Sammeln sich die Schatten
Ohne daß die einfachen Leute vergessen wären, bestimmen in Sebalds Prosa die Gebildeten den Ton. Selysses gibt sich zu Beginn der Ringe des Saturn als Kollege von Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns und damit als Literaturwissenschaftler zu erkennen. Einblick in seine Forschungen erhalten wir nicht, zwar beobachten wir ihn wiederholt beim Schreiben, nehmen aber eher eine dichterische Produktion an. Auch Dakyns und Parkinson erscheinen weniger als rigide Wissenschaftler denn als Enthusiasten der Literatur. Ähnlich wie Prousts Dichter Bergotte Vermeers Kunst in einem kleinen gelben Mauerfleck verwahrt sieht, erkennt Janine Rosalind Dakyns den ganzen Flaubert in einem winzigen Staubkorn. Das Universitätsgelände ist bei Sebald, anders als bei einigen amerikanischen Autoren oder auch bei Nabokow, kein Erzählareal.
An geschichtskundlichen Einsichten, um eine weitere geisteswissenschaftliche Disziplin anzusprechen, fehlt es im Werk nicht, der einzige Wissenschaftler vom Fach ist aber der Architekturhistoriker Austerlitz. Sein ursprüngliches Dissertationsvorhaben ist längst hoffnungslos ausgeufert in Vorarbeiten zu einer ganz auf die eigene Anschauung sich stützende Studie über die Familienähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Bauformen der kapitalistischen Ära, Gerichtshöfen und Strafanstalten, Bahnhofs- und Börsengebäuden, Opern- und Irrenhäusern. Austerlitz kann überhaupt nur wenig Gutes in der Architektur entdecken. Wenn er nur die Bauten unter dem Normalmaß der domestischen Architektur - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten - gelten lassen will, so ist das nichts anderes als eine Absage an die Disziplin. Der umfänglichste Fachvortrag, den er Selysses hält, gilt dem militärwissenschaftlichen Festungsbau, ein ganz und gar fruchtloses Unterfangen in der Geschichte, immer waren während des langjährigen Baus einer Festung die offensiven Möglichkeiten über die errechnete defensive Leistung hinausgewachsen.
Sekundiert wird Austerlitz von zwei Dilettanten der Napoleonforschung. Die genaueste Wissenschaft von der Vergangenheit reicht kaum näher an die von keiner Vorstellungskraft zu erfassende Wahrheit heran als, beispielsweise, eine so aberwitzige Behauptung wie die, die mir einmal vorgetragen wurde von einem in der belgischen Hauptstadt lebenden Dilettanten namens Alfonse Huyghens, der zufolge sämtliche von dem Franzosenkaiser in den europäischen Ländern und Reichen bewirkten Umwälzungen auf nichts anderes zurückzuführen waren als auf dessen Farbenblindheit, die ihn Rot nicht unterscheiden ließ von Grün. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, so der belgische Napoleonforscher zu mir, desto frischer schien ihm das Gras zu sprießen. Das ist die Proklamation des anything goes in den Geschichtswissenschaften. André Hilary, Austerlitz’ Schullehrer, muß einräumen, daß auch die detailliertesten Kenntnisse einer Schlacht wie der bei Austerlitz letztlich doch nur zusammengefaßt werden können in einem lachhaften Satz wie dem: Die Schlacht wogte hin und her. Wir versuchen, die Wirklichkeit zu sehen, und finden doch nur vertraute Bilder wie das des gefallenen Trommlers. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem noch entdeckten Abseits liegt. Wer allenfalls vermag in dieses Abseits gelangen, wenn nicht die Dichter.
Die Gesellschaftswissenschaften* sind, wie die Geschichts- wissenschaften, verborgen im Text, mit dem zentralen Lehrsatz, daß die Dinge sich, Aufklärung hin und Mündigkeit her, nach wie vor über unseren Kopf hinweg vollziehen. Die Philosophie hat ihren Fachvertreter in Wittgenstein, dem unterstellt wird, er wolle das Dunkel, das uns umgibt mit reinem Denken und reiner Anschauung durchdringen. Ob ihm das nun gelingen mag oder nicht, der belastbare Ertrag der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften ist in der Summe gering.
Selysses hat seit seiner Volksschulzeit in der Klasse Bereyters kaum einen Lehrer gefunden, dem er hatte zuhören können, das Werk atmet, Tonlage und Sprachhaltung zum Trotz, eine Geringschätzung formaler Bildung. Begonnen hatte Selysses seinen Bildungsweg mit Untersuchungen der Mehlkiste im Schlafzimmer der Großeltern, hier hatte er zu Allerheiligen und Allerseelen, den Tagen, die ihm sinnvoller erschienen waren als alle anderen, nach dem verborgenen Geheimnis gesucht. Den begonnenen Weg galt es fortzusetzen. In Nach der Natur ist die zunächst noch ganz und gar amorphe Suche entfaltet und strukturiert, im ersten Teil treffen wir Grünewald, den malenden Gottessucher, im zweiten Teil den Naturforscher Steller, zwei Wege, die Selysses, dem der dritte Teil vorbehalten ist, nicht einschlägt, die er aber im Auge behält.
Bei der Geburt der modernen Naturwissenschaften sind wir dabei, wenn wir Rembrandts Bild von der Prosektur des Dr. Tulp betrachten. Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Um die Biologie und speziell auch die Ichthyologie ist es nicht besser bestellt als um die Medizin. Erstaunlich ist die Lebenskraft des Herings, hatte doch ein gewisser Neucrantz in Stralsund mit großer Genauigkeit die letzten Zuckungen eines vor einer Stunde und sieben Minuten aus dem Wasser geholten Herings registriert, ein Franzose namens Noel Marinière hatte eines Tages gar staunend wahrgenommen, wie ein paar Heringe, die schon zwei bis drei Stunden auf dem Trockenen lagen, sich noch rührten und hatte, um die Lebensfähigkeit dieser Fische genauer zu erkunden, ihnen die Flossen abgeschnitten, eine der üblichen von unserem Wissensdrang inspirierte Prozeduren. Von den Gefühlen des Herings aber wissen wir bis heute in Wahrheit nichts, und auch, was die Makrelen anbelangt, sind die Zusammenhänge zwischen ihrem Leben und Sterben und dem der Menschen weitaus komplizierter, als wir erahnen.
Die Ingenieurwissenschaften sind vertreten durch die Herren Herrington und Lightbown, die um 1870, als bereits allenthalben an Projekten zu einer totalen Illumination unserer Städte gearbeitet wurde, versucht haben, aus der von den toten Heringen ausgeschwitzten luminösen Substanz die Formel zur Erzeugung einer organischen, sich fortwährend von selber regenerierenden Lichtessenz abzuleiten. Das Scheitern dieses exzentrischen Planes war ein kaum nennenswerter Rückschlag in der sonst unaufhaltsamen Verdrängung der Finsternis. Anders als das Hochschulgelände wird eine ingenieurwissenschaftliche Forschungseinrichtung zum Erzählgebiet, allerdings eine aufgelassene und auf seltsame Weise verzauberte, gleichsam rückfällige und dann doch wieder zukunftsweisende Anlage. Die ringsum mit Unmengen von Steinen zugeschütteten Betongehäuse, in denen Hundertschaften von Technikern an der Entwicklung neuer Waffensysteme gearbeitet hatten, nahmen sich aus der Entfernung wie Hügelgräber aus. Der Eindruck, daß ich mich auf einem Areal befand, dessen Zweck über das Profane hinausging wurde durch mehrere tempel- oder pagodenartige Bauten. Je näher ich aber den Ruinen kam, desto mehr verflüchtigte sich die Vorstellung von einer geheimnisvollen Insel der Toten und ich wähnte mich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe untergegangenen Zivilisation.
Top right an angel hovering, top left the attendance of a star. Die im Werk am besten vertretene Naturwissenschaft ist die Astronomie. Der Astrophysiker Malachi ist gewohnt, alles aus der größten Entfernung sieht, nicht nur die Sterne, viel nachgedacht har er in letzter Zeit aber über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. How shall we sing the Lord’s song in the land of the electron. Gerald Fitzpatricks besonderes Interesse gilt dem Adlernebel, riesigen Regionen interstellaren Gases, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballen und in denen, in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß ständig neue Sterne entstehen, eine wahre Kinderstube von Sternen. Gerald versucht, die sinnlose Weite des Universums mit dem anthropomorphen Bild der Kinderstube unserem Sinn zugänglich zu machen, auch in seinem Fall also ein Verzicht auf den kalten Blick der Forschung.
Austerlitz, kein Astronom aber dem Ideal des Universalgelehrten nahe, gerät in der Sternkammer in Greenwich in kosmischen Grübeln, weniger den Raum als die Zeit betreffend. Der Unterschied ist vielleicht zu vernachlässigen, werden die Weiten des Alls doch mit einem Zeitmaß in Lichtjahren gemessen. Überhaupt ist die Zeit von allen unseren Erfindungen die weitaus künstlichste. Was heißt es, daß die Stunden des Lichts der Dunkelheit im gleichen Kreis angezeigt werden? Warum steht die Zeit an einem Orte ewig still und verrauscht und überstürzt sich an einem anderen? Die Toten sind außer der Zeit, die Sterbenden und die vielen bei sich zu Hause oder in den Spitälern liegenden Kranken, und nicht nur diese allen, genügt doch schon ein Quantum persönlichen Unglücks, um uns abzuschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft. Austerlitz’ Schüler Selysses sehnt sich in Ajaccio danach, eine der steinernen Burgen zu beziehen, um sich fortan nichts anderem zu widmen als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit.
Im Schatten der dem menschlichen Maß inkompatiblen Ergebnisse astrophysikalischer Forschung gedeiht weiter die Astrologie. Die Mutter nahm dies als gutes Zeichen, nicht ahnend, daß der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte, und später erschien mir dann, als ob der alte Aberglaube, daß bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat. Die Mathematik erscheint überhaupt nur als Zahlenmystik, die Wirkung der Zahl Dreizehn etwa, Datumskoinzidenzen. Insgesamt kann die Wissenschaft die beanspruchte Rolle, Fundament des menschlichen Lebens in der Neuzeit zu sein, nicht im erwarteten Umfang erfüllen. Wo andere Fortschritt wahrnehmen, sieht der Dichter statische Blähungen, belanglos oder nicht zum Guten. Selysses’ Reisen und Wanderungen sind immer Kreisbewegungen, letztlich Stillstand. Statische Dichtung, vor meinem Fenster liegt ein Tal darin sammeln sich die Schatten, zwei Pappeln säumen einen Weg. Die Geheimnisse der Mehlkiste sind nicht gelüftet, aber wir fühlen uns längst beteiligt an der fortdauernden Suche.
Ohne daß die einfachen Leute vergessen wären, bestimmen in Sebalds Prosa die Gebildeten den Ton. Selysses gibt sich zu Beginn der Ringe des Saturn als Kollege von Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns und damit als Literaturwissenschaftler zu erkennen. Einblick in seine Forschungen erhalten wir nicht, zwar beobachten wir ihn wiederholt beim Schreiben, nehmen aber eher eine dichterische Produktion an. Auch Dakyns und Parkinson erscheinen weniger als rigide Wissenschaftler denn als Enthusiasten der Literatur. Ähnlich wie Prousts Dichter Bergotte Vermeers Kunst in einem kleinen gelben Mauerfleck verwahrt sieht, erkennt Janine Rosalind Dakyns den ganzen Flaubert in einem winzigen Staubkorn. Das Universitätsgelände ist bei Sebald, anders als bei einigen amerikanischen Autoren oder auch bei Nabokow, kein Erzählareal.
An geschichtskundlichen Einsichten, um eine weitere geisteswissenschaftliche Disziplin anzusprechen, fehlt es im Werk nicht, der einzige Wissenschaftler vom Fach ist aber der Architekturhistoriker Austerlitz. Sein ursprüngliches Dissertationsvorhaben ist längst hoffnungslos ausgeufert in Vorarbeiten zu einer ganz auf die eigene Anschauung sich stützende Studie über die Familienähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Bauformen der kapitalistischen Ära, Gerichtshöfen und Strafanstalten, Bahnhofs- und Börsengebäuden, Opern- und Irrenhäusern. Austerlitz kann überhaupt nur wenig Gutes in der Architektur entdecken. Wenn er nur die Bauten unter dem Normalmaß der domestischen Architektur - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten - gelten lassen will, so ist das nichts anderes als eine Absage an die Disziplin. Der umfänglichste Fachvortrag, den er Selysses hält, gilt dem militärwissenschaftlichen Festungsbau, ein ganz und gar fruchtloses Unterfangen in der Geschichte, immer waren während des langjährigen Baus einer Festung die offensiven Möglichkeiten über die errechnete defensive Leistung hinausgewachsen.
Sekundiert wird Austerlitz von zwei Dilettanten der Napoleonforschung. Die genaueste Wissenschaft von der Vergangenheit reicht kaum näher an die von keiner Vorstellungskraft zu erfassende Wahrheit heran als, beispielsweise, eine so aberwitzige Behauptung wie die, die mir einmal vorgetragen wurde von einem in der belgischen Hauptstadt lebenden Dilettanten namens Alfonse Huyghens, der zufolge sämtliche von dem Franzosenkaiser in den europäischen Ländern und Reichen bewirkten Umwälzungen auf nichts anderes zurückzuführen waren als auf dessen Farbenblindheit, die ihn Rot nicht unterscheiden ließ von Grün. Je mehr das Blut floß auf dem Schlachtfeld, so der belgische Napoleonforscher zu mir, desto frischer schien ihm das Gras zu sprießen. Das ist die Proklamation des anything goes in den Geschichtswissenschaften. André Hilary, Austerlitz’ Schullehrer, muß einräumen, daß auch die detailliertesten Kenntnisse einer Schlacht wie der bei Austerlitz letztlich doch nur zusammengefaßt werden können in einem lachhaften Satz wie dem: Die Schlacht wogte hin und her. Wir versuchen, die Wirklichkeit zu sehen, und finden doch nur vertraute Bilder wie das des gefallenen Trommlers. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte ist eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem noch entdeckten Abseits liegt. Wer allenfalls vermag in dieses Abseits gelangen, wenn nicht die Dichter.
Die Gesellschaftswissenschaften* sind, wie die Geschichts- wissenschaften, verborgen im Text, mit dem zentralen Lehrsatz, daß die Dinge sich, Aufklärung hin und Mündigkeit her, nach wie vor über unseren Kopf hinweg vollziehen. Die Philosophie hat ihren Fachvertreter in Wittgenstein, dem unterstellt wird, er wolle das Dunkel, das uns umgibt mit reinem Denken und reiner Anschauung durchdringen. Ob ihm das nun gelingen mag oder nicht, der belastbare Ertrag der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften ist in der Summe gering.
Selysses hat seit seiner Volksschulzeit in der Klasse Bereyters kaum einen Lehrer gefunden, dem er hatte zuhören können, das Werk atmet, Tonlage und Sprachhaltung zum Trotz, eine Geringschätzung formaler Bildung. Begonnen hatte Selysses seinen Bildungsweg mit Untersuchungen der Mehlkiste im Schlafzimmer der Großeltern, hier hatte er zu Allerheiligen und Allerseelen, den Tagen, die ihm sinnvoller erschienen waren als alle anderen, nach dem verborgenen Geheimnis gesucht. Den begonnenen Weg galt es fortzusetzen. In Nach der Natur ist die zunächst noch ganz und gar amorphe Suche entfaltet und strukturiert, im ersten Teil treffen wir Grünewald, den malenden Gottessucher, im zweiten Teil den Naturforscher Steller, zwei Wege, die Selysses, dem der dritte Teil vorbehalten ist, nicht einschlägt, die er aber im Auge behält.
Bei der Geburt der modernen Naturwissenschaften sind wir dabei, wenn wir Rembrandts Bild von der Prosektur des Dr. Tulp betrachten. Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Um die Biologie und speziell auch die Ichthyologie ist es nicht besser bestellt als um die Medizin. Erstaunlich ist die Lebenskraft des Herings, hatte doch ein gewisser Neucrantz in Stralsund mit großer Genauigkeit die letzten Zuckungen eines vor einer Stunde und sieben Minuten aus dem Wasser geholten Herings registriert, ein Franzose namens Noel Marinière hatte eines Tages gar staunend wahrgenommen, wie ein paar Heringe, die schon zwei bis drei Stunden auf dem Trockenen lagen, sich noch rührten und hatte, um die Lebensfähigkeit dieser Fische genauer zu erkunden, ihnen die Flossen abgeschnitten, eine der üblichen von unserem Wissensdrang inspirierte Prozeduren. Von den Gefühlen des Herings aber wissen wir bis heute in Wahrheit nichts, und auch, was die Makrelen anbelangt, sind die Zusammenhänge zwischen ihrem Leben und Sterben und dem der Menschen weitaus komplizierter, als wir erahnen.
Die Ingenieurwissenschaften sind vertreten durch die Herren Herrington und Lightbown, die um 1870, als bereits allenthalben an Projekten zu einer totalen Illumination unserer Städte gearbeitet wurde, versucht haben, aus der von den toten Heringen ausgeschwitzten luminösen Substanz die Formel zur Erzeugung einer organischen, sich fortwährend von selber regenerierenden Lichtessenz abzuleiten. Das Scheitern dieses exzentrischen Planes war ein kaum nennenswerter Rückschlag in der sonst unaufhaltsamen Verdrängung der Finsternis. Anders als das Hochschulgelände wird eine ingenieurwissenschaftliche Forschungseinrichtung zum Erzählgebiet, allerdings eine aufgelassene und auf seltsame Weise verzauberte, gleichsam rückfällige und dann doch wieder zukunftsweisende Anlage. Die ringsum mit Unmengen von Steinen zugeschütteten Betongehäuse, in denen Hundertschaften von Technikern an der Entwicklung neuer Waffensysteme gearbeitet hatten, nahmen sich aus der Entfernung wie Hügelgräber aus. Der Eindruck, daß ich mich auf einem Areal befand, dessen Zweck über das Profane hinausging wurde durch mehrere tempel- oder pagodenartige Bauten. Je näher ich aber den Ruinen kam, desto mehr verflüchtigte sich die Vorstellung von einer geheimnisvollen Insel der Toten und ich wähnte mich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe untergegangenen Zivilisation.
Top right an angel hovering, top left the attendance of a star. Die im Werk am besten vertretene Naturwissenschaft ist die Astronomie. Der Astrophysiker Malachi ist gewohnt, alles aus der größten Entfernung sieht, nicht nur die Sterne, viel nachgedacht har er in letzter Zeit aber über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. How shall we sing the Lord’s song in the land of the electron. Gerald Fitzpatricks besonderes Interesse gilt dem Adlernebel, riesigen Regionen interstellaren Gases, die sich zu gewitterwolkenartigen, mehrere Lichtjahre in den Weltraum hinausragenden Gebilden zusammenballen und in denen, in einem unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig sich intensivierenden Verdichtungsprozeß ständig neue Sterne entstehen, eine wahre Kinderstube von Sternen. Gerald versucht, die sinnlose Weite des Universums mit dem anthropomorphen Bild der Kinderstube unserem Sinn zugänglich zu machen, auch in seinem Fall also ein Verzicht auf den kalten Blick der Forschung.
Austerlitz, kein Astronom aber dem Ideal des Universalgelehrten nahe, gerät in der Sternkammer in Greenwich in kosmischen Grübeln, weniger den Raum als die Zeit betreffend. Der Unterschied ist vielleicht zu vernachlässigen, werden die Weiten des Alls doch mit einem Zeitmaß in Lichtjahren gemessen. Überhaupt ist die Zeit von allen unseren Erfindungen die weitaus künstlichste. Was heißt es, daß die Stunden des Lichts der Dunkelheit im gleichen Kreis angezeigt werden? Warum steht die Zeit an einem Orte ewig still und verrauscht und überstürzt sich an einem anderen? Die Toten sind außer der Zeit, die Sterbenden und die vielen bei sich zu Hause oder in den Spitälern liegenden Kranken, und nicht nur diese allen, genügt doch schon ein Quantum persönlichen Unglücks, um uns abzuschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft. Austerlitz’ Schüler Selysses sehnt sich in Ajaccio danach, eine der steinernen Burgen zu beziehen, um sich fortan nichts anderem zu widmen als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit.
Im Schatten der dem menschlichen Maß inkompatiblen Ergebnisse astrophysikalischer Forschung gedeiht weiter die Astrologie. Die Mutter nahm dies als gutes Zeichen, nicht ahnend, daß der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte, und später erschien mir dann, als ob der alte Aberglaube, daß bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat. Die Mathematik erscheint überhaupt nur als Zahlenmystik, die Wirkung der Zahl Dreizehn etwa, Datumskoinzidenzen. Insgesamt kann die Wissenschaft die beanspruchte Rolle, Fundament des menschlichen Lebens in der Neuzeit zu sein, nicht im erwarteten Umfang erfüllen. Wo andere Fortschritt wahrnehmen, sieht der Dichter statische Blähungen, belanglos oder nicht zum Guten. Selysses’ Reisen und Wanderungen sind immer Kreisbewegungen, letztlich Stillstand. Statische Dichtung, vor meinem Fenster liegt ein Tal darin sammeln sich die Schatten, zwei Pappeln säumen einen Weg. Die Geheimnisse der Mehlkiste sind nicht gelüftet, aber wir fühlen uns längst beteiligt an der fortdauernden Suche.
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