Schwermut
Als dominanten Bestimmungen für Sebalds Werk gelten Melancholie und ein defätistisches Geschichtsverständnis. Bei K.H. Bohrer liest man, die Grundatmosphäre der Melancholie, die Struktur einer alles handelnde Verhalten in Erinnerung zurücknehmenden Redeweise sei die Auflösung des geschichtsphilosophisch-utopischen Motivs, die Kündigung der Zusammenarbeit mit Geschichtsphilosophie und Utopie aber sei das allgemeine Signum der Kunst in der Moderne. Die Kunst ist aus Hegels großem Raumschiff des Zeit- und Geschichtsverlauf ausgestiegen, das Futur ist gestrichen. Die beiden Bestimmungen, Melancholie und zukunftsloses Geschichtsbild wären mithin nur die zwei Seiten eines einzigen Merkmals, und dieses Merkmal wäre in keiner Weise spezifisch. Daraus ergibt sich keine moderne Einheitskunst, auch Bohrer unterscheidet, wie jeder andere, in seinen Detailausführungen mühelos zwischen Samuel Beckett, Franz Kafka und Virginia Woolf, allesamt Melancholiker auf ihre je eigene Weise. Das besondere bei Sebald ist, daß Melancholie und Geschichte fortwährend an die thematische Oberfläche getragen werden. Die Entdeckung der beiden Motive ist keineswegs ein Kunststück, eher schon stellt sich die Frage, wie tief unter die Oberfläche es denn geht.
Janine Rosalynd Dakyns habe er, so Selysses, gelegentlich gesagt, sie gleiche, zwischen ihren Papieren, dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie. Zuvor hatte er mit liebevollem Spott die in ihrem Arbeitszimmer entstandene Papierlandschaft geschildert. Auch der Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden, auf den es fortwährend aus halber Höhe hinabsank, wieder die Wände emporzusteigen, die bis zum oberen Türrand bedeckt waren mit einzelnen teilweise dicht übereinandergehefteten Papierbögen und Dokumenten. Es ist eine lächelnde Melancholie, Schwermut erscheint als ein Feld der Leichtigkeit. Eine heitere Melancholie ist die äußerste Heiterkeit, die der Zustand der Welt zuläßt. Die heitere Schwermut erweist sich als Begegnungsstätte, als Bezirk der Freundschaft, gar der Liebe.
Die eigentlich resolute und lebensfrohe Luciana Michelotti machte an diesem Tag, ihrem 44. Geburtstag, einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Dieser leichte melancholische Anfall ist die unverzichtbare Voraussetzung für die sich anschließende in jeder Hinsicht zarte Romanze. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder zu ihm hinüber. Sie brachte ihm auch in regelmäßigen Abständen einen Expreß und ein Glas Wasser. Einmal ist es ihm gewesen, als spüre er ihre Hand auf seiner Schulter. Es ist die Hand, die gerade noch einen Cappuccino oder eine Schokolade gemacht, ein Bier oder ein Glas Wein ausgeschenkt hatte, eine verwandelte Hand. Auf Stendhals Schreibtisch lagt, zum Andenken an Métilde, ein Gipsabdruck ihrer linken Hand, den sich zu verschaffen ihm kurz vor dem Debakel in Volterra noch gelungen war. Diese Hand bedeutete ihm nun beinahe ebensoviel, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers verursachte ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bisher noch nicht erfahren hatte. Ein ähnliches, Luciana betreffendes Memorial wird nicht erwähnt.
Wie ein Wolkenschatten zieht die vergehende Zeit über dem Land, aus der vergangenen Zeit wird Geschichte. So nennen wir das Vergangene, wenn wir glauben, es verstehen zu können. Hilary weiß von jedem Windhauch über dem Schlachtfeld Austerlitz, wenn man aber alles zusammenfaßt, wovon man nichts weiß, bleibe als Zusammenfassung aber nur der lachhafte Satz: Die Schlacht wogte hin und her. Die Wahrheit liege irgendwo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits. Man kann die Zeit anhalten, aufrecht stellen und in den tiefen Grund der Vergangenheit rammen, es wird nicht besser. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit. Eine milde, lächelnde Melancholie erlaubt die liebevolle, wenn nicht liebende Begegnung zweier Menschen, die für einen Augenblick Schutz finden vor dem Übermaß der Dinge und Geschehnisse, die keinen Sinn ergeben.
Als dominanten Bestimmungen für Sebalds Werk gelten Melancholie und ein defätistisches Geschichtsverständnis. Bei K.H. Bohrer liest man, die Grundatmosphäre der Melancholie, die Struktur einer alles handelnde Verhalten in Erinnerung zurücknehmenden Redeweise sei die Auflösung des geschichtsphilosophisch-utopischen Motivs, die Kündigung der Zusammenarbeit mit Geschichtsphilosophie und Utopie aber sei das allgemeine Signum der Kunst in der Moderne. Die Kunst ist aus Hegels großem Raumschiff des Zeit- und Geschichtsverlauf ausgestiegen, das Futur ist gestrichen. Die beiden Bestimmungen, Melancholie und zukunftsloses Geschichtsbild wären mithin nur die zwei Seiten eines einzigen Merkmals, und dieses Merkmal wäre in keiner Weise spezifisch. Daraus ergibt sich keine moderne Einheitskunst, auch Bohrer unterscheidet, wie jeder andere, in seinen Detailausführungen mühelos zwischen Samuel Beckett, Franz Kafka und Virginia Woolf, allesamt Melancholiker auf ihre je eigene Weise. Das besondere bei Sebald ist, daß Melancholie und Geschichte fortwährend an die thematische Oberfläche getragen werden. Die Entdeckung der beiden Motive ist keineswegs ein Kunststück, eher schon stellt sich die Frage, wie tief unter die Oberfläche es denn geht.
Janine Rosalynd Dakyns habe er, so Selysses, gelegentlich gesagt, sie gleiche, zwischen ihren Papieren, dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie. Zuvor hatte er mit liebevollem Spott die in ihrem Arbeitszimmer entstandene Papierlandschaft geschildert. Auch der Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden, auf den es fortwährend aus halber Höhe hinabsank, wieder die Wände emporzusteigen, die bis zum oberen Türrand bedeckt waren mit einzelnen teilweise dicht übereinandergehefteten Papierbögen und Dokumenten. Es ist eine lächelnde Melancholie, Schwermut erscheint als ein Feld der Leichtigkeit. Eine heitere Melancholie ist die äußerste Heiterkeit, die der Zustand der Welt zuläßt. Die heitere Schwermut erweist sich als Begegnungsstätte, als Bezirk der Freundschaft, gar der Liebe.
Die eigentlich resolute und lebensfrohe Luciana Michelotti machte an diesem Tag, ihrem 44. Geburtstag, einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Dieser leichte melancholische Anfall ist die unverzichtbare Voraussetzung für die sich anschließende in jeder Hinsicht zarte Romanze. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, blickte immer wieder zu ihm hinüber. Sie brachte ihm auch in regelmäßigen Abständen einen Expreß und ein Glas Wasser. Einmal ist es ihm gewesen, als spüre er ihre Hand auf seiner Schulter. Es ist die Hand, die gerade noch einen Cappuccino oder eine Schokolade gemacht, ein Bier oder ein Glas Wein ausgeschenkt hatte, eine verwandelte Hand. Auf Stendhals Schreibtisch lagt, zum Andenken an Métilde, ein Gipsabdruck ihrer linken Hand, den sich zu verschaffen ihm kurz vor dem Debakel in Volterra noch gelungen war. Diese Hand bedeutete ihm nun beinahe ebensoviel, wie Métilde ihm je hätte bedeuten können. Insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers verursachte ihm Emotionen von einer Heftigkeit, wie er sie bisher noch nicht erfahren hatte. Ein ähnliches, Luciana betreffendes Memorial wird nicht erwähnt.
Wie ein Wolkenschatten zieht die vergehende Zeit über dem Land, aus der vergangenen Zeit wird Geschichte. So nennen wir das Vergangene, wenn wir glauben, es verstehen zu können. Hilary weiß von jedem Windhauch über dem Schlachtfeld Austerlitz, wenn man aber alles zusammenfaßt, wovon man nichts weiß, bleibe als Zusammenfassung aber nur der lachhafte Satz: Die Schlacht wogte hin und her. Die Wahrheit liege irgendwo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits. Man kann die Zeit anhalten, aufrecht stellen und in den tiefen Grund der Vergangenheit rammen, es wird nicht besser. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit. Eine milde, lächelnde Melancholie erlaubt die liebevolle, wenn nicht liebende Begegnung zweier Menschen, die für einen Augenblick Schutz finden vor dem Übermaß der Dinge und Geschehnisse, die keinen Sinn ergeben.
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