Samstag, 19. August 2017

Abendstunde

Irgendwann im Herbst

Angesichts seines schwindenden Sehvermögens hatte Mme Landau Bereyter das Angebot gemacht, ihm den ganzen Pestalozzi vorzulesen. Dafür, hatte er erwidert, opfere er gern sein Augenlicht und sie möge unverzüglich damit beginnen, am besten vielleicht mit der Abendstunde eines Einsiedlers. Bernhards monomane, an einem Autor oder gar einem Buch sich festbeißende Leser und Vorleser kommen in den Sinn, immer nur Pascal, immer nur Kropotkin, immer nur Novalis, immer nur Ofterdingen. Die auserlesenen Autoren sind nicht aktuell, haben kein größeres Lesepublikum mehr und sind nicht unterwegs auf der Hauptstraße aus der Vergangenheit in die Gegenwart, auf der sich etwa Rousseau, Kant, Goethe, Hegel und Nietzsche bewegen. Den Leser aber kann eine Unruhe erfassen, die Angst etwas zu versäumt zu haben, eine Art mimetisches Begehren im Sinne Girards, vielleicht wurde er betrogen, vielleicht hätte er bei Pascal oder Novalis Zuverlässigeres über die Ordnung der Welt erfahren können als bei Rousseau oder Nietzsche, vielleicht ist die vermeintliche Hauptstraße in die Gegenwart gar nicht die Hauptstraße, sondern nur ein Holzweg.

Das Zusammenleben von Mme Landau und Bereyter ist denkbar weit entfernt von der Torturgemeinschaft des Kalkwerks, und der Leser erklärt sich die Wahl Pestalozzis leicht mit Bereyters Unterrichts- und Erziehungsbegeisterung, mimetische Unruhe wird nicht erzeugt, sofern der Leser nicht selbst ein Melamed ist und auch dann nicht, denn in diesem Fall wäre er mit Pestalozzi bereits hinreichend vertraut. Schwer zu sagen, was Bereyter an der von ihm bevorzugten, im hohen Predigtstil gehaltenen und, abgesehen vom Titel, eigentlich in jeder Hinsicht unerträglichen Abhandlung gefunden haben mag. Webt da ein verborgener Hintersinn? Wie auch immer, als Eremit in seiner Abendstunde, so wird er sich gefühlt haben und irgendwann im Herbst, in den Abendstunden des Jahres, macht er sich auf nach S. in Deutschland, um, wie er sagt, seine Wohnung dort aufzulösen, stattdessen legt er sich eine kleine Strecke außerhalb von S. vor den Zug. Vom Suizid hatte er zuvor nie geredet, anders als Bernhards Helden, die fortwährend davon reden und es aufschieben, um noch länger davon reden zu können. Wer sich in Gefahr begibt, kann darin umkommen, hatte schon immer für die Fahrten nach S. gegolten. Wäre er in der Schweizer Vorleseidylle verblieben, hätte die Erzählung womöglich mit dem Satz enden können: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Es ging aber nicht darum, die Arbeit der Brüder Grimm fortzuschreiben.

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