Mein Großvater pflegte zu sagen: Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in
Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife,
wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste Dorf zu reiten, ohne
zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit
des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei
weitem nicht hinreicht. - Man könnte meinen, alles was Kafka sonst noch
geschrieben hat, sei in dieser gnomenhaften Erzählung enthalten und würde, wenn
man nur will, zwanglos aus ihr auftauchen. Eine ähnliche Potenz schreibt Jakob Hessing*
einem ebenso knappen frühen Gedicht Sebalds zu: Schwer zu verstehen / ist
nämlich die Landschaft, / wenn der D-Zug von dahin / nach dorthin vorbeifährt,
/ während sie stumm / dein Verschwinden betrachtet. Der Dichter spreche hier
dieselbe Sprache wie in der Prosa, frei schwebende, weit ausholende
Wortfügungen, deren Inhalt und Rhythmus sich gegenseitig die Waage halten. Das
Motiv des Verschwindens sei eine poetische Metapher für den Untergang der
Menschheit, für ihre Selbstauflösung, die mit der industriellen Revolution und
ihrem Symbol, der Eisenbahn, längst begonnen hat.
Man kann dem zustimmen und kann es ergänzen. Der Satz, aus dem das
Gedicht besteht, ist karg und abweisend, der Leser ist nicht eingeladen, er
findet einen Platz weder im Zug noch in der Landschaft. Halten wir den
Einleitungssatz von Austerlitz dagegen, der sich auch mit dem Reisen
beschäftigt: In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu
Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen
Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. - Dieser Satz hat
einen dunklen und geheimnisvollen und zugleich leichten und übermütigen
Klang, eine verborgene Heiterkeit. Was verbreitet als Sebalds Sound bezeichnet wird, ist über den Wohlklang hinaus das stilistische Auspendeln eines nuancierten Weltgefühls. Der Leser ist schon überredet, ist selbst schon
unterwegs nach Belgien. Er verspürt ein Versprechen von Reichtum, einmal in der
Modulation des Satzes selbst, vor allem aber als Versprechen des unendlichen
Reichtums einer unendlichen Reihe von Sätzen, die geeignet sind, die Welt und jede Einzelheit in ihr neu
zu fassen. Im Fazit möchten man mit Leibniz von der wohnlichsten aller bewohnbaren Prosawelten sprechen. Salvatore Altamura, der sich in die Prosa rettet wie auf eine Insel, könnte es nirgends besser antreffen.
Das kleine Gedicht läßt keinen zweiten Satz zu, die Prosa verlangt immer nach dem nächsten. Das kleine Gedicht ist die Seidenraupe,
die geerntet wurde, bevor sie als Seidenvogel auffliegen konnte, die Prosa ist die volle Pracht, die Spanischen Fahnen und Schwarzen Ordensbänder,
die Messing- und Ypsiloneulen, die Jungfernkinder und Alten Damen, die wir in Andromeda Lodge treffen. Naturgemäß dürfen wir nicht die toten Falter vergessen,
die Austerlitz in kleinen Bakelitdosen verwahrt.
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