Mittwoch, 9. Januar 2013

Uisce Beatha

Wasserscheu

Selysses’ Vorfahren sind mit dem Schiff nach Amerika ausgewandert, er selbst benutzt über den Ozeanen das Flugzeug. Generell schaut er lieber vom Land aus aufs Meer - am liebsten durch die Fenster des Sailor’s Reading Room in Southwold -, als daß er sich auf das Wasser begibt. Von dem, was sich über unseren Köpfen tut, konnte Tiepolo ein in seiner Zeit überzeugendes Bild verschaffen, über das Wasser ist Jesus hinweggegangen, ohne herabzuschauen, die Jünger haben die Fische herausgezogen, genaueres von der Unterwasserwelt wollten sie nicht wissen. Alles dort drunten spielt sich ab in wüster Finsternis und bietet, so scheint es, das erschreckende Bild einer an ihrem eigenen Überfluß erstickenden Natur. Nach einer Berechnung Buffons würde die Menge der Heringe, könnten sie sich nur ungestört vermehren, bald das zwanzigfache Volumen der Erde ausmachen, da kann Fischerei nicht anders denn als Weltenpflege verstanden werden. Zur Schonung etwaiger zartfühlender Gemüter wurde zudem die Lehrmeinung entwickelt, die physiologische Organisation der Fische schütze sie vor der Empfindung der Angst und der Schmerzen. In Wahrheit aber wissen wir nichts von den Gefühlen der Herings, und noch weniger wissen wir von den Makrelen. Wo sie überall herumziehen, das war lange und ist auch heute noch ein Rätsel. Wahrscheinlich sind die Zusammenhänge zwischen dem Leben und Sterben der Menschen und der Makrelen weitaus komplizierter, als wir erahnen, und keiner von uns weiß letztlich, wie er dem anderen auf den Teller kommt.

Die Makrelen sehen wir vom Boot aus nur knapp unter der Wasseroberfläche. In die Tiefe der See schaut Thomas Browne in seinem Kompendium der unterseeischen Botanik, in welchem alles, was auf den Felsengebirgen und in den Tälern des Meeresgrundes wächst, sämtliche Algen, Korallen und Wasserfarne, von niemandem bisher in Augenschein genommene, von den warmen Strömungen durchwogte Stauden und mit den Passatwinden von Kontinent zu Kontinent treibende Pflanzeninseln beschrieben und dargestellt sind. Ähnlich beschreibt Alphonso die submarinen Gärten klaftertief unter der Oberfläche des Meers, wo aus den Stein durch die Brandung Höhlungen und Becken gebrochen und geschliffen worden sind seit Jahrmillionen, die unendliche Vielfalt des zwischen dem Pflanzlichen, Tierischen und Mineralischen oszillierenden Wachstums, die Zooiden und Korralinen, Seeanemonen, Seefächer und Seefedern, die Blumentierchen und Krustazeen. Browne allerdings beschreibt etwas, was noch niemand jemand in Augenschein genommen hat, ähnlich wie Tiepolo den Himmel nicht wirklich kannte, und Alphonso verläßt nicht den unmittelbaren Küstenbereich. Die Tiefen der Ozeane bleiben verborgen.

Aber hier soll es gar nicht um die großen Ozeane, sondern um kleinere Gewässer gehen. Das Wasser, das durch Venedigs Kanäle fließt, ist Meereswasser, aber es ist erheblich kontingentiert im Vergleich zur offenen See. Schwerbeladen, bis zur Bordkante im Wasser, zogen die Kähne vorbei, rauschend tauchten sie aus dem Nebel auf, durchpflügten die aspikfarbene Flut und verschwanden wieder in den weißen Schwaden der Luft. Aufrecht und reglos standen die Steuermänner im Heck. Die Hand am Ruder, schauten sie unverwandt voraus, jeder einzelne ein Sinnbild der Wahrheitsbereitschaft. Wie sie zu dieser Sinnbildhaftigkeit kommen, bleibt unklar, sicher ist, sie schauen nicht herab ins Wasser. Als Selysses eine große Ratte bemerkt, die an der Bordkante eines mit Müll beladenen Kahns entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, reist er ohne Verzug ab aus der Stadt der Kanäle.
Gewässer können noch bei weitem kleiner sein als die Kanäle von Venedig. Im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide sah ich, in Amsterdam, vom Fenster des Hotels aus, ein Entenpaar, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers. Mit solch vollkommener Klarheit ist dieses Bild auf einen Sekundenbruchteil aufgetaucht aus der Dunkelheit, daß ich jetzt noch jedes einzelne Weidenblatt, die feinsten Schattierungen im Gefieder der beiden Vögel, ja sogar Punkte der Poren der über ihre Augen gesenkten Lidhaut zu sehen vermeine. - Die Enten schwimmen auf dem Wasser, der Grund ist durch die Pflanzendecke verborgen. Ein melancholisches Detail, ein metaphysischer Augenblick, ein mystisches Erlebnis äußerster Heftigkeit und Helle, ein Erlebnis, das sich an späterer Stelle noch einmal wiederholt: Auf dem Grabenbrückchen erzählte Garrad von seiner Vorliebe für die Enten, von denen einige still auf dem Wasser herumruderten. Schon als Kind sei ihm immer die Farbgebung ihres Federkleids, insbesondere das Dunkelgrüne und das Schneeweiße, als die einzige mögliche Antwort erscheinen auf die Fragen, die ihn von jeher bewegten.

Von der Staumauer von Vyrnwy schaut man herab in ein anderes, tieferes Wasser. Man muß wissen, daß vielleicht hundert Fuß unter dem dunklem Wasser noch mindestens vierzig Häuser und Höfe stehen, ferner die Kirche zum heiligen Johann und drei Kapellen und drei Bierschenken, und man stellt sich vor, daß die Dorfbewohner drunten in der Tiefe weiterhin in ihren Häusern sitzen und auf der Gasse herumgehen, aber ohne sprechen zu können und mit viel zu weit offenen Augen. Nachts vor dem Einschlafen ist es uns, als seien auch wir untergegangen in dem dunklen Wasser, nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen, um hoch über uns einen schwachen Lichtschein zu sehen und das von den Wellen gebrochene Spiegelbild des steinernen Turms, der so furchterregend für sich allein an dem bewaldeten Ufer steht. – Versöhnungsansätze scheinen erkennbar, das Wasser ist vielleicht ein wenig trockener als üblich, die Menschen ein wenig aufgeschlossener gegenüber dem Naß, aber man kann dem nicht trauen, es ist die Versöhnung des Todes.
Zurück in Venedig treffen wir den heiligen Franz in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend, und über die Sümpfe schreitet die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. O daß wir unsere Ururahnen wären, ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor: haben die Heiligen verzagt, hat diese Sehnsucht auch sie erfaßt? Eher müssen wir sie wohl als in der Neuzeit Gescheiterte, als Abgestürzte sehen. Auch bei Benn ist die zur Schau gestellte Sehnsucht sicher zur Hälfte als Sehnsucht getarntes Entsetzen.

Auch wenn im Wasser der Ursprung des Lebens zu suchen ist, bietet es doch das erschreckende Bild eines am eigenen Überfluß erstickenden Daseins in wüster Finsternis, dem der Mensch sich nicht zugehörig sieht. Bis in die neuere Zeit haben die Seeleute darauf verzichtet, die Schwimmkunst zu erlernen, an der näheren Bekanntschaft mit dem Naß war ihnen nicht gelegen. Das Lebenswasser sieht der Mensch seit alter her im flüchtigeren, helleren Stoff der Spirituosen: Aquavit, Eau de vie, Uisce Beatha oder auch Dŵr bywyd, wie Austerlitz es in seiner Jugendzeit beim Schuster Evan in Bala gelernt hatte

Den Sebaldweg von Oberjoch nach W. herabwandernd kehrt Selysses in Unterjoch beim Hirschwirt ein und trinkt, wie es ausdrücklich heißt: zur Stärkung, einen halben Liter Tirolerwein, kein geringes Maß für einen Fußwanderer, der noch ein gutes Stück Wegstrecke vor sich hat, manch anderer hätte sich mit einem Viertele oder weniger begnügt. An anderer Stelle erfahren wir von einer Alkoholallergie, die ihn hinderte, diesen Weg in die Spiritualität fortzusetzen. Entschieden weiter gegangen sind ihn die Sandler im Innsbrucker Bahnhof, bei denen ein Zug ins Philosophische klar zu erkennen ist, ohne daß sie aber eine Vorbildwirkung auf jedermann ausüben könnten. Die Bauern, die bis in die Nacht hinein im Engelwirt hocken und oft bis zur Besinnungslosigkeit trinken, gehen zu weit in den Augen des Autors, versinken im vermeintlichen Aqua vitae wie im zunächst warmen, dann kalten Moor.

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