Freitag, 28. März 2014

Im Abseits

Geschichtsunterricht

Das letzte Gedicht in Über das Land und über das Wasser ist kurz und prägnant: Im Abseits sieht das Auge des Hundes alles noch so wie es von Anbeginn war. Die Tierart Canidae wird selten für ihren Gesichtssinn gerühmt. Ihre sensorische Paradedisziplin ist die olfaktorische Wahrnehmung, auf die auch Selysses setzt, wenn er schwört, seine Art zu schreiben habe er gewonnen bei der Beobachtung des anscheinend planlosen und doch zielführenden Laufs des Hundes à travers les champs: bei derartigen Läufen folgt der Hund seiner Nase. Offenbar geht es also nicht um optische Höchstleistungen. Gleich zu Beginn von Austerlitz werden die auffallend großen Augen der im Nocturama behausten Tieren und ihr unverwandt forschender Blick dem Blick bestimmter Malern und Philosophen zugeordnet, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Wer erfolgreicher ist, die Lemuren oder die Denker, bleibt ungeklärt. Dem Geheimnis des Hundes kommen wir aber noch um einiges näher, wenn wir uns André Hilary zuwenden, Austerlitz’ Schullehrer und begeisterter Dilettant der Napoleonforschung. Er muß einräumen, daß auch die detailliertesten Kenntnisse einer Schlacht wie der bei Austerlitz letztlich doch nur zusammengefaßt werden können in einem lachhaften Satz wie dem: Die Schlacht wogte hin und her. Wir versuchen, die Wirklichkeit zu sehen, und finden doch nur vertraute Bilder wie das des gefallenen Trommlers. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem noch entdeckten Abseits liegt.

In einem Abseits. Es ist nicht nur der gleiche Ausdruck, es ist die gleiche Szene, der gleiche Gedanke, der Gedanke der Geschichte, an deren Verstehen der Mensch verzweifeln muß, während der Hund sie gar nicht wahrnimmt. Mit seinem Scharfsinn und Scharfblick sieht der Mensch den Wald der Historie vor lauter geschichtlichen Bäumen nicht, die Tiere dagegen sind samt und sonders geschichts- und daher, was die Geschichte anbelangt, ahnungslos. Die Besonderheit des Hundes nun besteht darin, daß er wie kein andres Tier den Tag über das Blickfeld des Menschen teilt. Er sieht das gleiche wie die Menschen und sieht doch etwas ganz anderes. Er sieht vieles von dem, was die Menschen nicht sehen und sieht vieles nicht, was sie sehen und für wichtig halten. Da es in dem Gedicht bei genauer Betrachtung vordringlich um das geht, was der Hund nicht sieht und nicht sehen kann, ist seine Sehschärfe nicht der entscheidende Punkt, für die Betrachtung des in tiefem Dunkel liegenden Anbeginns wird sein Auge hinreichen.

Allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt wird dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen. Aus der ungeschmälerten Daseinsberechtigung folgt die Gleichberechtigung der Blicke. Unser Blick ist dem des Hundes nicht überlegen, er ist nur anders. Abweichend von der Frage der Schreibkunst, wo es reicht, die Laufbewegung im Feld zu beobachten, kann der Hund sein geschichsloses Wissen nicht vermitteln. Weder können wir mit seinen Augen sehen, noch kennen wir den Anbeginn der Dinge. Der Blick des Hundes ist, wenn wir über ihn nachsinnen, für uns allenfalls eine Richtungsstange in einem endlosen Schneefeld, wohin sie uns weist, bleibt unbekannt. Ohnedies ist die Geschichte, entgegen der verbreiteten Hoffnung, kein Lehrbuch, aus dem man lernen könnte auf dem Weg zum immer Besseren. Unbekümmert darum aber läßt sich aus wissenschaftlicher Sicht festhalten, daß neben der literarischen, bei allen Differenzen, auch eine grundlegende geschichtsphilosophische Nähe zwischen Hund und Dichter besteht.

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