Freitag, 11. Januar 2013

George Orlando Le Strange

Miles Dei per saecula saeculorum

Von links tritt er uns entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten. Georgius Miles, Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen. Er geht in die Welt hinaus und zwar nach Regensburg, wo er ein Schiff besteigt, um, wie anderthalb Jahrtausend nach ihm Jakob Philipp Fallmerayer, die Donau hinabzufahren, in die Ägäis, durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus in das Schwarze Meer, die kleinasiatische Küste entlang bis nach Trapezunt, von wo ihn der Hilferuf der Prinzessin erreicht hat.

Schon sieht er das Untier mit zwei noch flügellosen Jungen aus seiner Brut. Einiges an Knochen und Gebein, Überreste der zur Befriedigung des Drachen geopferten Tiere und Menschen, liegen verstreut herum. Die eher nördlich anmutende Gegend erhebt sich in den blauen Himmel, auf einem Meeresarm zieht ein Schiff mit geschwellten Segeln dahin. Alles ist Gegenwart und diesseitig. Das wellige Land, die gepflügten Felder, die Hecken und Hügel, die Stadt mit ihren Dächern, Türmen und Zinnen und der Galgen, dessen baumelnde Gehenkte der Szenerie eine eigene Lebendigkeit verleihen. Gebüsch, Gesträuch und Blattwerk sind wie mit Liebe gemalt und auch die Tiere, der landeinwärts fliegende Storch, die Hunde, der Schafbock und die Pferde der sieben Berittenen, seiner Begleiter, unter denen sich ein kalmückischer Bogenschütze befindet mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht. Er selbst, von dessen Rüstung das Silber abgeblättert ist, den aber der Glanz des rotgoldenen Haupthaars noch umgibt, nimmt Abschied von der Principessa in ihrem Federkleid. Schon schweift sein männlicher Blick ab auf die schwere blutige Arbeit, während ihr Blick verharrt in der Beschlossenheit des weiblichen Auges.

Nun ist sie bereits getan, die blutige Arbeit. Aus dem Himmelsblau strahlt es wie eine goldene Scheibe hervor, darin die Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der heilige Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben längst ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht des Drachentöters. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Con cappello di paglia - sehr verwunderlich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken. Das labile Gleichgewicht dieser Szene, oder besser vielleicht: die Unentschiedenheit zwischen Vergangenheit und Zukunft wird den Ritter fortan nicht mehr verlassen.

Für lange Jahrhunderte verliert sich dann seine Spur. Unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg ist sie (das weibliche Element in seinem Wesen hatte für eine gewisse Zeit die Oberhand gewonnen) in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand zurückgekehrt ist. Die Dorfbewohner haben sich über sie dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür heimgekommen sei, und sie hinter ihrem Rüchen eine rote Betschwester geheißen. Sie ihrerseits hat sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. In ihrer Bibliothek standen neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun. Die Unentschiedenheit zwischen den Zeiten hält an.

Im zweiten Krieg hat er zum männlichen Wesen zurückgefunden und nimmt teil an der Befreiung von Bergen Belsen, dringt wieder ein in den finstren Wald, um das Untier zu töten. Gleich nach der blutigen Arbeit aber kehrt er auf seine Güter zurück. Nach und nach entläßt er das Hauspersonal ebenso wie die Landarbeiter, Gärtner und Verwalter. Als Haushälterin verschreibt er sich eine einfache junge Frau namens Florence Barnes unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt. Er sei in späteren Jahren, so heißt es, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, er, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer habe er in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.

Er muß dann sein Eremitendasein doch wieder aufgegeben haben, denn 1987 treffen wir ihn im deutschen Konsulat zu Mailand. Sein Äußeres zeigt, daß er die Helle des Daseins in gewisser Weise wiedergefunden hat. Er trägt einen weißen Sommeranzug und überaus elegante steifleinene Schuhe mit Lederbesatz. In der Hand dreht er, einmal links herum, einmal rechts herum den schon bekannten formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den Cappello di paglia. Er ist jetzt Haupt einer Artistentruppe bestehend aus seiner Frau, drei Töchtern und der Nonna, lauter Santini, kleine Heilige. Seinen wenigen Bewegungen sieht man an, daß das Kochen einer Eierspeise auf einem Hochseil, wie Blondin es bei seinen Auftritten sensationellerweise vollführt hatte, für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre. An freien Tagen aber steht er gern am Ende der hohen Friedhofsmauer in der Ortschaft W. und durchbohrt ohne Unterlaß mit einem Spieß der zu seinen Füßen liegenden Nachbildung eines greifartigen Vogeltiers den Rachen.

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