Montag, 17. März 2014

Blickkontakt

Im Grunde unverändert

Schwer zu verstehen ist nämlich die Landschaft, wenn du im D-Zug von dahin nach dorthin vorbeifährst, während sie stumm dein Verschwinden betrachtet: Das ist der erste Eintrag in dem posthum herausgegebenen Band Über das Land und über das Wasser, Ausgewählte Gedichte 1964 – 2001 und mithin wohl das früheste in Buchform publizierte Produkt des Dichters. Es liest sich wie ein Konzentrat aus Motiven, die dann die Prosa bestimmen werden, Zugfahrt, Landschaft, Schauen. Was heißt es, eine Landschaft sei schwer zu verstehen, wie ist sie, ob leicht oder schwer, überhaupt verstehbar - am ehesten noch mit den Mitteln der Kunst, in den Bildern Ruisdals oder Turners, um im Werk behandelte Landschaftsmaler zu nennen. Die Landschaft wird auch in der Prosa verständlich, etwa wenn Selysses rheinabwärts fährt, von einem starken Wind getrieben wehten die Heckflaggen der die graue Flut durchpflügenden Lastkähne nicht nach rückwärts, sondern wie auf einer Kinderzeichnung nach vorne zu. Das Licht hatte abgenommen, bis nur mehr eine fahle Helle das Stromtal erfüllte. Ein allmählich eintretendes Schneetreiben überzog den Prospekt, wie auf einer japanischen Tuschzeichnung, mit einer feinen, fast waagerechten Schraffur, und es war, als seien wir auf dem Weg hinauf in den hohen Norden und näherten uns bereits der äußersten Spitze der Insel Hokkaido. Naturgemäß ist das künstlerische Verstehen der Landschaft ein nie abzuschließender Vorgang, ein ewiges Bemühen, der Landschaftsmalerei geht ihr Sujet nicht aus. Der Clou des Kurzgedichtes ist der Wechsel der Blickrichtung, nicht der Reisende betrachtet noch länger die Landschaft, sondern die Landschaft betrachtet sein Verschwinden, stumm und, möchte man ergänzen, soweit ihr das möglich ist, mit Genugtuung. Immer wieder, und zumal auf Reisen, gibt auch der Dichter das Verlangen nach unserem Verschwinden zu erkennen. Eigenartig berührte mich beim Hinausschauen, daß fast nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Tatsächlich schien es, als habe unsere Art bereits einer anderen Platz gemacht oder als lebten wir doch zumindest in einer Form der Gefangenschaft.
Die stummen und leblosen Dinge sind in Museen und Vitrinen zur Betrachtung dargeboten, nur wenige aber sind zu ihrer Betrachtung berufen. In das königliche Observatorium von Greenwich verirrt sich nur ein einsamer weltreisender Japaner, geht in dem leeren Oktagon einmal im Kreis und verschwindet wieder, erst dann verbringen Selysses und Austerlitz, jeder für sich, mehrere Stunden damit, die ausgestellten kunstreichen Beobachtungs- und Meßgeräte, Quadranten und Sextanten, Chronometer und Regulatoren zu studieren. Im menschenleeren Terezín erwachen die Exponate hinter den Schaufenstern des Antikos Bazar unter dem Blick des einsamen Selysses zu einem seltsamen Leben, der reitende Held wendet sich auf seinem soeben auf der Hinterhand sich erhebenden Rosses nach rückwärts, um mit dem linken Arm ein unschuldiges, von der letzten Hoffnung verlassenes weibliches Wesen zu sich emporzuziehen und aus einem dem Beschauer nicht offenbarten, aber ohne Zweifel grauenvollen Unglück zu erretten. Nicht anders offenbaren die Bildwerke der alten Meister das in ihnen verwahrte Leben nur dem unaufdringlichen, stillen Blick eines einsamen Betrachters. Die Mesnerin von Sant’Anastasia verschwindet, nachdem sie dem einzigen Besucher das Tor geöffnet hat, wortlos in ihrem Verschlag, und erst nachdem die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle der Nationalgalerie durchwandernden Besucher verschwunden sind, vermag Selysses den Blickverkehr zwischen dem heiligen Antonius und dem heiligen Georg zu entschlüsseln.
Wie immer es um die Seekraft der Landschaft und das Dreinschauen der Dinge bestellt sein mag, der Blickwechsel kann ungleich heftiger ausfallen, wenn ein Lebewesen hinzukommt. Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe, in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm. Unter Menschen ist ein Blickwechsel von dieser fusionierenden Heftigkeit selten, wenn nicht unmöglich. In der Vorhalle war außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen. Ich stand eine beträchtliche Zeit auf der Schwelle und wechselte einige Blicke mit der dunklen Frau: Das ist eines der wenigen Beispiele für einen, wenn schon nicht heftigen so doch symmetrischen, gleichgewichtigen Blickverkehr, ein anderes wäre das Wiedersehen von Austerlitz und Vĕra Ryšanová. In den allermeisten Fällen aber besteht kein Gleichgewicht zwischen Schauen und Betrachtetwerden, die Dominanz ist auf der einen oder aber der anderen Seite.

Kafka zumal ist der Held, der unter den Blicken der anderen leidet, was er selbst sieht und gesehen hat, wissen wir nicht. Halb im Spott, halb voller Mitgefühl und zur Therapie läßt der Dichter die Mehrzahl der Bewohner von Desenzano auf dem Marktplatz antreten, um den Vicesekretär der Prager Arbeiterversicherungsanstalt, der nichts mehr fürchtet, prüfend in Augenschein zu nehmen. Dabei leidet Selysses an den gleichen Beschwerden, auf seiner ersten Italienreise fühlt er sich verfolgt von zwei Augenpaaren, die sich, eingebildet oder tatsächlich, an den verschiedensten Orten auf ihn richten und ihn schließlich heimwärts flüchten lassen. Auch auf der zweiten Italienreise zieht Selysses, wie ihm scheint, immer wieder mißbilligende Blicke auf sich. In Mailand: Die Signora, ein fast völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, war aus dem Fernsehzimmer hervorgekommen. Skeptisch hielt sie den Vogelblick auf mich gerichtet. In W.: Mit unverhohlener Mißbilligung musterte mich die Wirtin, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Den ausgefüllten Anmeldezettel studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. – Die Blicke der Menschen aber sind schwer zu verstehen und werden oft mißverstanden. Luciana Michelotti in Limone verhält sich kaum anders als die Engenwirtin: Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte in Verwunderung vielleicht über meine Gleichaltrigkeit mit ihr, in meinem Paß, verglich mehrmals mein Gesicht mit der Photographie, wobei sie mir einmal lang in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in seiner Lade und händigte mir den Zimmerschlüssel aus. Dann aber schaut sie immer wieder von der Theke her aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, bleibt, wenn sie den Express mit einem Glas Wasser serviert, eine Weile bei ihm stehen und läßt die Augen über die beschriebenen Blätter gleiten. Einmal ist ihm gewesen, als spürte er ihre Hand auf der Schulter, und dann ist auch schon bald das Terrain für die Trauung vor dem Postenkommandanten Dalmazio Orgiu vorbereitet.
Schwer zu verstehen sind auch die ausbleibenden Blicke. Unterwegs im Zug nach Mailand geht der Blick nicht hinaus auf die Landschaft, sondern auf die Mitreisenden. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter ihrer Lektüre umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort, auch nur ein einziges Mal mit der einen oder der anderen einen Blick zu wechseln. Hat es keine versteckten Blicke gegeben, oder hatte Selysses, der sich notgedrungen bald auch in sein Buch vertieft, sie nur nicht wahrgenommen? Später, auf der Fahrt den Rhein hinab, wiederholt sich die Situation im Grunde. Die junge Frau aus dem englischen siebzehnten Jahrhundert, Elizabeth, die Tochter James I, war, kaum hatte sie Platz genom­men und in ihrer Ecke sich eingerichtet, auf das tiefste versenkt in ein Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer mir unbekannten Autorin namens Mila Stern. Für Selysses hat sie offenbar keinen Blick übrig, er trat hinaus auf den Gang. Unbemerkt aber hatte sich die Winterkönigin zu ihm gesellt und stand, das schöne Schauspiel betrachtend, bereits eine längere Weile neben ihm. Zu zweit ist die Landschaft womöglich besser zu verstehen, vor allem dann, wenn eine feenhafte Gestalt in dem Duo vertreten ist. Schließlich sagte sie mit einem kaum wahr­nehmbaren englischen Tonfall in der Stimme und, wie es ihm schien, ganz für sich allein die folgenden Zeilen: Rosen weiß verweht vom Schnee, Schleier schwärzer als die Kräh’, Handschuh weich wie Rosenblüten, Masken das Gesicht zu hüten. Hatte sie ihn aber zuvor nicht doch aus den Augenwinkeln wahrgenommen und sagt sie die Zeilen tatsächlich ganz für sich? Daß er damals nicht zu erwidern wußte, nicht wußte, wie er weiterging, dieser Winter­vers, daß ich, aller inneren Bewegung zum Trotz, nichts herausbrachte, dumm und stumm nur stehenblieb und weiter hinausschaute auf die nahezu vergangene Dämmerwelt, das hat mich seither schon oft sehr gereut und gedauert.
Blicke auf die Landschaft, Blicke auf Dinge, Blickwechsel mit Tieren, mit Menschen, einseitige, oft ablehnende Blicke, versteckte oder verstohlene Blicke, nicht wahrgenommene Blicke, Blicke, die ihr Gegenüber nur schwer finden. Prag: Man mußte sich weit hinabbeugen zu dem viel zu niedrigen Schalter, wenn man mit dem Türhüter sprechen wollte, der allem Anschein nach in seinem Verschlag auf dem Fußboden kniete. Obzwar ich meinerseits bald dieselbe Stellung einnahm, gelang es mir auf keine Weise, mich verständlich zu machen. Ganz ähnlich auf Korsika: Erst als ich unmittelbar vor dem Tresen stand, sah ich, daß dahinter in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau saß, ja, beinahe hätte man sagen können, lag. Man mußte förmlich über den Tresenrand zu ihr hinunterschauen. In den USA ist die Schwierigkeit des Blickkontaktes ein wenig anders gelagert: Es dauerte eine beträchtliche Zeit, bis aus dem Inneren des offenbar schon schlafenden Hauses ein greiser Portier herbeikam, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Aufgrund seiner Behinderung hatte er, bereits vor er sich anschickte, die Halle zu durchqueren, den draußen vor der halbverglasten Türe wartenden späten Gast von unten herauf mit einem kurzen, aber um so durchdringenderen Blick ins Auge gefaßt.

Den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt ist dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen: die Form der Anwesenheit von Hauptdarstellern und Komparsen in der Prosa ist gleichwohl verschieden. Die Komparsen, mit denen oft nur ein einziger kurzer Blickkontakt bestanden hat, bleiben optisch präsent, eingefroren in den Augenblick wie die stürzende kanariengelbe Dame auf dem Gemälde Lucas van Valckenborchs. Wir unterliegen der Suggestion der Vollständigkeit, als wüßten alles über die sehr schwarze Negerfrau, und wissen doch nur, daß sie, wie die Protagonisten, jederzeit durch Erzählen erlöst werden könnte. Die Protagonisten andererseits sind Menschen, die der Dichter nicht gesehen, oder deren Bild sich verwischt hat. Den Onkel Adelwarth hat Selysses nur ein einziges Mal gesehen, als Kind noch im Jahre 1951. Während wir uns bei den Komparsen ganz auf den optischen Eindruck des Dichters verlassen können und müssen, sind der Schilderung der Protagonisten oft Photos beigegeben, die aber eher verunsichern als stärken. Ambros Adelwarth im orientalischen Gewand entspricht nicht dem Bild, das sich im Fortgang der Lektüre in uns aufbaut, und wie er dasitzt auf der Treppe umrahmt von den Verwandten, läßt uns weniger von ihm erahnen, als wir zu wissen glauben von der Winterkönigin oder der dunklen Frau. Auch an Bereyter hat Selysses unmittelbare eigene Erinnerungen nur aus seiner Volksschulzeit. Die der Erzählung beigegebenen Bilder zeigen den Bereyter aus dieser Zeit und sind nur eine geringe Hilfe beim Aufbau seiner uns vornehmlich interessierenden Gestalt in den späten Jahren als Freund der Mme Landau.

Beim ersten Treffen ist Austerlitz ein beinahe jugendlich wirkender Mann, das Ebenbild des deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm. Er trägt schwere Wanderschuhe, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauen Kattun und ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett. Sein Aussehen wird sich in den folgenden Jahrzehnten nicht verändern, in dieser Hinsicht dehnt sich der erste Blick ins End- und Zeitlose. Die Photos von Austerlitz dem Kind, verkleidet als Page, sowie dem Jugendlichen als Rugbyspieler liegen noch vor diesem über Jahrzehnte hin gedehnten Augenblick und lassen uns ein wenig ratlos. Der Blickwechsel zwischen Austerlitz und Vĕra Ryšanová aber reicht noch weiter. Als die beiden sich nach dreißig Jahren gegenüberstehen, erkennt sie ihn gleich und sie ist für ihn trotz ihrer Gebrechlichkeit im Grunde unverändert. Im Fenster des Antikos Bazar erkennen wir schemenhaft das Gesicht des photographierenden Austerlitz. Uns scheint er weniger dem Siegfried zu ähneln als dem uns bekannten Bild des Dichters in reifen Jahren. In den langen, um das Äußere des anderen unbekümmerten Gesprächen haben die beiden sich offenbar angeglichen.

Menschen, die miteinander sprechen, sind dem Blick des anderen nicht ausgesetzt. Selysses nimmt Austerlitz nur einmal wahr, als Siegfried, daß Austerlitz Selysses überhaupt sieht und wahrnimmt, davon erfahren wir nichts. Auf der ersten Italienreise findet Selysses niemanden, mit dem er sprechen kann und ist schutzlos den wirklichen oder eingebildeten Blicken der anderen ausgesetzt. Malachio dann und Salvatore Altamura dann, die mit ihm sprechen, scheinen ihn visuell so wenig wahrzunehmen wie Austerlitz sie wahrnimmt. In seinem Heimatort W. ist Selysses so gut wie unsichtbar, Lukas Seelos, der einzige, mit dem er sich dann ausführlich unterhalten wird, hält ihn für den eigenen Großvater. Unter dem Bild des Großvaters bewegt Selysses sich unsichtbar wie hinter einer Tarnkappe und zeitenthoben. So wird er uns durch die, Austerlitz mitgerechnet, fünf langen Erzählungen führen. Austerlitz eröffnet mit dem Blick auf die überdimensionierten Augen der Nachttiere. Ihr Blick, wie auch der der allein auf reine Anschauung und reines Denken bedachten Denker und Maler, geht über Selysses hinweg.
Die Frage ist immer die gleiche: Was verleiht Sebalds Prosa ihre Eigenart, ihren Klang, ihre Farbe. Es ist nicht so sehr einprägsame Äußerungen zum Holocaustthema, es sind tausend Dinge, die Formen des Blickverkehrs darunter nicht die geringsten. Würden Austerlitz und Selysses sich bei jedem ihrer zufälligen oder verabredeten Treffen, oft nach langer Zeit, in die Augen sehen, einander sorgfältig betrachten und Bemerkungen austauschen über ihr verändertes oder Komplimente über ihr vorgeblich unverändertes Aussehen, wir wären in einem anderen Buch, vermutlich dem eines geringeren Autors.

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