Samstag, 3. Januar 2015

Flucht nach Ägypten

Rast am Wasser

Riposo nella fuga in Egitto, ein kleines Ölgemälde, 57 auf 44 Zentimeter, ist das letzte in Roberto Calassos Il rosa Tiepolo reproduzierte Bildwerk. Der Betrachter denkt eher an Bildkompositionen aus einem Westernfilm von John Ford als an den Maler des Weltenwunderbilds in der Würzburger Residenz. Maria, Joseph und der Esel rasten unauffällig in der rechten unteren Bildecke, das Erlöserkind ist mit unbewaffnetem Auge nicht zu entdecken, zwei Vögel schweben über dem Wasser, ansonsten eine unbelebte, nicht ganz geheure Landschaft, fern ab von allem Leibergetümmel der großen Fresken. Bei dem die linke untere Bildhälfte beherrschende Gewässer ist nicht klar, ob es sich um einen Fluß oder einen See handelt, unklar ist auch, wie die heilige Familie nach der Rast ihren Weg fortsetzen soll. Das offenbar tiefe Gewässer kann nicht durchwatet werden, und auch ein begehbarer Uferweg zeichnet sich nicht ab.
Er entsinne sich, so Austerlitz, wie er vor vielen Jahren in einer Rembrandtausstellung in Amsterdam sich vor keinem der großformatigen, unzählige Male reproduzierten Meisterwerke habe aufhalten mögen und statt dessen lange vor einem kleinen, etwa zwanzig auf dreißig Zentimeter messenden Gemälde gestanden sei, das, der Beschriftung zufolge, die Flucht nach Ägypten darstellte, auf dem er aber weder das hochheilige Paar, noch das Jesuskind, noch das Saumtier habe erkennen können, sondern nur, mitten in der schwarzglänzenden Firnis der Finsternis, einen winzigen, vor seinen Augen bis heute nicht vergangenen Feuerfleck.
Die gestalterische Kraft der Erinnerung ist unverkennbar, die Figurengruppe in der Darstellung Rembrandts ist ohne weiteres auszumachen, zumal das Jesuskind, das sich bereits mit überraschender Selbständigkeit an der Feuerstelle bewegt. Fragen bleiben gleichwohl offen, nicht zwei, sondern drei erwachsene Personen sind sichtbar. Maria und Joseph offenbar sitzen am Feuer, weiter rechts steht ein Mann, in der Tat nicht in Begleitung eines Saumtiers, sondern eines Ochsen und kleinerer, ziegenähnlicher Geschöpfe, die Szenerie von Bethlehem scheint sich in etwa zu wiederholen. Alles in allem aber läßt sich das Rembrandtbild als Fortsetzungsfolge des Tiepolobildes lesen. Die Rast hat sich bis zum Abend und in die Nacht hinein ausgedehnt, die Rastenden sind diesmal nicht vom Land, sondern vom Wasser aus gesehen, und aus dieser Perspektive erscheinen die Möglichkeiten für eine Fortsetzung des Weges am nächsten Morgen günstiger.
Vielleicht hätte auch Aurach, bei aller Begeisterung für die Würzburger Fresken, dem kleinen Bild von der Flucht nach Ägypten, wäre es ihm denn gekannt gewesen, den Vorzug gegeben. Calasso sieht, Fragen dieser Art enthoben, eine Art Selbstbildnis: Giambattista Tiepolo accenna di essere arrivato anche al suo fiume verdeazzurro, che è la morte. Jeden Augenblick könnte der die Einfahrt zum Totenreich suchende Kahn des Jägers Gracchus hinter dem Felsvorsprung hervorkommen, so wie er, eben als der Tag anbrach, unversehens in den kleinen Hafen von Riva eingelaufen war, gerade als Mme Gherardi und Stendhal, die die Nacht auf dem See verbracht hatten, dort Rast halten wollten. Der Feuerfleck, der in der Erinnerung Rembrandts Bild fast völlig verschlungen hatte, knüpft an an die drei kleinen Feuerchen aus Austerlitz' Jugend, das von Gerald Fitzpatrick in seiner Not auf dem Flur des Schulgebäudes entfachte, das winzige, von fast nichts brennende Feuerchen in der Wohnung des geizigen Onkels Evelyn und das gleichartige, aber einer bitteren Armut geschuldete im Haus des grünen Heinrichs.
Giambattistas Gemälde vorangestellt ist in Calassos Buch ein ebenfalls die Flucht nach Ägypten behandelnder Stich von Giandomenico Tiepolo. Der Weg führt das heilige Paar vorbei an einer heidnischen Statue, die in dem Augenblick, als das Erlöserkind sie passiert, durch Materialermüdung, wie es aussieht, den Kopf verliert. Tatsächlich aber hat mit der Geburt Christi eine neue und zweifellos bessere Zeit begonnen, und dies nehmt zum Zeichen, das Heidenreich zerfällt, das Gottesreich ist da. In Sebalds Werk stellen sich verschiedene spätere Zeitenwenden nicht so hoffnungsvoll dar, nachdem auch die hier im Bild dargestellte, wie inzwischen einzuräumen ist, längst nicht alle Verheißungen erfüllen konnte.

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