Richter Leser Dichter
Man könne Sebald den Dichter nicht ohne Sebald den Polemiker und literaturwissenschaftlichen Provokateur haben, heißt es. Richtig ist das nicht. Jeder kann sich die vier Prosabände und noch dies und jenes kaufen und sich um den Rest nicht kümmern, und genau so verfahren die weitaus meisten Leser auch. Am Autor orientierte Literaturwissenschaft allerdings kann diesen Weg nicht gehen. Fridolin Schley beansprucht, eine durch das Gesamtwerk in seinen verschiedenen Teilen sich ziehenden Strang freizulegen, an dem entlang Sebald sich im Rahmen einer Bourdieu abgelesenen Positionierungsstrategie nach dem Ausschalten mißliebiger Konkurrenten per Verriß auf den begehrten Thron des Holocaustherrschers lanciert habe.
Schley merkt den das Prosawerk im Gegensatz zur Essayistik dominierenden samtenen Ton an, zieht daraus aber keine weitgehenden Schlüsse. Die frühen Untersuchungen zu Sternheim und Döblin sind gekennzeichnet von Adornos aggressiven, sich immer peitschenartig einrollenden Satzmustern. Der Leser duckt sich, jederzeit kann es auch ihn treffen, ohne daß er etwas Böses getan hätte, ist vielleicht er gemeint. Die Prosa dagegen bewegt sich still dahin auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn. Innerhalb der kraß unterschiedlichen Sprachformen kann nicht ein und dieselbe Weltwahrnehmung stattfinden, und es wäre schon verwunderlich, wenn Sebald die von Schley vermutete perfide Strategie gleichsam in einer Zangenbewegung von zwei Welten aus zu verfolgen vermocht hätte.
Wäre andererseits Sebald nicht zum Prosadichter geworden, würde sich kaum noch jemand mit seinen literaturkundlichen Arbeiten beschäftigen, und auch so, wie es ist, scheint eine isolierte Betrachtung dieses Werkteils wenig sinnvoll. Einzelne Arbeiten, zumal die die frühen über Sternheim oder Döblin, lassen sich behandeln, ohne viel nach links oder rechts zu schauen, überblickt man aber die gesamte wissenschaftlich-kritische Produktion, fällt ins Auge, daß sie dem literarischen Werk immer ähnlicher wird, ihm mit Logis in einem Landhaus sehr nahe kommt und in J’aurais voulu que ce lac eūt été l’Océan mit ihm unterschiedslos verschmilzt. Es gibt sicherlich die verschiedensten Wege, die von dem einem Werkteil zum anderen führen, hier soll ein kleiner Nebenpfad betreten werden in der Verfolgung zweier Personen im Erzählwerk, die eine Art Schlepperdienst leisten beim Grenzübetritt, Komparsen, an die sich mancher Sebaldleser vielleicht gar nicht erinnert. Der Dichter hat uns allerdings aufgefordert, die Komparsen nicht geringer zu achten als die Hauptdarsteller und ihnen die gleiche durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen. Es geht um Frederick Farrar in England und um Salvatore Altamura in Verona.
Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Schley beobachtet Sebald bei der Ausübung des literarischen Richteramt, nicht selten ähnelt es dem des Scharfrichters. Davon hat er sich in der Gestalt des Richters Farrar abgewandt und blickt mit Entsetzen zurück auf sein Vorleben. Seine Tage füllt er, wie wir wissen, seither gewohnheitsmäßig mit Garten- und Schreibarbeiten aus.
Salvatore Altamura sitzt vor der Bar mit einer grünen Markise und liest, die Brille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwas zu entziffern vermochte. Seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rette sich in die Prosa wie auf eine Insel. Diesmal ist es ein Buch des sizilianischen Autors Sciascia. Weit entfernt, den vom jungen Literaturwissenschafler Sebald geforderten Schritt vom bloßen Kommentar zur vertieften und üblicherweise vernichtenden Kritik zu tun, bleibt er diesseits des Kommentars, er erzählt Selysses aus dem Buch. Salvatore Altamura ist der Leser, den ein Autor sich wünscht. Der Dichter hat den Leser auf die von ihm entdeckte und urbar gemachte Insel gelockt.
Selysses' Reise durch Oberitalien hat weithin den Charakter einer Flucht, man kann aber nicht sagen, er rette sich in die Prosa. Zweimal allerdings wird ihm ein Eisenbahnabteil durch die Anwesenheit bezaubernder Leserinnen zu einer Insel der Seligen, einmal im Zug nach Mailand das junge Mädchen und die Franziskanerin und dann, auf der Rückreise schon, entlang der Rheinstrecke die Winterkönigin, die im geheimnisvollen Buch einer nicht weniger geheimnisvollen Autorin liest. Beide Male bleibt er wie ein später Parzival dumm und stumm und verpaßt die Erlösung.
Mehr als in die Bücher rettet Selysses sich zu den Malern und ihren Bildern, die er nicht mit dem Blick des Kunstkritikers betrachtet, sondern einfach von sich erzählen läßt. Wiederholt trifft er dabei auf seinen Schutzpatron Georg und damit auf sich selbst. Als er aber im Mailänder Konsulat Giorgio Santini (GS) trifft, hat er Pisanellos Bild San Giorgio (SG) con cappello di paglia noch nicht gesehen, erkennt den Georgshut in der Hand des Artisten nicht, erkennt den Artisten nicht als die Reinkarnation des Heiligen, und sieht nicht, daß er selbst, Wie Giorgio Santini (WGS), durch die Niederschrift der Schwindel.Gefühle, mit der er beschäftigt ist, zum Artisten wird. An einer anderen Stelle des Werkes ist er fasziniert von George Wyndham Le Strange (GWS) und durchgehend besteht die Verbundenheit mit WittGenStein*.
Das Spiel mit den Initialen rechnet zum Aufwärmprogramm des Artisten, dessen er im Gewand des Sand Sebolt für sein thermisches Kunststück ganz besonders bedarf. Im Herd eines um Holz geizenden Wagners entfacht er ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für Selysses von besonderer Bedeutung gewesen, und er hat sich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen. Sein eigentliches Publikum aber hat WGS als Hochseilartist. Die schöne, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn erweist sich als schmaler Grat, der an den Rändern der Ewigkeit entlangführt, und immer wieder erspürt man mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Taglicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen heranziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes.
Niemand wird sagen, Sebald habe sich zu Döblin wie auf eine Insel gerettet, das Landhaus aber, in dem er einigen seiner bevorzugten Kollegen Logis anbietet, wirkt wie eine Insel im Meer des Daseins. J’aurais voulu que ce lac eūt été l’Océan führt uns auf die Peterinsel im Bieler See, auf die sich, lange vor dem angehenden Prosaautor Sebald, sein Confrère Rousseau gerettet hatte. Rousseau wird weder kommentiert noch kritisiert, von ihm wird erzählt, so wie in der Prosa von Stendhal, Conrad oder Borges erzählt wird.
* Erhellender E-Brief Uwe Schüttes
Schley merkt den das Prosawerk im Gegensatz zur Essayistik dominierenden samtenen Ton an, zieht daraus aber keine weitgehenden Schlüsse. Die frühen Untersuchungen zu Sternheim und Döblin sind gekennzeichnet von Adornos aggressiven, sich immer peitschenartig einrollenden Satzmustern. Der Leser duckt sich, jederzeit kann es auch ihn treffen, ohne daß er etwas Böses getan hätte, ist vielleicht er gemeint. Die Prosa dagegen bewegt sich still dahin auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn. Innerhalb der kraß unterschiedlichen Sprachformen kann nicht ein und dieselbe Weltwahrnehmung stattfinden, und es wäre schon verwunderlich, wenn Sebald die von Schley vermutete perfide Strategie gleichsam in einer Zangenbewegung von zwei Welten aus zu verfolgen vermocht hätte.
Wäre andererseits Sebald nicht zum Prosadichter geworden, würde sich kaum noch jemand mit seinen literaturkundlichen Arbeiten beschäftigen, und auch so, wie es ist, scheint eine isolierte Betrachtung dieses Werkteils wenig sinnvoll. Einzelne Arbeiten, zumal die die frühen über Sternheim oder Döblin, lassen sich behandeln, ohne viel nach links oder rechts zu schauen, überblickt man aber die gesamte wissenschaftlich-kritische Produktion, fällt ins Auge, daß sie dem literarischen Werk immer ähnlicher wird, ihm mit Logis in einem Landhaus sehr nahe kommt und in J’aurais voulu que ce lac eūt été l’Océan mit ihm unterschiedslos verschmilzt. Es gibt sicherlich die verschiedensten Wege, die von dem einem Werkteil zum anderen führen, hier soll ein kleiner Nebenpfad betreten werden in der Verfolgung zweier Personen im Erzählwerk, die eine Art Schlepperdienst leisten beim Grenzübetritt, Komparsen, an die sich mancher Sebaldleser vielleicht gar nicht erinnert. Der Dichter hat uns allerdings aufgefordert, die Komparsen nicht geringer zu achten als die Hauptdarsteller und ihnen die gleiche durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen. Es geht um Frederick Farrar in England und um Salvatore Altamura in Verona.
Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Schley beobachtet Sebald bei der Ausübung des literarischen Richteramt, nicht selten ähnelt es dem des Scharfrichters. Davon hat er sich in der Gestalt des Richters Farrar abgewandt und blickt mit Entsetzen zurück auf sein Vorleben. Seine Tage füllt er, wie wir wissen, seither gewohnheitsmäßig mit Garten- und Schreibarbeiten aus.
Salvatore Altamura sitzt vor der Bar mit einer grünen Markise und liest, die Brille in die Stirn geschoben, in einem Buch, das er so nah vor sein Gesicht hielt, daß es unvorstellbar war, wie er auf diese Weise etwas zu entziffern vermochte. Seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rette sich in die Prosa wie auf eine Insel. Diesmal ist es ein Buch des sizilianischen Autors Sciascia. Weit entfernt, den vom jungen Literaturwissenschafler Sebald geforderten Schritt vom bloßen Kommentar zur vertieften und üblicherweise vernichtenden Kritik zu tun, bleibt er diesseits des Kommentars, er erzählt Selysses aus dem Buch. Salvatore Altamura ist der Leser, den ein Autor sich wünscht. Der Dichter hat den Leser auf die von ihm entdeckte und urbar gemachte Insel gelockt.
Selysses' Reise durch Oberitalien hat weithin den Charakter einer Flucht, man kann aber nicht sagen, er rette sich in die Prosa. Zweimal allerdings wird ihm ein Eisenbahnabteil durch die Anwesenheit bezaubernder Leserinnen zu einer Insel der Seligen, einmal im Zug nach Mailand das junge Mädchen und die Franziskanerin und dann, auf der Rückreise schon, entlang der Rheinstrecke die Winterkönigin, die im geheimnisvollen Buch einer nicht weniger geheimnisvollen Autorin liest. Beide Male bleibt er wie ein später Parzival dumm und stumm und verpaßt die Erlösung.
Mehr als in die Bücher rettet Selysses sich zu den Malern und ihren Bildern, die er nicht mit dem Blick des Kunstkritikers betrachtet, sondern einfach von sich erzählen läßt. Wiederholt trifft er dabei auf seinen Schutzpatron Georg und damit auf sich selbst. Als er aber im Mailänder Konsulat Giorgio Santini (GS) trifft, hat er Pisanellos Bild San Giorgio (SG) con cappello di paglia noch nicht gesehen, erkennt den Georgshut in der Hand des Artisten nicht, erkennt den Artisten nicht als die Reinkarnation des Heiligen, und sieht nicht, daß er selbst, Wie Giorgio Santini (WGS), durch die Niederschrift der Schwindel.Gefühle, mit der er beschäftigt ist, zum Artisten wird. An einer anderen Stelle des Werkes ist er fasziniert von George Wyndham Le Strange (GWS) und durchgehend besteht die Verbundenheit mit WittGenStein*.
Das Spiel mit den Initialen rechnet zum Aufwärmprogramm des Artisten, dessen er im Gewand des Sand Sebolt für sein thermisches Kunststück ganz besonders bedarf. Im Herd eines um Holz geizenden Wagners entfacht er ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für Selysses von besonderer Bedeutung gewesen, und er hat sich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen. Sein eigentliches Publikum aber hat WGS als Hochseilartist. Die schöne, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn erweist sich als schmaler Grat, der an den Rändern der Ewigkeit entlangführt, und immer wieder erspürt man mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Taglicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen heranziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes.
Niemand wird sagen, Sebald habe sich zu Döblin wie auf eine Insel gerettet, das Landhaus aber, in dem er einigen seiner bevorzugten Kollegen Logis anbietet, wirkt wie eine Insel im Meer des Daseins. J’aurais voulu que ce lac eūt été l’Océan führt uns auf die Peterinsel im Bieler See, auf die sich, lange vor dem angehenden Prosaautor Sebald, sein Confrère Rousseau gerettet hatte. Rousseau wird weder kommentiert noch kritisiert, von ihm wird erzählt, so wie in der Prosa von Stendhal, Conrad oder Borges erzählt wird.
* Erhellender E-Brief Uwe Schüttes
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