Donnerstag, 15. Oktober 2015

Am Canal grande

Gleichschritt

Mandelstam schließt sein Rundfunkfeature (радиокомпозиция) Goethes Jugend mit einem Blick auf die erste Italienreise. Von Jugend im engeren Sinne konnte da bereits nicht mehr die Rede sein, Goethe war älter als Selysses bei dessen erster Italienreise.

Прислушайтесь к шагам иностранца ... Hört auf die Schritte des Ausländers auf dem warmen Stein eines bereits menschenleeren Kais am Canal Grande. Das ist kein Mensch, der zu einem Stelldichein geht: zu groß der Schwung seiner Gangart, zu entschieden und jäh kehrt er um, wenn er zweihundert oder dreihundert Schritte getan hat. - Der Schritt eines Eroberers, eines Napoleons des Geistes auf dem Kai des Canal grande. Selysses betritt den Kai nach einer scharfen Rasur beim Bahnhofsbarbier, also auch irgendwie schneidig. Von einem erobernden Schritt ist dann allerdings in der Folge nichts mehr zu spüren, vielmehr verliert er sich schon bald in die für Klaustrophobiker nicht geigneten engen Gassen. Wer hineingeht in das Innere dieser Stadt, weiß nie, was er als nächstes sieht oder von wem er im nächsten Augenblick gesehen wird. Geht man in einer sonst leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringen Beschleunigung der Schritte, um demjenigen, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen.

Das Erleben der beiden Venedigbesucher hat soweit, abgesehen vom reinen Faktums des Gehens selbst, kaum Deckungsbereiche. Sehen wir uns also weiter um. Чему так непрерывно, так щедро ... - was war es denn, worüber sich Goethe in Italien so unablässig, so großzügig und funkensprühend gefreut hat? Die Popularität und Ansteckungskraft der Kunst, die Nähe der Künstler zur Menschenmenge, deren lebhaftes Echo, deren Begabtheit, Empfänglichkeit. Mehr als alles war ihm die Abtrennung von Kunst und Leben zuwider. - Auch wenn es zutreffen sollte, was Calasso sagt, mit Tiepolo sei die integrale europäische Hochmalerei an ihr Ende gekommen, hätte Goethe auf seiner Reise davon nichts wissen können. Giambattista Tiepolo war gerade einige wenige Jahre tot, sein Sohn Domenico Tiepolo, kaum minderen Ranges, lebte noch, Goethe bewegte sich inmitten der lebendigen venezianischen und italienischen Malerei, inmitten der großen Künstler. Diese Bedingungen waren für Selysses naturgemäß längst nicht mehr gegeben. Seine kulturelle Leitung vertraut er nicht Goethes Italienischer Reise, sondern Grillparzers Reise nach Italien an, Grillparzer also, der an nichts Gefallen findet und von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht ist. Mit ihm ist eher im Gleichschritt als mit Goethe, dessen ausdrückliche Nichterwähnung einer verkappten Erwähnung gleichkommt.
In Mandelstams Vorstellung ist der Kai am Canal Grande menschenleer, als Goethe ihn betritt. Er führt es auf die späte Stunde zurück, aber ist es nicht eher der Respekt vor dem großen Mann, der die anderen zurücktreten läßt? Auf eine vergleichbare Sonderbehandlung konnte Selysses nicht hoffen, und doch scheint auch er allein auf dem Kai, jedenfalls werden Passanten nicht erwähnt. Auch die beklemmende Szene in den Gassen des Stadtinneren geht nicht auf Überfüllung zurück, es ist nur ein Einzelner, der ihm folgt oder dem er folgt, und vielleicht ist auch der nur ein Gedankenspiel. Allein ist er immer mit den alten Meistern, mit Giotto und Pisanello, in Padua, Verona und London, selbst die Sixtinische Kapelle, vor der andere stundenlang ausharren in der Warteschlange, hätte sich für ihn, wäre er nach Rom weitergereist, zweifellos wie von Zauberhand geleert. Wenn Goethe, wie Mandelstam ihn sieht, sich einfügt in das in der Menschenmenge erklingende lebhafte Echo der Kunst, so versenkt sich Selysses in die abgeschiedene, einsame Bildbetrachtung, über achthundert Jahre hinweg vernimmt er die lautlose Klage der Engel Giottos. Venedig eignet sich nicht für seine Exerzitien, als er das zweite Mal anreist, findet er die Stadt gleichsam verbarrikadiert, in der Bahnhofshalle lagerte hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf demVorplatz lagen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Er reist gleich weiter.

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