niedrigeren Regionen des Raumes aufgesogen, als vermehre es nur das Dunkel und verrinne in den schwarzen Striemen, ungefähr so wie Regenwasser auf den glatten Stämmen der Buchen oder an einer Fassade aus Gußbeton.

Prag in Böhmen
Das Lichtgewitter aus dem Ladies Waiting Room im Londoner Bahnhof überträgt sich bis nach Prag. Austerlitz, der mit dem Ziel anreist, sich Aufhellung über seine Herkunft zu verschaffen, lernt sogleich das grelle Licht fürchten, es könne zu viel des Schlimmen sein, das er sehen muß. Ich bin dort angekommen an einem viel zu hellen, gewissermaßen überbelichteten Tag, an dem die Menschen so krank und grau aussahen, als wären sie sämtlich chronische, nicht weit von ihren Ende entfernte Raucher. Im weiteren werden die Lichtverhältnisse auch in extreme Dunkelheit umschlagen, sich meistens aber in einem grauen Zwielicht bewegen, zu einer Gesundung des Lichts kommt es nicht. Ich schaute in das aus der Höhe herabsinkende Zwielicht. Angezogen vom Licht des Innenhofes bin ich achtlos vorübergegangen. Von den Faszikeln waren nicht wenige durch die Lichteinstrahlung gedunkelt und brüchig geworden. Der goldene Zierat der Ränge blinkte durch das Dämmer, das Proszenium war wie ein erloschenes Auge. Das schüttere Haar schwebte wie ein kleines weißes Wölkchen über seinem Haupt, die wäßrigen, schon halb blinden Augen waren nach der Helligkeit gerichtet. Das ganze von Teplice bis nach Most und Chomutov hinabreichende Gebiet lag in tiefer Finsternis, am Ende des Horizonts das Grenzgebirge als eine schwarze Wand. Wie Schiffe trieben in der Düsternis die Schemen der Kraftwerke, nur an der nachtfahlen Seite des Firmaments zeigten sich ein paar Sterne, rußig blakende Lichter. Die böhmischen Vulkane möchten ausbrechen und alles ringsum überziehen mit einem dunklen Staub. Bei der Abreise ist der Bahnhof von ein wahrhaft infernalisches Licht getaucht, das ausgeht von einer erhöhten Plattform, auf welcher gewiß an die hundert, in debilem Leerlauf vor sich hin dudelnde Spielautomaten standen.

Paris
In Paris müssen die Lichtverhältnisse unter den fortwährenden Wirklichkeiten den Primat an die Temperaturverhältnisse abtreten, bleiben in nachgeordneter Stellung aber wirksam. Es herrschten nach einer bereits mehr als zwei Monaten andauernden Trockenheit immer noch hochsommerliche Temperaturen. Die blaugraue Luft war unbeweglich, die hohen Steinfassaden zitterten wie Spiegelbilder in dem gleißenden Licht. Ich betrat das selbst mitten am Tag ziemlich dusteres Lokal. Jahre zuvor war der strahlend Himmel über Paris eisblau gewesen und in den Hohen Fensterscheiben spiegelte sich eine schneeweiße Wetterfahne. Jetzt aber hatte ich das Bedürfnis, mich niederzusetzen, bin dann aber doch weitergegangen gegen die blinkenden Strahlen der Sonne. In der Gare d’Austerlitz war die vollkommen leere Halle nur von einem spärlichen Licht erhellt. Gegen das Zwielicht hinauf blickte man gegen das kunstvolle Gitterwerk der Nordfassade, an der zwei winzige, wahrscheinlich mit Reparaturen beschäftigte Figuren sich an Seilen bewegten gleich schwarzen Spinnen in ihren Netz.


Maler und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen - es ist nicht einfach, den Tonfall dieses Satzes, der das Motiv der Lichtverhältnisse in Austerlitz und darüber hinaus eigentlich das Buch insgesamt gewissermaßen philosophisch einleitet und unterlegt, zuverlässig einzuschätzen. Ist es ein philosophisch-künstlerisches Unterfangen, so ist zu fragen, das Selysses begeistert, oder eins, dem er eher skeptisch gegenübersteht. Von einem steten Aufstieg aus dem Dunkel ins Licht, de découverte en découverte, toujours plus haut, vers la lumière, kann jedenfalls nicht die Rede sein. Mit weißem Talkum verdeckt der Tod in Bala sein Gesicht, in Prag ist das Licht krankhaft hell und infernalisch, das wahre, beglückende Licht in Andromeda Lodge ist ephemer. Gegen Ende des ersten Buchdrittels ist doppelseitig eine Photographie abgedruckt, auf der nichts als zwei Billardkugeln zu sehen sind, eine schwarze und eine weiße. Später sieht Austerlitz über einen Brückenrand zwei schneeweiße Schwäne auf schwarzem Wasser. Austerlitz hinterläßt Selysses eine große Anzahl schwarzweißer Bilder, die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben. Offenbar kehrt das Buch wiederholt zu einem Ausgangspunkt sauberer Trennung von Schwarz und Weiß zurück. In einem anderen Buch Sebalds heißt es: Und die Malerei, was überhaupt ist sie, wenn nicht eine Art Prosekturgeschäft angesichts des schwarzen Todes und der weißen Ewigkeit? Verschiedentlich kehrt er wieder, dieser extreme Kontrast, beispielsweise in dem schachbrettartigen Bodenmuster des belgischen Billardbildes aus Tongeren, das nicht von ungefähr den Gedanken nahelegt, daß der Maler in dem Rahmen, den er sich jeweils vorgibt, auf ein risikoreiches Spiel sich einläßt, in dem mit einer falschen Bewegung alles vertan ist. Ist es ein risikoreiches Spiel nur in der Malerei, so könnte man fragen, oder ist es das immer tödliche Spiel unseres Lebens zwischen Hell und Dunkel. Sowohl Austerlitz als auch Selysses werden zeitweise von einer endogene Eintrübung und Verdunkelung der Augen befallen, in der die vertrauten Figuren und Landschaften sich unterschiedslos auflösen in eine bedrohliche schwarze Schraffur. Bereits Bereyter hatte an einem ähnlichen Sehfehler gelitten und sich von dem mausgrauen Prospekt, welcher nun vor ihm sich erstreckte, ein gewisses Gefühl des Komforts versprochen. In der Zirkusvorstellung gegen Ende des Austerlitzbuches tritt eine mit seherischem Wissen ausgestattete schneeweiße Gans auf, ganz gegen Ende ist es dann aber eine graue Gans, die auf dem dunklen Wasser rudert. Die Skepsis des Dichters gilt nicht nur der Aufklärung im neuzeitlichen Sinn, sondern bereits sowohl der allerersten göttlichen Einschätzung: vidit Deus lucem quod esset bona - als auch der allerersten göttliche Entscheidung: divisit lucem ac tenebras. Die Ursünde wurde womöglich schon am Ersten Tag begangen, bevor noch der Mensch sündig werden konnte, als Sünde der ersten Unterscheidung, der ersten Weltverletzung.

Bei diesen Überlegungen geht es nicht darum, einen vermeintlich tieferen Sinn freizulegen, sondern dem Sinn zu lauschen, den eine einzelne Stimme eines vielstimmigen Werkes für sich genommen entwickeln kann. Losgelöst von den anderen Stimmen können sich rätselhafte, zuvor nie gehörte Klänge ergeben. 

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