Unheilanstalt
Wer Sebald als den Prime Speaker of the Holocaust sieht und Austerlitz als sein maßgebliches Werk, der wird in Modianos Oeuvre, wenn er es denn zur Kenntnis nimmt, Dora Bruder den Vorzug geben. Austerlitz folgt Agata, nach dem er ihre Spur in Prag gefunden hat, nach Theresienstadt, Modiano folgt Dora Bruder nach Auschwitz. Dabei ist Modiano, der in diesem Buch von seinem Erzähler kaum unterscheidbar ist, mit Dora weder verwandt noch verschwägert. Beim Blättern in alten Zeitungen war er auf die folgende Anzeige aus dem Jahre 1941 gestoßen: On recherche une jeune fille, Dora Bruder, 15 ans, 1 m 55, visage ovale, yeux gris-marron, manteau sport gris, pull-over bordeaux, jupe et chapeau bleu marine, chaussures sport marron. Adresser toutes indications à M. et Mme Bruder, 41 boulevard Ornano, Paris. Was er über Dora im Verlauf einer achtjährigen Recherche herausfindet, ist nur wenig, indem er aber die Viertel besucht, in der sie gelebt und sich bewegt hat, in den Straßen geht, in denen sie wohl gegangen ist, in der Metro auf Strecken fährt, die sie vermutlich gefahren ist, ergibt sich eine Gemeinschaft der Orte und Wege. In den acht Jahren zwischen dem Lesen der Anzeige und der Niederschrift von ist der Erzähler naturgemäß auch Wege in und außerhalb von Paris gegangen und gefahren, die nicht von seinen Nachforschungen berührt waren. Einer dieser Wege führt ihn zum Spital Pitié-Salpêtrière, nachdem er gehört hatte, sein Vater, den er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gesehen hatte, sei dort eingeliefert worden.
In das Spital Pitié-Salpêtrière wird auch Austerlitz nach einem Herzanfall in der Metro eingewiesen. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn nicht ein Krankenpfleger namens Quentin Quignard in seinem Notizbuch die Adresse von Marie de Verneuil entdeckt hätte, die, einmal benachrichtigt, offenbar keine besondere Mühe hatte, ihn in der weitläufigen Anlage aufzufinden und Stunden und Tage an seinem Krankenbett gesessen ist. Ganz anders bei Modiano: Ich erinnere mich, daß ich für mehrere Stunden durch die schier unendliche Weite der Spitalanlage geirrt bin. Ich bin in einige der sehr alten Gebäude eingetreten, dans des salles communes où étaient alignés des lits, je questionnais des infirmières qui me donnaient des renseignements contradictoires. Je finissais par douter de l'existence de mon père en passant et repassant devant ces corps de bâtiments irréels. J'ai arpente les cours pavées jusqu'à ce que le soir tombe. Impossible de trouver mon père. Je ne l'ai plus jamais revu.
Es ist, als haben sich die beiden Dichter in Paris mit Kafka nicht in einem Schloß, sondern in einer Heilanstalt verabredet, einer Heilanstalt anderen Kalibers als die des Dr. Hartungen in Riva. Auch für Austerlitz hat das Spital Pitié-Salpêtrière, dieser ein eigenes Universum bildende Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, surreale Züge. Im Wachtraum einer halben Bewußtlosigkeit sah auch er sich herumirren in einem Labyrinth aus meilenlangen Gängen, Gewölben, Galerien und Grotten. Im Brüsseler Justizpalast hatte er sich zuvor bereits eingeübt auf ein Erlebnis dieser Art, türlose Räume und Hallen, die von niemandem je betreten schienen und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis aller sanktionierten Gewalt sei. Viele Stunden sei er durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte.
Die Dinge sind nicht so, wie sei scheinen. Wenn, was man unterstellen kann, Modianos Erzähler den Vater im Spital Pitié-Salpêtrière nicht wirklich hat finden wollen, mag man auch mutmaßen, daß es Austerlitz insgeheim darum ging, von Marie dort gefunden zu werden.
Wer Sebald als den Prime Speaker of the Holocaust sieht und Austerlitz als sein maßgebliches Werk, der wird in Modianos Oeuvre, wenn er es denn zur Kenntnis nimmt, Dora Bruder den Vorzug geben. Austerlitz folgt Agata, nach dem er ihre Spur in Prag gefunden hat, nach Theresienstadt, Modiano folgt Dora Bruder nach Auschwitz. Dabei ist Modiano, der in diesem Buch von seinem Erzähler kaum unterscheidbar ist, mit Dora weder verwandt noch verschwägert. Beim Blättern in alten Zeitungen war er auf die folgende Anzeige aus dem Jahre 1941 gestoßen: On recherche une jeune fille, Dora Bruder, 15 ans, 1 m 55, visage ovale, yeux gris-marron, manteau sport gris, pull-over bordeaux, jupe et chapeau bleu marine, chaussures sport marron. Adresser toutes indications à M. et Mme Bruder, 41 boulevard Ornano, Paris. Was er über Dora im Verlauf einer achtjährigen Recherche herausfindet, ist nur wenig, indem er aber die Viertel besucht, in der sie gelebt und sich bewegt hat, in den Straßen geht, in denen sie wohl gegangen ist, in der Metro auf Strecken fährt, die sie vermutlich gefahren ist, ergibt sich eine Gemeinschaft der Orte und Wege. In den acht Jahren zwischen dem Lesen der Anzeige und der Niederschrift von ist der Erzähler naturgemäß auch Wege in und außerhalb von Paris gegangen und gefahren, die nicht von seinen Nachforschungen berührt waren. Einer dieser Wege führt ihn zum Spital Pitié-Salpêtrière, nachdem er gehört hatte, sein Vater, den er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gesehen hatte, sei dort eingeliefert worden.
Es ist, als haben sich die beiden Dichter in Paris mit Kafka nicht in einem Schloß, sondern in einer Heilanstalt verabredet, einer Heilanstalt anderen Kalibers als die des Dr. Hartungen in Riva. Auch für Austerlitz hat das Spital Pitié-Salpêtrière, dieser ein eigenes Universum bildende Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, surreale Züge. Im Wachtraum einer halben Bewußtlosigkeit sah auch er sich herumirren in einem Labyrinth aus meilenlangen Gängen, Gewölben, Galerien und Grotten. Im Brüsseler Justizpalast hatte er sich zuvor bereits eingeübt auf ein Erlebnis dieser Art, türlose Räume und Hallen, die von niemandem je betreten schienen und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis aller sanktionierten Gewalt sei. Viele Stunden sei er durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte.
Die Dinge sind nicht so, wie sei scheinen. Wenn, was man unterstellen kann, Modianos Erzähler den Vater im Spital Pitié-Salpêtrière nicht wirklich hat finden wollen, mag man auch mutmaßen, daß es Austerlitz insgeheim darum ging, von Marie dort gefunden zu werden.
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