Dienstag, 25. März 2014

Zimmer 645

A Locked-Room Mystery


Zimmer 645 Hotel Schweizer Hof Hinüber Straße Hannover
Niemand kann beschwören, daß sich ein Mensch im Zimmer 645 aufhält, es könnte sich um die Auswertung einer Videokassette handeln, eines einfachen Photos gar, wenn nicht gegen Ende des Gedichts, als die Krähen einfliegen, die Bewegung der Zeit spürbar würde. Und wenn sich jemand in dem Zimmer aufhalten sollte, wie ist er hineingekommen, von einer Tür ist nicht die Rede, was sind seine Absichten, kann er den Raum wieder verlassen? Hotelübernachtungen sind, neben Zugfahrten, häufige Motive in Sebalds Prosa. Die Behandlung des Themas in der Lyrik kann den Blick für die Prosa schärfen.

Tischplatte nach Art eines Puzzles aus verschiedenen exotischen & heimischen Hölzern zusammengesetzt & mit marmoriertem Kunstleder überzogen.

Übernachtungen in deutschen Hotels sind in der Prosa selten, Kissingen ist immerhin ein Beispiel. Das Hotel war soeben von Grund auf renoviert worden in dem in Deutschland unaufhaltsam sich ausbreitenden neuimperialen Stil, welcher diskret mit Blaßgrün und Blattgold die Geschmacksverirrungen früherer Jahre überdeckt. Die Empfangsdame, die etwas von einer Oberin an sich hatte, maß mich mit ihren Blicken, als befürchte sie einen Hausfriedensbruch, und als ich den Lift betrat, befand ich mich einem gespenstischen alten Ehepaar gegenüber, das mich mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrte. Das aus Zimmer 645 bekannte Farbspiel, hier blaßgrün und blattgolden, tritt schon im Foyer auf. Während wir aber in das Zimmer 645 wie in ein Locked-Room Mystery eingesperrt sind, ohne zu wissen, wie wir hineingelangt sind und mit wem, wenn überhaupt, wir es teilen, müssen wir das Kissinger Zimmer gar nicht erst betreten, die Oberin und das alte Ehepaar geben schon hinreichend zu verstehen, was uns erwartet. An Wächtern, menschlichen Barrieren muß der Gast immer vorbei, bevor er sein Zimmer erreicht, mögen sie vielleicht auch schlafen, wie in Venedig der Nachtportier, der wie aufgebahrt auf einem engen, seltsam hochbeinigen Lager ruht. Bevor der Gast dem befremdlichen Anblick der Dinge und Wände ausgesetzt ist, hat er sich den Blicken und dem Anblick der Menschen zu stellen und sei es hinter geschlossenen Lidern. Das gesamte Ensemble aber, die Dinge, der reisende Gast und die Wächter werden umfaßt vom Blick des Erzählers, der das Geschehen des Augenblicks in die Vergangenheit trägt und dort betrachtet. In All’estero wird der Umstand des zweiten Blicks motivisch dadurch betont, daß Selysses die Italienreise zwei Mal macht, sich zu dem zweiten Blick des Erzählers also gleichsam ein dritter gesellt. In der erzählerischen Fiktion wird der Bericht noch während der zweiten Reise niedergeschrieben, das zeigt sich, als Selysses der Signora Michelotti sein Schreiben erklärt.

An der Wand grünlich gestrichelte Strukturtapete und eine Bildkomposition von Karsten Krebs unter der in Silberschrift Sogni die Venezia steht.

Der zweite Blick der Prosa mindert nicht die Intensität des ersten, über den das Gedicht nicht hinausgelangt, verleiht ihm vielmehr Perspektive und zusätzliche Tiefe, Weite und Kraft. In der Pension Arosa in Manchester, Selysses’ biographisch erstem Hotelaufenthalt, haben die im Zimmer 645 wie versklavt wirkenden Dinge: hier sind es ein mit Briefschaften und Schriftstücken überquellender Rolladensekretär, eine mit verschiedenem Bettzeug und Candlewickdecken vollgestopfte Mahagonitruhe, ein uraltes Wandtelefon, ein Schlüsselbrett und, in einem schwarzlackierten Rahmen, die großformatige Photographie eines schönen Heilarmeemädchens - ein befreites eigenmächtiges Dasein gewonnen. Während im Locked-Room Mystery des Zimmers 645 der Bewohner spurlos verschwunden ist, und wir das Schlimmste befürchten müssen, wird in Manchester ein besonders eigenmächtiges, wer sich nicht fürchtet, wird sagen: selbstbestimmtes Ding, die teas maid, durch ihr nächtliches Leuchten, ihr leises Sprudeln am Morgen und durch ihr bloßes Dastehen untertags Selysses am Leben festhalten lassen.

Nachtblau gesprenkelt der Teppich kürbisfarben der samtene Vorhang weinrot das Sofa ultramarin & türkis die Blütenkelche auf dem Bettüberzug die Bettumrandung eine schwindelerregende Arabeske aus Lila & Violett.

In Wien, Frankfurt oder auch Brüssel ist Selysses immer vom einsetzenden Verkehrslärm aufgewacht, das Zimmer 645 ist durch die Panzerverglasung von allen Geräuschen abgeschirmt. Das ist aber die bloße, nicht weniger vernichtende Kehrseite des Lärms und nicht die ersehnte Stille. Die Stille eines Hotels erlebt Selysses in Venedig, als nur einzelne Rufe an sein Ohr dringen und das Flügelklatschen der Tauben. Auch die Krähen, die wirren Flugs zurück zu ihren Schlafplätzen fliegen, bleiben unhörbar. In Wien steigt Selysses den Rabenvögeln nach und redet mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus und auch mit einer weißköpfigen Amsel.

Durch den grauen Store Ausblick auf ein häßliches Hochhaus den Fernsehturm das kohlschwarze Sparkassengebäude an dessen oberstem Stockwerk das S-Symbol mit dem Sparpfennig angebracht ist.

Was mag sich zugetragen haben im Zimmer 645? Wenn es das Ablesen einer Videoaufnahme ist, zu welchem Zweck wurde sie angefertigt, hat ein Verbrechen stattgefunden, ist der Insasse, dem keine freundliche Gracie Irlam zur Seite steht, Opfer der stillen Gewalt der Dinge geworden? Auch All’estero ist ein Bericht von Niederlagen und Flucht, Niederlagen in Hotels, in Pizzerien, in Bussen, in Bahnhöfen. Unter dem zweiten, den Erzähler und die Welt gleichermaßen mit einem milden Spott umfassenden Blick des Dichters, wird es aber zu einem siegreichen Bericht von Niederlagen. Auch die Niederlagen selbst werden im Verlauf der Erzählung uneindeutiger. Selysses mag die als Sieg erlebte Ergatterung eines Kapuzinerkaffees im Bahnhofsausschank von Venedig überschätzen, ist aber der Aufenthalt in Limone als Niederlage anzusehen, auch wenn er unstrittig Elemente des Verlierens enthält und unmittelbar auf die Trauung die Trennung folgt; die Fahrt nach Mailand eine Niederlage, auch wenn Selysses, zugegebenermaßen, die Franziskanerin und das Mädchen mit der bunten Jacke nie wiedersehen wird? In Verona dann ist der Sieg eindeutig und unbestreitbar: In der Goldenen Taube war wider alles Erwarten ein ihm in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes Zimmer zu haben und er sieht sich, daran gewöhnt zumeist schlecht bedient zu werden, von einem an Ferdinand Bruckner erinnernden Portier und der anscheinend eigens in der Halle sich einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt. Seinen Ausweis braucht er nicht vorzulegen, der Portier hebt seine Tasche auf und geht ihm voraus in das Zimmer voraus, wo er sich mit einer Verbeugung von ihm verabschiedet. Die Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube genießt, grenzt, wie das anschließende, ihm als würdevoll in Erinnerung gebliebene Frühstück, ans Wunderbare: ein Sieg, der, wenn auch fraglos willkommen, so doch als unangemessen, nicht lebensnah empfunden, den freundlichen Spott des Dichters in besonderem Maße auf sich zieht.

Nichts regt sich nirgends den ganzen Tag bis gegen Abend vor der Panzerverglasung weit auseinandergezogen eine Schar Krähen wirren Flugs zurück zu ihren Schlafplätzen fliegt.


Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg - tatsächlich leitet uns ein für seinen Sieg als Drachentöter gefeierter Heiliger durch die Erzählung von den Schwindelgefühlen, wenn auch ein randständiger, gleichsam heidnischer, ein Heiliger, dem der Dichter, als wir in ein letztes Mal und zwar unter einem Strohhut erblicken, vollendete Weltlichkeit attestiert. Es sind aber weniger die in den Motiven zaghaft aufscheinenden siegreichen Elemente als die majestätische, die im Inneren der in der um W. gelegenen kleinen Kapellen herrschende vollkommende Stille zurückgewinnende Satzgestaltung, die, überbordend, hinter dem geschundener Menschensohn weit in der Ferne den Pantokrator erahnen läßt. Unter den heutigen säkularen Verhältnissen zuverlässiger als irgend sonst erfährt der Leser im Innenraum der Sebaldschen Prosa die Erlösung von allem Übel. Der lyrische Aufenthalt im Zimmer 645 ist weit entfernt von derartigen Wundern, die die Prosa bewirkt

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