Dienstag, 5. Januar 2016

Freigefegt

Sebalds Blick

Beckett und Proust verwahren wir in unterschiedlichen Schubladen unserer Vorstellung, imgrunde sind wir verwundert, daß der eine über den anderen geschrieben hat. Beckett schickt seinem Aufsatz eine resolute Klarstellung voraus. Sein Buch handle weder von dem legendären Leben und Sterben Marcel Prousts noch von dem geschwätzigen alten Weib der Briefe noch von dem Verfasser der Essays. Es wäre jedem Prosawerk von Format zu wünschen, es fände jemanden, der es so entschlossen freifegt. Wenn Sergio Chejfec davon spricht, daß wir Sebald mit Bewunderung und in reiner ästhetischer Freude lesen, hat er eine vergleichbare Bereinigung vollzogen, denn die Arbeiten über Sternheim und Döblin und andere Arbeiten dieser Art wird er bei seinem Urteil nicht im Sinn gehabt haben. In den Arbeiten über Sternheim und Döblin ist Sebald selbst eindeutig nicht den Weg von Beckett und Chejfec gegangen. Im werkimmanenten Verstehen sieht er einen Trick der Nachkriegsgermanistik, der Wahrheit nicht ins Auge zu blicken, und fordert, die damals dominante sogenannte kritische Theorie vor Augen, eine soziologische Herangehensweise. Ohne sich von der aggressiven Weise des jungen Sebald anstecken zu lassen, zeigt Jakob Hessing*, daß der kritiko-soziologische Zugriff in der Hand Sebalds letztlich nicht erfolgreich war.

Man könnte meinen, Sebald habe als Prosadichter ein ähnliches Schicksal, wie er es Sternheim und Döblin mit dem soziologischen Zugriff bereitet hatte, zu vermeiden versucht, indem er die Erde vorsorglich entvölkerte. Die Großstadt Manchester ist so gut wie menschenleer, die Bewohner Prags, sämtlich chronische Raucher, sind nicht mehr weit von ihrem Ende entfernt, in Terezín ist lediglich ein Geistesgestörter in einem zerrissenen Anzug noch unterwegs, bevor auch er urplötzlich vom Erdboden verschluckt wird, und auch Brüssel, die europäische Hauptstadt, ist vornehmlich nurmehr von einigen Buckligen und Irren bewohnt. Zwar besteht die Gesellschaft, folgt man Luhmann, nicht aus Menschen, der Mensch ist der Gesellschaft äußerlich, andererseits aber gibt es keine Gesellschaft ohne das humane Substrat. Bei Sebald treffen wir nur auf vereinzelte Exemplare des Homo Sapiens, Malachi in Venedig, Salvatore Altamura in Verona, Aurach in Manchester, Selwyn, Garrad, Hamburger, Le Strange in Südostengland und einige andere mehr über die Welt verstreut, eine Gesellschaft ergibt sich daraus nicht. Keine Gesellschaft, keine Soziologie sollte man meinen, die Vorsichtsmaßnahme hat allerdings Fridolin Schley nicht daran hindern können, den geballten soziologischen Zorn, nunmehr in der Machart Bourdieus, auf Sebald niederfahren zu lassen.

Hessing hält sich im wesentlichen in dem Bereich, den Beckett bei seinem Blick auf Proust umstandslos beiseite geschoben hat, und wirft von da aus vorsichtige Blicke auf das Prosawerk. Im Zentrum steht dabei das Thema des deutschsprachigen Judentums, das, beginnend mit Sternheim und Döblin, zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Essays dominiert und unübersehbar auch in die Prosa vordringt. Weniger auffällig ist es in den Schwindel.Gefühlen und den Ringen des Saturn, wenn man absieht von dem Italienreisenden Kafka, der, ganz und gar Jude, aufgrund seiner übergroßen Qualität das paulinische Universalismusgebot erfüllt, hier ist kein Jude noch Grieche &c. Sebald betont demgegenüber in einem seiner Aufsätze Kafkas Judentum, indem er durch eine raffinierte linguistische Operation den Landvermesser K. in den Messias verwandelt. Er stellt diese Wandlung als unzweifelhaft hin, nach Hessings Einschätzung ist sie nichts weniger als das. Vielleicht ist es unter anderem die Freude an kühnen Behauptungen, die Sebald von der Literaturbetrachtung zur Literatur gebracht hat. Hier kann er versteckt hinter einer vorgeblich schwach fiktionalisierten dokumentarischen Haltung ungeahndet auch übermütig-dreiste Fiktion betreiben, indem er etwa den Erzähler eine Passage aus Conrads Kongotagebuch wortwörtlich erinnern läßt und sie auch wortwörtlich mitteilt, obwohl keines dieser wortwörtlichen Wörter im Tagebuch auftaucht. Wer ist nicht der Zeitungsnachricht vom Tode des Majors Wyndham Le Strange auf den Leim gegangen. In den Ausgewanderten ist das jüdische Thema so dominant, daß wiederholt von den vier jüdischen Protagonisten zu lesen war, offenbar unter Einbeziehung des Großonkels Adelwarth und damit auch seines Großneffen, dem Erzähler, und letztlich also auch des Autors. Hessing stellt demgegenüber zum in dieser Weise judaisierten Sebald bündig fest: Das Judentum ist  ihm immer fremd geblieben. Es wäre demnach ein Fremdkörper im Werk. Man denkt an Tolstoi, dessen flach rationalistisch-christliches Moralisieren, wie man heute sagt: nervt. Man kann sich aber nicht sicher sein, was der Prosa widerfahren wäre, hätte man diesen Teil, diesen Impetus operativ entfernt.

Hessings Aufsatz schließt mit einem schönen Blick auf Mathild Seelos, Sebalds bevorzugte Heroine, seine weibliche Inkarnationsfigur, die als solche gleichsam ein Paar bildet mit dem Major George Wyndham Le Strange (GWS).

*Jakob Hessing . Verona Lenzen, Sebalds Blick, 2015

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