Comme une algue
In dem Gefühl, daß ich frei sei und ledig, wanderte ich in den Gassen herum, betrat hier und da einen der dunklen stollenartigen Hauseingänge, las mit einer gewissen Andacht die Namen der fremden Bewohner auf den blechernen Briefkästen und versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Der Leser ist von dieser Vorstellung so angetan, daß er gleich in das benachbarte Anwesen einzieht, mit der Absicht, es dem Dichter gleichzutun. Schon aber stellt sich Unsicherheit ein. Wie soll das Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit vonstatten gehen, ist es der gleiche Studienansatz für die vergangene und die vergehende Zeit oder müssen die beiden Zeitformen separat studiert werden; man hätte den Dichter fragen sollen, bevor er die Tür hinter sich schließen konnte. Für die Vergangenheit bietet sich die Historiographie an, sollte für die vergehende Zeit die Form des Romans in Betracht kommen? Aber ist nicht die vergehende Zeit immer schon so gut wie vergangen, und kann das Studium der vergehenden Zeit nicht das der vergangenen umfassen? Nehmen wir ein Buch wie die Schwindel.Gefühle, Stendhals Studium der vergehenden Zeit im frühen, Kafkas Studium der vergehenden Zeit im späten neunzehnten Jahrhundert, das bis 1913 dauert, lesen wir als Studium der Vergangenheit, und auch die vergehende Zeit, durch die hindurch wir dem Erzähler folgen, ist längst Vergangenheit geworden, nicht weniger als der das Buch beschließende Blick auf die Zukunft des Jahres 2013.
Und überhaupt, muß das Wohnen in der steinernen Burg notwendig verbunden sein mit dem Studium der Zeit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen? Ohnehin sieht sich der Leser, der vermeintlich dem Vorbild des Dichters folgend voreilig die Villa okkupiert hat, düpiert, der Dichter ist ihm nicht, wie erwartet, mit gutem oder auch schlechtem Vorbild vorangegangen und sein Nachbar geworden: Weil aber keiner von uns wirklich still sein kann und wir alle immer etwas mehr oder weniger Sinnvolles vorhaben müssen, wurde das in mir auftauchende Wunschbild bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand ich mich, kaum daß ich es wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billett in der Hand. Der entschlußfreudige Leser aber läßt nicht ab von seinem Plan, ne jamais sortir de cette villa. Ne jamais quitter cette pièce. Rester allongés sur le canapé , où peut-être par terre, comme nous le faisions de plus en plus souvent. Chez moi, cela correspondait à une horreur du mouvement, une inquiétude vis-à-vis de tout ce qui bouge, ce qui passe et ce qui change, au besoin de me pétrifier. Mais chez elle? Je crois qu'elle était simplement paresseuse. Comme une algue. Als Bewohner der steinernen Burg hat der, im übrigen dem französischen Autor Modiano auffällig ähnelnde Leser die dem Dichter vorschwebende Idee der Einsamkeit aufgegeben, eine Gefährtin hinzugewonnen und seine Situation neu interpretiert. Das Gefühl des Dichters, frei und ledig zu sein, kann er nicht mehr teilen, vielmehr ist er von einer Art Stockstarre befallen. Die Gefährtin aber erweist sich als ein Naturtalent in der Beherrschung des Zustands, zu dem die Dichter, wenn sie ihr Ziel noch über die fortdauernde Beobachtung der Zeit hinaus entwerfen, nur auf zerebralem Umweg gelangen, das Ziel, eine Alge zu sein, zeitlos, ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
In dem Gefühl, daß ich frei sei und ledig, wanderte ich in den Gassen herum, betrat hier und da einen der dunklen stollenartigen Hauseingänge, las mit einer gewissen Andacht die Namen der fremden Bewohner auf den blechernen Briefkästen und versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Der Leser ist von dieser Vorstellung so angetan, daß er gleich in das benachbarte Anwesen einzieht, mit der Absicht, es dem Dichter gleichzutun. Schon aber stellt sich Unsicherheit ein. Wie soll das Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit vonstatten gehen, ist es der gleiche Studienansatz für die vergangene und die vergehende Zeit oder müssen die beiden Zeitformen separat studiert werden; man hätte den Dichter fragen sollen, bevor er die Tür hinter sich schließen konnte. Für die Vergangenheit bietet sich die Historiographie an, sollte für die vergehende Zeit die Form des Romans in Betracht kommen? Aber ist nicht die vergehende Zeit immer schon so gut wie vergangen, und kann das Studium der vergehenden Zeit nicht das der vergangenen umfassen? Nehmen wir ein Buch wie die Schwindel.Gefühle, Stendhals Studium der vergehenden Zeit im frühen, Kafkas Studium der vergehenden Zeit im späten neunzehnten Jahrhundert, das bis 1913 dauert, lesen wir als Studium der Vergangenheit, und auch die vergehende Zeit, durch die hindurch wir dem Erzähler folgen, ist längst Vergangenheit geworden, nicht weniger als der das Buch beschließende Blick auf die Zukunft des Jahres 2013.
Und überhaupt, muß das Wohnen in der steinernen Burg notwendig verbunden sein mit dem Studium der Zeit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen? Ohnehin sieht sich der Leser, der vermeintlich dem Vorbild des Dichters folgend voreilig die Villa okkupiert hat, düpiert, der Dichter ist ihm nicht, wie erwartet, mit gutem oder auch schlechtem Vorbild vorangegangen und sein Nachbar geworden: Weil aber keiner von uns wirklich still sein kann und wir alle immer etwas mehr oder weniger Sinnvolles vorhaben müssen, wurde das in mir auftauchende Wunschbild bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand ich mich, kaum daß ich es wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billett in der Hand. Der entschlußfreudige Leser aber läßt nicht ab von seinem Plan, ne jamais sortir de cette villa. Ne jamais quitter cette pièce. Rester allongés sur le canapé , où peut-être par terre, comme nous le faisions de plus en plus souvent. Chez moi, cela correspondait à une horreur du mouvement, une inquiétude vis-à-vis de tout ce qui bouge, ce qui passe et ce qui change, au besoin de me pétrifier. Mais chez elle? Je crois qu'elle était simplement paresseuse. Comme une algue. Als Bewohner der steinernen Burg hat der, im übrigen dem französischen Autor Modiano auffällig ähnelnde Leser die dem Dichter vorschwebende Idee der Einsamkeit aufgegeben, eine Gefährtin hinzugewonnen und seine Situation neu interpretiert. Das Gefühl des Dichters, frei und ledig zu sein, kann er nicht mehr teilen, vielmehr ist er von einer Art Stockstarre befallen. Die Gefährtin aber erweist sich als ein Naturtalent in der Beherrschung des Zustands, zu dem die Dichter, wenn sie ihr Ziel noch über die fortdauernde Beobachtung der Zeit hinaus entwerfen, nur auf zerebralem Umweg gelangen, das Ziel, eine Alge zu sein, zeitlos, ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
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