Dienstag, 12. Januar 2016

Astronomen

Himmelswirrwarr

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. - Nimmt man den berühmten Satz  für sich, verbreitet er eine vorauseilend biedermeierliche Atmosphäre, so als habe der vorkopernikanische Himmel wieder Einzug gehalten, die physikfreie Himmelskuppel, allein dem unmittelbaren Gestaltungswillen Gottes unterworfen, der zur Freude der Menschen die an Kristallschalen gehefteten Sterne um sie kreisen läßt. Wer nicht tiefer in Kants Gedankenwelt eingedrungen ist, und das sind, gemessen an der Erdbevölkerung, so gut wie alle, wird so oder so ähnlich denken. Das weitere Argument bestätigt dann aber den Aufenthalt in der Neuzeit, die freilich noch neu war: Beide verknüpfe ich mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große. Der Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart.

Sebalds zwei Astronomen erweisen sich nicht als Kantianer im strengen Sinne. Malachi, der Venezianer, sieht alles aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. Ob er bei dieser Sichtweise das moralische Gesetz in uns gemäß Kants Auslegung, als von der Tierheit und der ganzen Sinnenwelt unabhängig, entdecken kann, muß bezweifelt werden, ohnehin ist inzwischen auch dem extremen Nahblick die Entfernung zur Tierheit so gut wie abhanden gekommen, überall die gleichen Gene. Seinem Fernblick verschwimmen offenbar auch der neue und der alte Himmel zu einem. Von astrophysikalischen Forschungen erfahren wir nichts, stattdessen hat er sich wieder dem ursprünglichen Herrn des Sternengewölbes und seinen Helfern zugewandt. In letzter Zeit habe er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Antworten habe er nicht gefunden, aber es genügten ihm eigentlich auch schon die Fragen. Anders Gerald Fitzpatrick, für den Himmel der Astrophysik findet er ähnlich begeisterte Worte wie die, mit denen Dante den Gotteshimmel ausgemalt hatte, dort, im Sternennebel, möchte er sein. Als Kind schon, in Andromeda Lodge, hatte ihn nichts so gefesselt wie die Flugkünste der Tauben, vom ausgezahlten Erbteil hatte er sich sogleich eine Cessna gekauft, um jeden freien Augenblick hoch über der Erde zu verbringen und der vorgeblich vom moralischen Gesetz geleiteten Menschheit zu entkommen. Mit dem Absturz im Hochgebirge ist er seinem Ziel so nahe gekommen wie auf Erden möglich. Wenn Gott das schwierige Stück der Auferstehung und der Wiedererweckung der Gebeine und des Leibes gelingt, müßte ihm der anschließende Transfer zum Andromedanebel, als der endgültigen Unterkunft, ein Leichtes sein.

In der Familie des schwäbischen Astronomen Kepler war der Vorname Sebald überdurchschnittlich verbreitet. Astronomische Begabung oder Neigung ist bei den Namensträgern nicht aufgetreten.

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