Mittwoch, 7. Oktober 2015

Darwin

Wissenschaftsprosa

In einem Roman der Autorin Patricia Highsmith wird der Protagonist, als er durch die Straßen einer am afrikanischen Ufer des Mittelmeers gelegenen Stadt flaniert, urplötzlich von einem derart starken Verlangen nach der Lektüre wissenschaftlicher Prosa erfaßt, daß er spornstreichs zurückläuft in seine Unterkunft. Gerade wer vorzugsweise und in nicht geringem Maße Belletristik konsumiert und dabei neben Freud' auch viel Leid und Pein erfährt, wird Verständnis haben für dieses Verlangen.

In seinem kurzen Aufsatz Rund um die Naturforscher gibt Mandelstam einen Einblick in die Entwicklung des wissenschaftlichen Schreibstils. Der wissenschaftliche Stil der alten, von Linné herkommenden Naturforschung kannte nur zwei Elemente: Gemeinplatzrhetorik, metaphysische wie theologische Moralpredigten und passiv-beschauliche Beschreiberei. Mit Buffon und Lamarck brach eine staatsbürgerliche, revolutionäre, publizistische Strömung in den wissenschaftlichen Stil ein. Darwin nimmt der Natur gegenüber die Haltung eines Kriegsberichterstatters ein, eines Interviewers, eines tollkühnen Reporters, dem es gelungen ist, das Ereignis an seinem Ursprung zu beschreiben.

Austerlitz trifft bei seinem Besuch in Andromeda Lodge auf die Spuren Darwins. Im Jahre 1869 hatte ein Vorfahre Geralds Bekanntschaft mit Darwin gemacht, als dieser in einem von ihm unweit Dolgellau gemieteten Haus arbeitete an einer Studie über die Abstammung des Menschen. In Gestalt des Onkels Alphonso lernt Austerlitz einen späten Jünger Darwins kennen, beschäftigt sich aber weiter nicht mit dem Evolutionstheoretiker. Wenn Darwins Lebensspanne das Ottocento so gut wie ausfüllte, so gilt das gleiche für Linné in Bezug auf das Sette- und für Thomas Browne in Bezug auf das Seicento. Browne gilt offensichtlich die Vorliebe des Dichters, er wird zu wissenschaftlichen Leiter, der uns durch die Ringe des Saturn führt. Bei Browne befindet sich die wissenschaftliche Prosa noch im Larvenzustand, hat sich noch nicht freigemacht, ist, in wissenschaftlicher Prosa ausgedrückt, noch nicht ausdifferenziert.

Unter Thomas Brownes nachgelassenen Schriften über den Nutz- und Ziergartenbau, das Anlegen künstlicher Hügel und Berge, die altsächsische Sprache, die Falknerei oder die Altersfreßsucht verliert sich das Musaeum Clausum nahezu. Das Musaeum wiederum handelt vom Schatten des Denkens, vom Briefwechsel in hebräischer Sprache zwischen Molinea von Sedan und Marie Schurmann, den beiden gelehrtesten Frauen ihrer Zeit, von den furchtbarsten Foltermethoden und zahllosen anderen Dingen und schließlich auch von den zwei persischen Mönchen, die zur Zeit Justinians in einem ausgehöhlten Wanderstab die ersten Eier der Seidenraupe nach Europa brachten. Die Seidenraupe hat sich im Verlauf der Zeit dann als Gegenstand theoretischer und angewandter Wissenschaft etabliert. In Frankreich besorgte Olivier de Serres, älter noch als Browne, mit seiner Publikation Théâtre d'agriculture et mesnage de Champs die wissenschaftliche Grundlegung des Seidenbaus, einen Einblick in das Werk und seinen Schreibstil erhalten wir nicht. Gründlicher werden wir mit seinem Widerpart Béthune de Sully vertraut, der sich ein wissenschaftliches Kleid anlegt, ohne irgend an Wissenschaft interessiert zu sein, vielmehr allein an seinen politischen, gegen den Seidenbau gerichteten Interessen. Zum einen sei das französische Klima nicht günstig für den Anbau von Maulbeerbäumen und zum anderen würde die Leichtigkeit des Seidenbaus zur Verweichlichung der Nation und zur fehlenden Kriegstauglichkeit des Heeres führen. Ersichtlich werden die später von Linné gesetzten Standards wissenschaftlicher Darlegung, mochte sie auch in Gemeinplatzrhetorik eigebettet bleiben, gründlich verfehlt.
Auf dem Boden des deutschen Staatsgebiets dürfen, was den praktischen Teil anbelangt, die Verdienste eines gewissen Seybolt nicht hintangestellt werden, Kunstschönfärber seines Zeichens und in der Seidenanstalt angestellt als Wärter der Seidenwürmer und Aufseher bei der Abhaspelung und Filierung. Wissenschaftlich hinkte das Vaterland hinterher, erst 1826 wurde Joseph von Hazzis Lehrbuch des Seidenbaus für Deutschland veröffentlicht. Auch Hazzi interessiert sich nicht zuletzt für das soziologische Beiwerk, die zu erwartende bürgerliche Verbesserung des Weibergeschlechts und aller anderen an ein regelmäßiges Arbeiten ungewohnten Teilen der Bevölkerung. Das änderte sich auch nicht, als gut hundert Jahre später das Deutsche Reich die Sache in die Hand nahm und ein neues Seidenbauaufbauprogramm einleitete. Der Dichter beschäftigt sich weniger mit den im engeren Sinne seidenbaukundlichen Ausführungen in Friedrich Langes grundlegendem Werk Deutscher Seidenbau, Aufzucht der Raupen, Verarbeitung des Trockenkokons, sondern schaut vor allem auf die nach wie vor virulente, hier vor allem im pädagogischen Bereich angesiedelte zeitgemäße Gemeinplatzrhetorik. Der Seidenraupe sei in jeder Entwicklungsstufe zu den verschiedensten Versuchsanordnungen verwertbar. Bau und Besonderheit des Insektenkörpers seien an ihr aufzuzeigen, desgleichen Domestikationserscheinungen, Verlustmutationen, Auslese und Ausmerzung zur Vermeidung rassischer Entartung.
Die Geburt der reinen, von Moralpredigten befreiten Wissenschaftsprosa erleben wir bei Descartes. Bekanntlich lehrte dieser, daß man absehen muß von dem unbegreiflichen Fleisch und hin auf die in uns bereits angelegte Maschine sich orientieren, auf das, was man vollkommen verstehen, restlos für die Arbeit nutzbar machen und, bei allfälliger Störung, entweder wieder instand setzen oder wegwerfen kann. Leider ist nicht erinnerlich, zu welcher Gattung in der reichen Palette wissenschaftlicher Prosa Patricia Highsmiths Romanheld Zuflucht genommen hatte, um den Seidenbau ging es jedenfalls nicht.

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