Wohnungsnot
Sebald ist vorgehalten worden, er marginalisiere die Frau. Im Rahmen einer neutralen Wahrscheinlichkeitsberechnung ist das nicht anders zu erwarten, marginalisiert doch jedes Buch so gut wie alles, schiebt es nicht nur an den Rand, sondern darüber hinaus ins Literaturjenseits, was zwischen zwei Buchrücken paßt, ist, gemessen an dem, was draußen bleibt, eigentlich gar nicht der Rede wert. Die in der Prosaliteratur außerhalb des sozialistischen Realismus nur maßvolle Behandlung von Fragen der Stromversorgung und des Wasserbaus wird allerdings kaum bemängelt. Bemängelt wird das Fehlen von Elementen und Verhältnissen des sozialen Bereichs, die, wie der Genderproporz, gerade nachdrücklich eingefordert werden. Wohl dem Autor, der sich einem derartigen Druck nicht beugt oder, besser noch, ihn gar nicht erst wahrnimmt. Interessant wird es erst, wenn unbeachtete Dinge fehlen, die üblicherweise vorhanden sind. Man liest sie mit, auch wenn sie gar nicht da sind, so daß ihre Absenz lange Zeit nicht auffällt. Das sind dann Dinge, die der Autor ausgespart hat, bewußt oder unbewußt, mit welcher Absicht oder welcher Not gehorchend auch immer. Das Fortgelassene besagt nicht weniger als das Zugelassene, solange es an diesem spürbar bleibt.
Auch ein mäßig aufmerksamer Leser wird bemerken, daß unter den zahlreichen Personen, die Selysses beim Ritorno in patria in der Ortschaft W. aufruft, die Eltern fehlen. Vorgeführt wird lediglich die menschenleere Wohnstube. Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. – Offenbar nicht das, was Selysses als trautes Heim hätte akzeptieren können.
Einmal sensibilisiert, findet der Leser innerhalb unter Sebalds Personal nur wenige Exemplare, denen es besser ergeht. Daß Austerlitz das Predigerhaus in Bala, in dem es ihn ständig friert, nicht als Vaterhaus annimmt und nicht als trautes Heim erlebt, bedarf keiner längeren Ausführungen. In der wiedergefundenen Prager Kindheit sieht es besser aus. Jacquot lebt aber weniger bei den Eltern als bei der die Aufgabe eines Kinderfräuleins wahrnehmenden Vera. Der Vater ist kaum zuhaus und die Mutter wegen ihres Schauspielerberufs nicht zu den üblichen Stunden. Einige glückliche Tage verleben alle vier zusammen fern vom trauten Heim auf Reisen in Marienbad, im Osborne-Balmont gleich hinter dem Palace Hotel.
Bereyter verbringt seine glückliche Kindheit weniger in der trauten Umgebung der elterlichen Wohnung als in deren Ladensgeschäft, dem Emporium. Auf seinem Dreirädchen habe er sich meistens auf der untersten Ebene fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen seien. Stundenlang sei er damals vorbeigeradelt an den ihm endlos erscheinenden dunklen Reihen der Stoffballen, den glänzenden Stiefelschäften, den verzinkten Gießkannen, dem Peitschenständer und dem für ihn besonders bezaubernden Spezialschrank, in welchem hinter gläsernen Fensterchen Gütermanns Nähseiden in sämtlichen Farben des Spektrums angeordnet gewesen seien.
Aurach sieht sich in seiner Kindheit vorwiegend auf Reisen mit dem Vater. Das Wohnzimmer der Eltern betritt er vom Ausstellungspalast in Trafford Park aus durch eine trompe-l’oeil-Tür und findet dort Frohmann aus Drohobycz auf dem Kanapee sitzend. Selwyn erinnert sich an seine Kindheit erst ab dem Augenblick, als er, im Alter von sieben Jahren, zu dem litauischen Dorf hinausfährt, um es nie wiederzusehen. Er sieht sich mit dem Kinderlehrer im Cheder, er sieht die leergeräumten Zimmer, an das noch bewohnte Elternhaus erinnert er sich nicht. Cosmo Solomon hat nie Wohnungssorgen gehabt. Lange hatte er versucht, in Nobelhotels, auf Rennbahnen oder in Spielkasinos möglichst viel Geld zu verbrennen, ohne damit zum Ende zu gelangen. Als es dann mit ihm zuende geht, hat man ihn nach dreitägiger Suche in seinem seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer gefunden Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren, nach Boston und nach Halifax. Wie es ihm während seiner Kindheit in diesem oder einem anderen Zimmer ergangen ist, erfahren wir nicht.
Aber nicht nur bei den Wohnungen der Kindheit besteht Not. Was Selysses anbelangt, so können wir nur aus einigen kargen Indizien erschließen, daß er behaust und nicht ständig nur unterwegs ist. Zugang zu seiner Wohnung erhalten wir ebenso wenig, wie er als Kind, oder irgend jemand sonst, die Wohnung der Mathild Seelos betreten durfte. Austerlitz’ Wohnung in der Alderney Street ist auf die Bedürfnisse aus dem Leben gegangener Motten kaum weniger eingestellt als auf die lebender Menschen. Bereyter, so schein es, hat bei Mme Landau in der Schweiz ein Heim gefunden, er gibt aber seine Wohnung in der deutschen Ortschaft S. nicht auf und kehrt dorthin zurück um Zwecke der Selbsttötung. Selwyn hat sein Haus weitgehend zugunsten der in einer entfernten Ecke des Gartens gelegenen kleinen Einsiedelei aufgegeben. Alec Garrad lebt fast nur noch in dem Stadel, in dem sein Tempelmodell der Vollendung entgegenwächst. Die gediegene Frage, ob er noch wohne oder schon lebe, prallt an Aurach ab, er haust in seinem Atelier, der bei der Malarbeit anfallende Staub ist ihm der liebste Gefährte. Als seine Mittel es erlauben, nimmt er Wohnung in einem verfallenden Luxushotels vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die legendäre Dampfheizung funktioniert bestenfalls noch stotternd, aus den Wasserhähnen rieselt der Kalk, die Fensterscheiben sind mit einer dichten, vom Regen marmorierten Staubschicht überzogen. Das Haus der Ashburys in Irland hat gewisse Züge eines trauten Heims, mehr aber noch die einer verwunschenen Burg. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder saßen die drei ledigen, beinahe gleichaltrigen Töchter auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiteten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort.
Das einzige uneingeschränkt traute Heim schildert Aurachs Mutter Luisa, und hier greift Sebald auf einen vorgefundenen Text zurück, den er nur leicht verschiebt. Als Kandidat zu nennen ist sicher Andromeda Lodge, aber für Austerlitz ist es ein Ferienparadies, und wie es in der Abwesenheit von Gerald und Austerlitz dort aussieht, wissen wir nicht. Erwähnt werden muß schließlich Romanas Elternhäuschen, das mit seinem geschindelten, vielfach geflickten Walmdach einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleichsah. Immer schaute grad der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fensterchen heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen. Es ist eine mit Liebe und Scherz gezeichnete Idylle, die einer realistischen Betrachtung wohl nicht standhalten könnte.
Sebald hat sich immer wieder zu den Prosaautoren des neunzehnten Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum bezogen. Der Nachsommer ist wenig mehr als eine Zelebration der rechten Unterkunft des Menschen. Im Grünen Heinrich unterhält die Mutter ein Feuerchen, das von fast nichts brennt, und die Wohnung ist dem angepaßt. Es ist nicht schwer zu erkennen, welcher der beiden Dichter Sebald näher stand. Wollte man man sich nach dem kurzen Ausflug in die Komparatistik auch noch der biographischen Methode zuwenden, wären aus dem Mißfallen am elterlichen Wohnzimmer weitreichende literarische Folgen abzuleiten.
Auch ein mäßig aufmerksamer Leser wird bemerken, daß unter den zahlreichen Personen, die Selysses beim Ritorno in patria in der Ortschaft W. aufruft, die Eltern fehlen. Vorgeführt wird lediglich die menschenleere Wohnstube. Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam, als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden. Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten, und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte. – Offenbar nicht das, was Selysses als trautes Heim hätte akzeptieren können.
Bereyter verbringt seine glückliche Kindheit weniger in der trauten Umgebung der elterlichen Wohnung als in deren Ladensgeschäft, dem Emporium. Auf seinem Dreirädchen habe er sich meistens auf der untersten Ebene fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen seien. Stundenlang sei er damals vorbeigeradelt an den ihm endlos erscheinenden dunklen Reihen der Stoffballen, den glänzenden Stiefelschäften, den verzinkten Gießkannen, dem Peitschenständer und dem für ihn besonders bezaubernden Spezialschrank, in welchem hinter gläsernen Fensterchen Gütermanns Nähseiden in sämtlichen Farben des Spektrums angeordnet gewesen seien.
Aurach sieht sich in seiner Kindheit vorwiegend auf Reisen mit dem Vater. Das Wohnzimmer der Eltern betritt er vom Ausstellungspalast in Trafford Park aus durch eine trompe-l’oeil-Tür und findet dort Frohmann aus Drohobycz auf dem Kanapee sitzend. Selwyn erinnert sich an seine Kindheit erst ab dem Augenblick, als er, im Alter von sieben Jahren, zu dem litauischen Dorf hinausfährt, um es nie wiederzusehen. Er sieht sich mit dem Kinderlehrer im Cheder, er sieht die leergeräumten Zimmer, an das noch bewohnte Elternhaus erinnert er sich nicht. Cosmo Solomon hat nie Wohnungssorgen gehabt. Lange hatte er versucht, in Nobelhotels, auf Rennbahnen oder in Spielkasinos möglichst viel Geld zu verbrennen, ohne damit zum Ende zu gelangen. Als es dann mit ihm zuende geht, hat man ihn nach dreitägiger Suche in seinem seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer gefunden Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren, nach Boston und nach Halifax. Wie es ihm während seiner Kindheit in diesem oder einem anderen Zimmer ergangen ist, erfahren wir nicht.
Aber nicht nur bei den Wohnungen der Kindheit besteht Not. Was Selysses anbelangt, so können wir nur aus einigen kargen Indizien erschließen, daß er behaust und nicht ständig nur unterwegs ist. Zugang zu seiner Wohnung erhalten wir ebenso wenig, wie er als Kind, oder irgend jemand sonst, die Wohnung der Mathild Seelos betreten durfte. Austerlitz’ Wohnung in der Alderney Street ist auf die Bedürfnisse aus dem Leben gegangener Motten kaum weniger eingestellt als auf die lebender Menschen. Bereyter, so schein es, hat bei Mme Landau in der Schweiz ein Heim gefunden, er gibt aber seine Wohnung in der deutschen Ortschaft S. nicht auf und kehrt dorthin zurück um Zwecke der Selbsttötung. Selwyn hat sein Haus weitgehend zugunsten der in einer entfernten Ecke des Gartens gelegenen kleinen Einsiedelei aufgegeben. Alec Garrad lebt fast nur noch in dem Stadel, in dem sein Tempelmodell der Vollendung entgegenwächst. Die gediegene Frage, ob er noch wohne oder schon lebe, prallt an Aurach ab, er haust in seinem Atelier, der bei der Malarbeit anfallende Staub ist ihm der liebste Gefährte. Als seine Mittel es erlauben, nimmt er Wohnung in einem verfallenden Luxushotels vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die legendäre Dampfheizung funktioniert bestenfalls noch stotternd, aus den Wasserhähnen rieselt der Kalk, die Fensterscheiben sind mit einer dichten, vom Regen marmorierten Staubschicht überzogen. Das Haus der Ashburys in Irland hat gewisse Züge eines trauten Heims, mehr aber noch die einer verwunschenen Burg. Wie von einem bösen Bannspruch getroffene Riesenkinder saßen die drei ledigen, beinahe gleichaltrigen Töchter auf dem Fußboden zwischen den Bergen ihres Materiallagers und arbeiteten, selten nur ein Wort miteinander wechselnd, in einem fort.
Das einzige uneingeschränkt traute Heim schildert Aurachs Mutter Luisa, und hier greift Sebald auf einen vorgefundenen Text zurück, den er nur leicht verschiebt. Als Kandidat zu nennen ist sicher Andromeda Lodge, aber für Austerlitz ist es ein Ferienparadies, und wie es in der Abwesenheit von Gerald und Austerlitz dort aussieht, wissen wir nicht. Erwähnt werden muß schließlich Romanas Elternhäuschen, das mit seinem geschindelten, vielfach geflickten Walmdach einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleichsah. Immer schaute grad der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fensterchen heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen. Es ist eine mit Liebe und Scherz gezeichnete Idylle, die einer realistischen Betrachtung wohl nicht standhalten könnte.
Sebald hat sich immer wieder zu den Prosaautoren des neunzehnten Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum bezogen. Der Nachsommer ist wenig mehr als eine Zelebration der rechten Unterkunft des Menschen. Im Grünen Heinrich unterhält die Mutter ein Feuerchen, das von fast nichts brennt, und die Wohnung ist dem angepaßt. Es ist nicht schwer zu erkennen, welcher der beiden Dichter Sebald näher stand. Wollte man man sich nach dem kurzen Ausflug in die Komparatistik auch noch der biographischen Methode zuwenden, wären aus dem Mißfallen am elterlichen Wohnzimmer weitreichende literarische Folgen abzuleiten.
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