Mittwoch, 27. Januar 2016

An tOileánach

Inselbewohner

Salvatore Altamura rettet sich in die Prosa wie auf eine Insel. Den ganzen Tag über sitze er in einer Lärmflut, am Abend aber setze er über auf eine Insel, wenn er die ersten Sätze anfange zu lesen, komme es ihm jedesmal vor, als rudere er weit aufs Meer hinaus. Nur Prosa kann offenbar in seinem Fall diesen Effekt zu erzielen, also nicht Lyrik und wohl auch keine Theaterstücke. Im Grunde teilt er eine Erfahrung mit jedem wahren Leser, nicht aber mit bloßen Zeitvertreibern. Sobald er, der Leser, den Salon der Anna Pawlowna Scherer betritt, ist die eigene Wohnung verschwunden. Schon als Kind, wenn er mit weiteren vier Karl-May-Romanen die Leihbücherei verließ, war er auf einen vierwöchigen Aufenthalt in fremden Weltgegenden eingestellt. An eine Insel hätte er vielleicht weniger gedacht oder allenfalls, als Robinson Crusoe anstand, und auch dann nicht in der gleichen Weise wie Salvatore Altamura.

Karl May könnte Salvatore Altamura im Erwachsenenalter nicht helfen, Tolstoi im Prinzip schon. Aber es ist ein akutes Verlangen, er braucht nicht tausend Seiten, sondern den Gang einiger weniger Sätze, so wie der Herzkranke das Nitrospray augenblicklich braucht. Schon die Lektüre der wenigen in diesem Augenblick noch nicht geschriebenen Sätze aus den Schwindel.Gefühlen, die sein Prosaverlangen schildern, würden ihn retten. Würde er dann umfänglicher in dieser Prosa unbestimmter Art, in dieser Prosa schlechthin lesen, so träfe er auf lauter der Lärmflut entkommene Inselbewohner. Aurach auf seiner Atelierinsel mitten in Manchester, im Innenhof ein blühendes Mandelbäumchen. Der Richter Farrar auf seiner Roseninsel, der Landwirt Garrad auf seiner Tempelinsel, die Ashburys auf der Insel der unnützen Tätigkeiten, der Major Le Strange auf seiner verborgenen Insel, die nur die spärlichsten Einblicke zuläßt, Oilean na mBeo im Südosten Englands. Fraglos würde er sich als weiterer dauerhafter Inselbewohner einrichten.

Wir denken an Tomás Ó Criomhthain, den leibhaftigen Inselmann, den Oileánach. Als einer der letzten Bewohner von Blascaod Mór* hat er sich, nicht vor der Lärmflut fliehend, sondern aus der Stille der Verlassenheit in die Prosa begeben und sein Buch vom Inselmann geschrieben. Sebalds Erzähler konnte den 1937 Verstorbenen nicht mehr aufsuchen. Blascaod Mór ist jetzt unbewohnt, auf Ó Criomhthains Prosainsel aber kann jeder reisen.


* Großartig der Bildband, Portráid Pictiúr: Daithi de Mordha, Michael de Mordha, The Great Blasket - An Blascaod Mór, 2013

Keine Kommentare: