Natürliche Heilung
Reinhart, ein Naturforscher, muß befürchten, daß der ständige Aufenthalt im Labor ihm das Augenlicht verdirbt. In der einschlägigen Literatur findet er den Hinweis, nichts tue den übermüdeten Augen wohler als der Anblick schöner Frauen. Ergänzend stößt er auf den Vers: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee, sie wird errötend lachen. Unverzüglich beschließt er, den Vers zum nicht laborgebundenen Forschungsgegenstand einer naturwissenschaftlichen Expedition zu machen, er läßt sein Pferd satteln und macht sich, ohne aufwendige logistische Vorbereitungen, auf den Weg. Den Schönen begegnet er, als seien sie aufgereiht, die vierte ist auch schon die rechte.
Kellers Prosa, bedingungslos allem Lebendigen zugetan, habe, so der Dichter, ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort erreicht, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns abgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie es abgrundtief zu beiden Seiten heruntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes. Im Sinngedicht scheint es zunächst so, als ginge es ohne Abgrund und Sturzgefahr ab, und für die Hautgeschichte bleibt es so bis zum Schluß, der stete Anhauch des Todes ist in die Nebengeschichten verlegt, die sich die angehenden Liebenden erzählen, so als wollten sie mit einer Art Beschwörung - bfhad uainn go léir an drochrud! - den gemeinsam zu begehenden Pfad freihalten von allem Übel. Von den Sehbeschwerden ist zunächst nicht mehr die Rede, der Naturforscher scheint geheilt. Gegen Ende nimmt er sich aber vor, künftig sorgsamer mit dem empfindlichen Sinnesorgan umzugehen.
Das von der Mutter des grünen Heinrichs unterhaltene Feuerchen hat Sebald nach Wales verlegt, wo es in der Wohnung des Onkels Evelyn brennt. Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte. Er hätte das Feuerchen freilich auch aus dem Sinngedicht exportieren können, wo die arme Baronin, in Überbietung des Walisers, nicht einmal das geringste Feuerchen für den eigenen Bedarf unterhält und das nicht wie der Onkel Evelyn aus Geiz, sondern aus allerbitterster Not. Auch das Motiv der Sehbeschwerden ist, ohne importiert zu sein aus Kellers Schriften, Sebalds Prosa nicht fremd. Beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch hatte der Erzähler bemerkt, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft seines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Nach dem Arztbesuch, in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes dann, stand eine chinesische Optikerin neben ihm, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu ihm neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte er die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie er sich einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an seine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen. Auch hier wird der Heilungsprozeß eingeleitet durch die Schönheit und Sanftheit einer Frau, aber weniger durch Aufhellung des Gesichtsfeldes als durch taktile Maßnahmen. Die Erinnerung an Susi Ahoi war wachgerufen worden durch Luciana Michelotti in Limone am Gardasee. Einmal war es dem Dichter so, als spüre er ihre Hand auf seiner Schulter. Selten genug war es vorgekommen in seinem Leben, daß er von einer ihm an sich fremden Frau angerührt worden ist. Wie Reinhart die Lucia, so hat der Dichter die Luciana dann geheiratet, wenn auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks.
Reinhart, ein Naturforscher, muß befürchten, daß der ständige Aufenthalt im Labor ihm das Augenlicht verdirbt. In der einschlägigen Literatur findet er den Hinweis, nichts tue den übermüdeten Augen wohler als der Anblick schöner Frauen. Ergänzend stößt er auf den Vers: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee, sie wird errötend lachen. Unverzüglich beschließt er, den Vers zum nicht laborgebundenen Forschungsgegenstand einer naturwissenschaftlichen Expedition zu machen, er läßt sein Pferd satteln und macht sich, ohne aufwendige logistische Vorbereitungen, auf den Weg. Den Schönen begegnet er, als seien sie aufgereiht, die vierte ist auch schon die rechte.
Kellers Prosa, bedingungslos allem Lebendigen zugetan, habe, so der Dichter, ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort erreicht, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns abgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie es abgrundtief zu beiden Seiten heruntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen hereinziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes. Im Sinngedicht scheint es zunächst so, als ginge es ohne Abgrund und Sturzgefahr ab, und für die Hautgeschichte bleibt es so bis zum Schluß, der stete Anhauch des Todes ist in die Nebengeschichten verlegt, die sich die angehenden Liebenden erzählen, so als wollten sie mit einer Art Beschwörung - bfhad uainn go léir an drochrud! - den gemeinsam zu begehenden Pfad freihalten von allem Übel. Von den Sehbeschwerden ist zunächst nicht mehr die Rede, der Naturforscher scheint geheilt. Gegen Ende nimmt er sich aber vor, künftig sorgsamer mit dem empfindlichen Sinnesorgan umzugehen.
Das von der Mutter des grünen Heinrichs unterhaltene Feuerchen hat Sebald nach Wales verlegt, wo es in der Wohnung des Onkels Evelyn brennt. Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte. Er hätte das Feuerchen freilich auch aus dem Sinngedicht exportieren können, wo die arme Baronin, in Überbietung des Walisers, nicht einmal das geringste Feuerchen für den eigenen Bedarf unterhält und das nicht wie der Onkel Evelyn aus Geiz, sondern aus allerbitterster Not. Auch das Motiv der Sehbeschwerden ist, ohne importiert zu sein aus Kellers Schriften, Sebalds Prosa nicht fremd. Beim Heraussuchen einer Anschrift in einem Telephonbuch hatte der Erzähler bemerkt, daß, sozusagen über Nacht, die Sehkraft seines rechten Auges fast gänzlich verschwunden war. Nach dem Arztbesuch, in der verdunkelten Konsultationskammer eines Optikergeschäftes dann, stand eine chinesische Optikerin neben ihm, die, wie ein kleines Schild an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wenn sie sich zu ihm neigte, um die Linsen auszuwechseln, spürte er die kühle, von ihr ausgehende Fürsorglichkeit, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie er sich einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen an seine wie so oft vor Schmerz klopfenden Schläfen. Auch hier wird der Heilungsprozeß eingeleitet durch die Schönheit und Sanftheit einer Frau, aber weniger durch Aufhellung des Gesichtsfeldes als durch taktile Maßnahmen. Die Erinnerung an Susi Ahoi war wachgerufen worden durch Luciana Michelotti in Limone am Gardasee. Einmal war es dem Dichter so, als spüre er ihre Hand auf seiner Schulter. Selten genug war es vorgekommen in seinem Leben, daß er von einer ihm an sich fremden Frau angerührt worden ist. Wie Reinhart die Lucia, so hat der Dichter die Luciana dann geheiratet, wenn auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks.
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