Sonntag, 27. August 2017

Anthropozän

Ikarus

In seinen Tag- und Nachträumen hat der Dichter immer wieder eine vom Menschen befreite Erde vor Augen, vom Flugzeug aus sieht er Traktoren, die führerlos die Äcker pflügen, vom Zug aus Automobile, die fahrerlos durch die Gischt der nassen Landstraße gleiten. Ist der Kraftstoff verbraucht, stehen die Gefährte für immer still. Die Schatten der Wolken laufen über die jähen Abhänge und durch die Schluchten. Nichts rührt sich sonst. Es herrscht die äußerste Stille, denn auch die letzten Spuren des Pflanzenlebens, das letzte raschelnde Blatt oder Rindenfetzchen sind längst verweht, und bloß das Gestein liegt bewegungslos auf dem Grund. Nach der Natur ist vor der Natur, wenn nur der Mensch ausbleibt. In seinen Überlegungen zum Anthropozän greift Sloterdijk eine Berechnung des naturwissenschaftlich und technisch versierten Stanisław Lem auf. Danach findet die gesamte humane Erdbevölkerung leicht wenn auch nicht bequem Platz in einem nur einen Kubikkilometer großen Käfig. Die letzte große Gemeinschaftsaufgabe der Menschheit besteht darin, einen Helikopter zu entwerfen, der geeignet ist, den nach unseren Maßstäben riesigen, aus übergeordneter Sicht aber winzigen Behälter hinaus auf die offene See zu schleppen. Am geeigneten Ort stellt der Pilot den Motor ab, der abstürzende Käfig samt Flugkörper hebt den Pegel der Ozeane nur um den Bruchteil eines Millimeters. Die technischen Lösungen sind immer die saubersten.

Freitag, 25. August 2017

Erlöserkind

Rückweg offen

Jezus najsłodszy, allsüßester Jesus, ist eine geläufige Vokabel der polnischen katholischen Volksfrömmigkeit. Beckett greift, geleitet vom irischen Katholizismus, das Motiv im Ton der Spottdrossel auf: Doux Jésus, paisible et suave, par exemple, ou bien Jésus mon seul, mon tout, entends moi quand je t’appelle, par exemple.* Bei Sebald, vom bayrischen Katholizismus sonst wenig eingenommen, ist allenfalls ein Hauch von Ironie zu spüren, wenn er Pisanellos Bild beschreibt, dessen obere Hälfte fast ganz ausgefüllt ist von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Mrs. Ramsay, in Virginia Woolfs Lighthouse, hat den sehnlichen Wunsch, ihre beiden jüngsten Kinder, James und Cam, möchten immer so bleiben, wie sie im Augenblick sind. Maria werden ähnliche Gedanken nicht fremd gewesen sein, zumal ihr Sohn unmittebar nach der Geburt über vollentwickelte Attribute der Göttlichkeit verfügte, wie die Anbetung der Hirten und Weisen beweist. Warum ihn also der Gefahr des Erwachsenwerdens aussetzen – Sorgen die, wie jeder weiß, nur allzu berechtigt waren. Mit Hilfe des Herrn wäre ihr geheimer Wunsch leicht erfüllbar gewesen. Heute würde man eine medikamentös zu behandelnde Wachstums- und Entwicklungsstörung diagnostizieren, wie sie etwa, in geringerem Ausmaß, bei dem Fußballer Messi (!) vorgelegen hatte, damals aber, zu Beginn der Zeitrechnung, hätte man nichts anderes als ein Wunder Gottes gesehen. Ganz allgemein ist die zu Herzen gehende Wirkkraft des Neugeborenen bekannt, und so verwundert es niemand, wenn das Jesuskind immer wieder in das Zentrum der Verehrung und Anbetung geraten ist. Bedurfte es überhaupt noch der späteren Worte, Gleichnisse und Lehren? Das ist eine tiefreichende Frage. Das Christentum hätte bei Erfüllung des Marienwunsches zugegebenermaßen auf einem ganz anderen Fundament gestanden. Auch bleibt unbeantwortet, wann und auf welchem Weg das Kind zurück in die Transzendenz hätte finden können. Eine unüberbrückbare Schwierigkeit war das nicht.

*Vgl. auch die populären Dankesworte: Bien mangé, bien bu, merci, petit Jesus!

Samstag, 19. August 2017

Abendstunde

Irgendwann im Herbst

Angesichts seines schwindenden Sehvermögens hatte Mme Landau Bereyter das Angebot gemacht, ihm den ganzen Pestalozzi vorzulesen. Dafür, hatte er erwidert, opfere er gern sein Augenlicht und sie möge unverzüglich damit beginnen, am besten vielleicht mit der Abendstunde eines Einsiedlers. Bernhards monomane, an einem Autor oder gar einem Buch sich festbeißende Leser und Vorleser kommen in den Sinn, immer nur Pascal, immer nur Kropotkin, immer nur Novalis, immer nur Ofterdingen. Die auserlesenen Autoren sind nicht aktuell, haben kein größeres Lesepublikum mehr und sind nicht unterwegs auf der Hauptstraße aus der Vergangenheit in die Gegenwart, auf der sich etwa Rousseau, Kant, Goethe, Hegel und Nietzsche bewegen. Den Leser aber kann eine Unruhe erfassen, die Angst etwas zu versäumt zu haben, eine Art mimetisches Begehren im Sinne Girards, vielleicht wurde er betrogen, vielleicht hätte er bei Pascal oder Novalis Zuverlässigeres über die Ordnung der Welt erfahren können als bei Rousseau oder Nietzsche, vielleicht ist die vermeintliche Hauptstraße in die Gegenwart gar nicht die Hauptstraße, sondern nur ein Holzweg.

Das Zusammenleben von Mme Landau und Bereyter ist denkbar weit entfernt von der Torturgemeinschaft des Kalkwerks, und der Leser erklärt sich die Wahl Pestalozzis leicht mit Bereyters Unterrichts- und Erziehungsbegeisterung, mimetische Unruhe wird nicht erzeugt, sofern der Leser nicht selbst ein Melamed ist und auch dann nicht, denn in diesem Fall wäre er mit Pestalozzi bereits hinreichend vertraut. Schwer zu sagen, was Bereyter an der von ihm bevorzugten, im hohen Predigtstil gehaltenen und, abgesehen vom Titel, eigentlich in jeder Hinsicht unerträglichen Abhandlung gefunden haben mag. Webt da ein verborgener Hintersinn? Wie auch immer, als Eremit in seiner Abendstunde, so wird er sich gefühlt haben und irgendwann im Herbst, in den Abendstunden des Jahres, macht er sich auf nach S. in Deutschland, um, wie er sagt, seine Wohnung dort aufzulösen, stattdessen legt er sich eine kleine Strecke außerhalb von S. vor den Zug. Vom Suizid hatte er zuvor nie geredet, anders als Bernhards Helden, die fortwährend davon reden und es aufschieben, um noch länger davon reden zu können. Wer sich in Gefahr begibt, kann darin umkommen, hatte schon immer für die Fahrten nach S. gegolten. Wäre er in der Schweizer Vorleseidylle verblieben, hätte die Erzählung womöglich mit dem Satz enden können: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Es ging aber nicht darum, die Arbeit der Brüder Grimm fortzuschreiben.

Dienstag, 15. August 2017

Belacqua

Zu schlaff

Man ist verwundert, bei jemandem, der das ganz und gar Unverständliche gern unter die Rubrik brachte, C’est là du gaélique pour moi -, bei Beckett mit anderen Worten, auf den Satz zu stoßen: On ne verra plus son semblable, ist es doch, in angemessener Übersetzung, die bei Tomás Ó Criomhthain immer wieder auftretende und dann von Flann O’Brien, halb in satirischer Absicht, halb bestätigend, wieder aufgegriffene Sentenz, Ná beidh ár leithéidí aris ann (seinesgleichen wird man nie wieder sehen) eine Sentenz, die als Motto alle großen melancholischen Werken schmücken könnte, naturgemäß auch das Werk Sebalds. Dantes Dualismus ist aber schwer auf dem Wege der Melancholie zu entkommen, und in vielen, endlos vielen Fällen müßte die Sentenz lauten, Wenn man doch nur so einen wie ihn niemals wieder sehen müßte. Beckett selbst hatte sich bereits als noch sehr junger Mann Belacqua aus dem vierten Canto des Purgatorio als Namenspatron erwählt, eine Gestalt zu schlaff, um das Paradies zu erreichen, zu schlaff aber auch, um den Weg bergab in die Hölle zu gehen.

Mittwoch, 9. August 2017

Schiedsgericht

Sägen
Arno Schmidt schreibt 1970: Mit einer derart reduzierten Welt arbeitn ist ebenso technisch leicht wie billig. Joyce ist die Fülle. Beckett ne Krampfhenne. Uwe Johnson schreibt 1971: Das Gespräch mit ihm zählt zum Schönsten, was es für mich überhaupt gibt. Beckett ist für mich als Mensch wie als Autor vorbildlich und vollkommen. – Wer ist nun der Idiot? Sebald hat Schmidts linguistische Laubsägearbeiten, wie er es nennt, mit unverhohlenem Mißfallen betrachtet.

Montag, 7. August 2017

Gaélique

Sull'ali dorate

C’était là des sons qui étaient du gaélique pour moi, bekennt der Erzähler Sam, also letztlich der der gälischen Sprache offenbar unkundige Samuel Beckett selbst, als Watt sich darauf versteift hatte, gleichzeitig die Laute im Wort, die Wörter im Satz, und die Sätze im Absatz zu vertauschen, so daß seine Ausführungen wie folgt klangen: Tav te tonk, toc à toc. Ruoi tuot, skon trap. Ruoi kommt dem gälischen ruog nahe, vielleicht war das, unbewußt, der Auslöser. Je mis du temps à me faire à cela, heißt es weiter, immerhin also hat Sam letztendlich die Schwierigkeiten überwunden, und man kann sich fragen, ob er bei dieser Gelegenheit das Gälische auch gleich miterobern konnte, immerhin hatte Austerlitz seinerseits in Bala vom Schuster Ifans das Walisische, eine für Außenstehende nicht weniger sperrige Sprache aus der keltischen Gruppe, förmlich im Flug erlernt. Beckett hätte dann unter anderem Freundschaft mit dem damals weder ins Französische noch ins Englische, Deutsche oder Lateinische übersetzte Prosawerk Ó Cadhains schließen können, das seinem eigenen Ansatz alles in allem näher stand als James Joyces Schriften und ihn zusätzlich hätte beflügeln können. Die Frage in diesem Zusammenhang ist naturgemäß die, ob goldene Flügel, die Beckett niemand absprechen will, noch weiter beflügelbar sind.

Freitag, 4. August 2017

Extremsport

Dans la boue

Das Erstaunen, den jungen Austerlitz auf einem Photo als Mitglied einer Rugbymannschaft zu sehen, ist durch die Mitteilung, er habe Hervorragendes in dieser Sportart geleistet dann nur noch wenig zu steigern. Geradezu Ungläubigkeit aber stellt sich ein, wenn man den jungen Samuel Beckett - man kennt seine Bücher und den Asketenkopf der späten Jahre - auf einem Photo als Mitglied eine Rugby- und auf dem nächsten Photo als Mitglied eines Kricketteams erkennt, um dann obendrein belehrt zu werden, auch im Schwimmen und Boxen habe er seinen Gegnern keine Chance gelassen. Aber ist dieses Erstaunen, diese Ungläubigkeit eigentlich gerechtfertigt, hat sich Beckett nicht auch in seinen Werken immer wieder als Bewegungsgenie erster Güte und, mehr noch, als glänzender Analytiker der Bewegungsabläufe erwiesen, zumal und vor allem in seiner letzten umfänglicheren Prosaarbeit Comment c’est, Schlammarathon, kriechend Freistil über eine Distanz von zweihundert Seiten, selbst unter den Extremsportarten eine der härtesten Disziplinen, à plat ventre ferme les yeux j’ouvre la bouche la langue sort va dans la boue une minute deux minutes et de soif non plus pas question de mourir pendant ce temps un temps énorme jambe droite bras droit pousse tire dix mètres quinze mètres arrivée nouvelle place réadaption prière au sommeil qu’en attendant questions au besoin de qui il s’agissait quels êtres quel point de la terre, &c. autres cent soixante-treize pages jusqu‘ au but.

Donnerstag, 3. August 2017

Denken und Lenken

Thekla

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt, oder, in der populären Kurzfassung, der Mensch denkt, Gott lenkt. Luhmanns Werk kann als die denkbar aufwendigste Nachzeichnung des knappen frommen Spruches gelesen werden, modifiziert für den Bedarf säkularisierter, gottloser Gesellschaften. Brecht hatte zunächst durch Austausch des Satzzeichens gedichtet: Der Mensch denkt: Gott lenkt - der Mensch täuscht sich, wenn er denkt, daß Gott lenkt, er selbst muß seine Wege nicht nur erdenken, sondern auch erbauen, frisch Genossen, seid zur Hand. Luhmann korrigiert, zwar ist kein Verlaß mehr auf den lenkenden Gott, das menschliche Denken hat davon aber keinen Gewinn, seine Zielsetzungen geraten in die systemischen Magnetfelder und können die Richtung nicht halten. Der zu Schwindelgefühlen neigende Dichter betrachtet unschlüssig Tiepolos Bild. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Wir wollen hinsehen und einen Begriff haben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht, was aber bekommen wir zu sehen und was sollen wir denken, wenn Tiepolos Bild schwindet vor unseren Augen.

Augenleid

Natürliche Heilung

Reinhart, ein Naturforscher, muß befürchten, daß der ständige Aufenthalt im Labor ihm das Augenlicht verdirbt. In der einschlägigen Literatur findet er den Hinweis, nichts tue den übermüdeten Augen wohler als der Anblick schöner Frauen. Ergänzend stößt er auf den Vers: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee, sie wird errötend lachen. Unverzüglich beschließt er, den Vers zum nicht laborgebundenen Forschungsgegenstand einer naturwissenschaftlichen Expedition zu machen, er läßt sein Pferd satteln und macht sich, ohne aufwendige logistische Vorbereitungen, auf den Weg. Den Schönen begegnet er, als seien sie aufgereiht, die vierte ist auch schon die rechte.

Kellers Prosa, bedingungslos allem Lebendigen zugetan, habe, so der Dichter, ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort erreicht, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns abgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie es abgrundtief zu beiden Seiten heruntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes. Im Sinngedicht scheint es zunächst so, als ginge es ohne Abgrund und Sturzgefahr ab, und für die Hautgeschichte bleibt es so bis zum Schluß, der stete Anhauch des Todes ist in die Nebengeschichten verlegt, die sich die angehenden Liebenden erzählen, so als wollten sie mit einer Art Beschwörung - bfhad uainn go léir an drochrud! - den gemeinsam zu begehenden Pfad freihalten von allem Übel. Von den Sehbeschwerden ist zunächst nicht mehr die Rede, der Naturforscher scheint geheilt. Gegen Ende nimmt er sich aber vor, künftig sorgsamer mit dem empfindlichen Sinnesorgan umzugehen.

Das von der Mutter des grünen Heinrichs unterhaltene Feuerchen hat Sebald nach Wales verlegt, wo es in der Wohnung des Onkels Evelyn brennt. Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte. Er hätte das Feuerchen freilich auch aus dem Sinngedicht exportieren können, wo die arme Baronin, in Überbietung des Walisers, nicht einmal das geringste Feuerchen für den eigenen Bedarf unterhält und das nicht wie der Onkel Evelyn aus Geiz, sondern aus allerbitterster Not. Auch das Motiv der Sehbeschwerden ist, ohne importiert zu sein aus Kellers Schriften, Sebalds Prosa nicht fremd. Beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch hatte der Erzähler bemerkt, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft seines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Nach dem Arztbesuch, in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes dann, stand eine chinesische Optikerin neben ihm, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu ihm neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte er die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie er sich einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an seine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen. Auch hier wird der Heilungsprozeß eingeleitet durch die Schönheit und Sanftheit einer Frau, aber weniger durch Aufhellung des Gesichtsfeldes als durch taktile Maßnahmen. Die Erinnerung an Susi Ahoi war wachgerufen worden durch Luciana Michelotti in Limone am Gardasee. Einmal war es dem Dichter so, als spüre er ihre Hand auf seiner Schulter. Selten genug war es vorgekommen in seinem Leben, daß er von einer ihm an sich fremden Frau angerührt worden ist. Wie Reinhart die Lucia, so hat der Dichter die Luciana dann geheiratet, wenn auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks.