Dienstag, 27. August 2019

Heiligkeit

Einst und jetzt

An der Heiligkeit der frühen Heiligen ist nicht zu zweifeln, sie sind kanonisiert, das nach Jahrhunderten zu messende Alter spricht für sie und mehr noch die Bilder. Nehmen wir den Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, den heiligen Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Sicher und unverrückbar steht er da in seiner Heiligkeit. Ein Sonderfall ist ohne Frage der heilige Georg. Schon bei Grünewald schickt er sich an, über die Schwelle des Rahmens und damit aus der Gemeinschaft der Heiligen heraustreten. Nicht ohne Grund schaut der heilige Antonius daher mit strengem Blick auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Das Weltliche gewinnt immer mehr die Oberhand, bis in die Neuzeit, in der Georg unter dem Decknamen Giorgio Santini den Beruf eines Hochseilartisten ausübt. Die Eskapaden haben ihm nicht geschadet, er ist nach wie vor einer der beliebtesten Heiligen und macht in seiner reformierten Erscheinung vor allem Mut, was die Heiligkeit in diesen unseren Tagen anbelangt. Die unlängst frisch Kanonisierten allerdings können kaum überzeugen, zu alltäglich und banal starren uns ihre Photographien an, und auch ein auf dem Kopf stehendes Bild von Baselitz brächte die Heiligkeit nicht zuverlässig zum Ausdruck. Der Dichter beobachtet das nichtkanonisierte Heiligwerden der Ashburys denn auch ohne Bildbeigabe, jeder mag sich nach eigenem Vermögen vorstellen, wie Mrs. Ashbury bei ihrer nur halb gelungenen Himmelfahrt im Plafond steckenbleibt. Die Heiligkeit ist im übrigen ein frühes Feld der Gleichberechtigung, die heiligen Frauen nicht weniger bedeutend als die heiligen Männer, man denke an die heilige Thekla, an die heilige Teresa von Avila, Ciorans Liebling, und alle überragend, eigentlich schon nicht mehr heilig, sondern göttlich, die Mutter Jesu, Madre de Dios, Mam Duw. Grundsätzlich der Heiligkeit verdächtig sind die Ordensschwestern, so auch die Franziskanerin im Zug nach Mailand. Die Schwester las ihr Brevier, das buntgekleidete Mädchen ihr gegenüber, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, abwesend und anwesend zugleich, und zu bewundern war der tiefe Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. In der schönen Eintracht von Nonne und Weltkind findet sich die vom heiligen Georg geprägte Verbindung von Heiligkeit und Weltlichkeit wieder. Photos der beiden Schönen bleiben uns mit Bedacht vorenthalten, ihre Schönheit erwächst aus den Worten. Bei der Mathild Seelos sind keimende Heiligkeit und Weltlichkeit in eine zeitliche Abfolge gebracht. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten. Zur Synthese kommt es dann in ihrer Bibliothek, neben zahlreichen religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein finden sich, mit den geistigen Schriften vermischt, Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun. Ihr Leben gleicht fortan dem einer säkularen Privatordensfrau, ob das zur Heiligsprechung reicht, ist fraglich, Heiligsprechung aber ist auch nicht angestrebt.

Freitag, 23. August 2019

Harry Morgan

Kein Modell
Der Umstand, daß der Dichter sich nicht als Hemingway-Double eignet, befreit in seiner Evidenz den Leser von der Aufgabe, die kurze Bemerkung weiter auszumalen, wonach die Bemühungen, im sechzehnten oder siebzehnten Lebensjahr die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an sich auszubilden von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Nachdenklich mag den Leser aber die Angabe stimmen, gerade Hemingway habe die wenn auch nur kurzfristige Amerikabegeisterung des jugendlichen Dichters beflügelt, sehen wir Hemingways Helden doch kaum je in den USA und vielmehr in Afrika, in Paris, in Spanien, in Italien, im Schwarzwald auch und in der Karibik. Harry Morgan, der Protagonist des Romans To Have and Have not, den man mit guten Gründen anderen Romanen Hemingways vorziehen mag, ist mit Wohnsitz auf den Florida Keys und somit in den USA gemeldet, benutzt aber weder das Auto noch das Pferd, Reisemittel, mit denen der junge Dichter sich unterwegs in den USA sieht, und ist vielmehr zum Broterwerb mit dem Boot in notgedrungen dunklen, hochgefährlichen und letztendlich tödlichen Geschäften zwischen Kuba und den Keys unterwegs, offen- sichtlich kein Modell für die Reise- und Landerkundigungsabsichten des jugendlichen Allgäuers.

Donnerstag, 22. August 2019

L‘ultimo giorno della gioventú

Sehnen

Wir lernen den Dichter bei seiner ersten Italienreise im Jahre 1980 als einen Mann in mittleren Jahren kennen, eher noch jung. Wir haben eine wenig detailreichen Einblick in seine Kindheit in der Ortschaft W. In seiner Jugend durchlebte er eine kurze Phase der imaginären Amerikanisierung, jung war er auch noch bei seiner Ankunft in Manchester. Jung ist er auch noch, als er mit Clara in Hingham auf Wohnungssuche ist. Was er als den letzten Tag seiner Jugend ansieht, bleibt und verborgen. Gern stellt man eine Verbindung zum Ende des Junggesellenlebens her. Folgt man dieser Spur, wird man beim Dichter nicht fündig, er datiert diesen Tag nicht genauer, verschweigt ihn. Bei Kafka gestaltet sich die Lage ebenfalls schwierig, soll man den Anfang der Romanze mit Felice Bauer werten oder ihr endgültige Ende fünf Jahre später, oder soll man sie wegen ihres Scheiterns gar nicht heranziehen. Delfini verlegt den Ultimo giorno della gioventú seines Helden Dirocchi eher spät in dessen einundvierzigstes Lebensjahr. Immer wieder erzählt Delfini von Liebesgeschichten, die schon ewig dauern, ohne auch nur begonnen zu haben. Neben dem wahren Leben existiert ein zweites, das nur aus Sehnsucht und Nichts besteht, am ultimo giorno della gioventú löst sich das Sehnen endgültig auf im Nichts. Der Dichter sieht den Sinn der unablässigen Fahrten des Gracchus, der so lange schon wartet auf seinen letzten Tag, in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe und verleiht Delfinis Thema aus einer anderen Perspektive zusätzliche Plausibilität. L’anno dopo, auch vom Jahr danach erzählt Delfini, aber das ist eine andere Geschichte mit anderem Personal, wenn auch mit ähnlichem Verlauf und ähnlichem Ausgang.

Dienstag, 20. August 2019

Schausteller

Vereisung

Mit den Artisten und Zirkusleuten sind wir vertraut, in Mailand hat der Dichter uns mit der Artistenfamilie Santini bekannt gemacht und in Paris mit den Zirkusleuten Bastiani. In beiden Fällen handelt es sich um einen relativ umfangreichen und insofern fast schon archaischen Familienverband in der Tradition mittelalterlicher Gaukler. Die Santinis reichen gar ins frühe Mittelalter zurück, wenn nicht in die späte Antike, ist doch Giorgio Santini, das Familienoberhaupt, unschwer erkennbar als San Giorgio, einmal an dem nur leicht verstellten Namen und zum anderen an dem Strohhut, den er in der Hand hält, haargenau der gleiche, mit dem Pisanello den heiligen Drachentöter ausgestattet hatte. Der heilige Georg ist aber wiederum der Namenspatron des Dichters und in mancher Hinsicht sein Vorbild. Aber nicht nur vom heiligen Georg her, sondern auch über den Himmelsfürsten Sand Sebolten nähert sich der Dichter der Artistenwelt. Sand Sebolt entfacht im Herd eines um Holz geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz dem Dichter von besonderer Bedeutung gewesen, und er hat sich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen: ein Satz, der seine Schönheit auf den ersten Blick aus seiner Unverständlichkeit bezieht, so unverständlich wie ein doppelter Salto auf dem Hochseil, einsichtig wird gerade an dieser Stelle, warum dem Philosophen Agamben nach eigener Auskunft die Bücher die liebsten sind, die er nicht versteht, deren Worte er nur ekstatisch zu buchstabieren vermag. Aber dann dämmert es doch, die inwendige Vereisung spürt der Dichter in sich selbst, das arme Herz ist das seine, und in schlechten Augenblicken und unter Schwindelgefühlen erscheint ihm seine Prosakunst als schwindelhafte Schaustellerei, die sein Herz nur scheinbar auflodern läßt. Die Wunder der Heiligen, die Kunststücke der Artisten, die Wortkunst der Dichter fallen in die gleiche Kategorie, mal erscheint alles als Wunder, mal alles als bloße Gaukelei und mal erscheint jedes als das, was es ist. Der Dichter kann sich mal so und mal so stellen, er hat Spielraum, Raum für das literarische Spiel. Wenn allerdings Vereisung und Verödung die unumgängliche Voraussetzung wäre, dann wäre allein Niedergeschlagenheit der Nährboden des literarischen Werkes und es wäre nichts als ein Strohfeuer.

Freitag, 16. August 2019

Tierwelt

Inklusion

J.P. Hebel gehört nicht zu den Philosophen, die die Welt verändern wollen, er findet eine schöne Ordnung im Bestehenden. Alles ist wohlaustariert, wo Undank vorkommt, ist auch Dank, Geiz und Verschwendung pendeln gegeneinander. Hebel schlägt das Buch der Natur weit auf, und auch seltsame Geschöpfe wie die fliegenden Fische und die Prozessionsspinner, Bombyx Processionis, finden den eigens für sie vorgesehenen Platz. Wer aber kann das Erstaunen und Entsetzen des Erzählers beschreiben, als er, eine Prozession der Raupen beobachtend, von einer Laune bewegt, eine der Raupen aus dem Zug nahm, woraufhin diese wie tot liegenblieb, außerstande zurückzukehren an ihre kaum eine Spanne entfernten Platz. Und nicht nur die aus der Bahn genommene Raupe, der ganze Zug rührte sich nicht mehr. Auch die Rückversetzung der Raupe an ihren alten Platz konnte die Störung nicht beheben, die vielmehr als ein kollektives Todesurteil wahrgenommen wurde. Es war ihm, als hätte er Hebels Weltordnung zum Einsturz gebracht.

Während der Prozessionsspinnerplage in diesem Jahr wäre mancher froh gewesen, hätte er von dieser einfachen, wenig aufwendigen und umweltschonenden Weise der Schädlingsbekämpfung gewußt, die einfachen Dinge aber werden übersehen. Überhaupt und obwohl das Naturstudium um die Beschreibung eines vollkommen gesetzmäßigen Systems bemüht ist, geht es der heutigen Zeit vor allem darum, Kreaturen herauszustellen, die sich vor allem auszeichnen durch ihre abstruse Gestalt oder durch ihr aberwitziges Verhalten – herauszustellen und nicht, wie Hebel, einzubinden. Schon in Brehms Thierleben kamen die Ehrenplätze dem Krokodil und dem Ameisenbär, dem Armadillo, dem Seepferdchen und dem Pelikan zu. Auf dem Bildschirm sieht man heute ein Heer von Pinguinen, das die ganze Winterfinsternis hindurch unbeweglich in den Eisstürmen der Antarktis steht, und in für besonders lehrreich geltenden Programmen wie Nature Watch oder Survival sieht man eher irgendein Monstrum bei seinem Paarungsgeschäft auf dem Grunde des Baikalsees als eine gewöhnliche Amsel. Eine Spektakelgesellschaft urteilt Agamben und der Dichter wird ihm zustimmen, aber war es nicht schon immer so? Auch bereits Thomas Browne hatte zeitweise seine Forschungen zur isomorphen Linie der Quincunx-Signatur eingestellt, um sich allerlei teils wirklichen, teils imaginären Wesen wie dem Chamäleon, dem Vogel Strauß, dem Greif und dem Phoenix zu widmen. Er widerlegt die Existenz der Fabelwesen, die verwunderlichen Ausgeburten aber, von denen man weiß, daß es sie tatsächlich gibt, lassen es als möglich erscheinen, daß auch die erfundenen Bestien nicht völlig aus der Luft gegriffen sind.

Thomas Browne mit dem Greif und dem Phoenix, das ist die fernere Vergangenheit, als die Erkenntnis der unendlichen, über jede Vernunftgrenze sich hinwegsetzenden Mutationen der Natur aufkam. Nature Watch mit dem Ungeheuer auf dem Grund des Baikalsees, das ist die Gegenwart, zu der es weiter nichts zu sagen gibt. Hebel mit dem eingefriedeten Prozessionsspinner, das war der Dreh- und Angelpunkt, als alles hätte noch ganz anders kommen können, als es dann tatsächlich kam.

Sonntag, 11. August 2019

Theorie des Rechts

Stato di emergenza

Die Vergehen waren zu gewaltig, als daß menschliches Recht sie sühnen könnte, Gott der Herr greift ein, und so ist noch heute, hundert Jahre nach den Kongogreueln, eine in einer verbreiteten Verkrüppelung der belgischen Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit auffällig, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. In Terezín, und in Oświęcim wird es nicht anders sein, kann es nahezu eine Viertelstunde dauern, bis man den ersten Menschen erblickt, eine vornübergebeugte Gestalt in der Regel, die sich unendlich langsam an einem Stock voranbewegt und doch auf einmal verschwunden ist. Sonst begegnet einem den ganzen Morgen in den schnurgeraden Straßen von Terezín niemand außer einem Geistesgestörten in einem abgerissenen Anzug, wild fuchtelnd, ehe auch er, mitten im Davonspringen vom Erdboden verschluckt wird.

Der Rechtsalltag kann den Richter Farrar nicht begeistern, jetzt, im Ruhestand, denkt er mit einem gewissen Entsetzen an das mehr als halbe Jahrhundert, das er in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht hat. Gerade vor dem Hintergrund seiner weit gestreuten Erfahrungen hat er offenbar eine geringe Meinung vom Recht. Die im breiten Publikum populärste Sparte des Rechts ist das Strafrecht. Auch der Dichter ist mit einschlägigen Vorkommnissen konfrontiert worden, so in Holland, wo ein dunkelhäutiger Mensch auf ihn zustürzte, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand. In Mailand wird er selbst Opfer eines versuchten Straßenraubs, kann die beiden Strolche aber mit seiner wehrhaft eingesetzten Reisetasche in die Flucht schlagen. Zu einem Polizeieinsatz oder gar zu einer Anklage kommt es offenbar in beiden Fällen nicht. Dem auf Rechtsgrundlagen beruhenden öffentlichen Verwaltungswesen, einer wesentlichen Komponente des Rechtsstaates, mißt der Dichter offenbar keine größere Bedeutung zu. Eine polizeiliche Bestätigung seines Paßverlustes läßt er sich nur ausstellen, um seine Gastgeber nicht zu enttäuschen, als er den Beleg in der Hand hält, verwandelt er sich ihm in einen Trauschein. Im deutschen Konsulat in der Via Solferino dann widmet er der Artistenfamilie Santini weit mehr Aufmerksamkeit als dem zwergwüchsigen Konsularbeamten auf seinem barhockerähnlichen Stuhl.

Auch beim Jäger Gracchus handelt es sich um einen Rechtfall, einen Fall von Schuld oder Unschuld. Verzweifelt fragt Gracchus, ist das eine Schuld, ich war Jäger, lauerte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Der große Jäger vom Schwarzwald hieß ich. Ist das eine Schuld? Roberto Calasso geht im Tonfall des Jägers auf die Frage ein und antwortet: Sì, è una colpa. Anzi, è la colpa. Nachdem der Mensch seit ewigen Zeiten von unbesiegbaren Raubtieren gejagt wurde, hat er die Waffen erfunden und ist selbst zum Raubtier geworden. Die anderen Tiere haben dem Menschen diesen Wechsel nicht verziehen. Loro hanno continuato a essere fedelmente ciò che erano. Uccidevano e si facevano uccidere secondo le antiche regole. Soltanto l'uomo osava espandere il repertorio dei suoi gesti. Gracchus era l'ultima testimonianza di quel passaggio, l'ultima apparizione del cacciatore allo stato puro. Calasso wird nicht unbestritten Recht behalten, einige werden dem Jäger zustimmen und auf Unschuld plädieren, andere werden andere Schuldgründe vorbringen. Der Dichter etwa sieht den Sinn der unablässigen Fahrten des Gracchus in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, das ist naturgemäß ein weitaus mystischerer Zugang als die realistische und sachlich unmittelbar einleuchtende Schuldzuweisung Calassos. Kafka selbst äußert sich nicht zur Schuld oder Unschuld des Jägers. Dabei ist er ein geradezu abgründiger Rechtsexperte, und nicht umsonst läßt G. Agamben bei seinem Versuch in Homo Sacer zum Quellgebiet des Rechts vorzudringen, neben C. Schmitt und W. Benjamin auch F. Kafka zu als ratgebenden Vertreter eines vertieften Rechtsverständnis zu.

Mittwoch, 7. August 2019

Delfini

Euskara

Warum hat der Dichter so spät sein erstes Prosawerk geschrieben und veröffentlicht? Lange war er beruflich mit den Schriften anderer beschäftigt, und irgendwann muß der Verdacht aufgekommen sein, er könne es womöglich besser als sie. Proust hat sein Zögern immer wieder thematisiert, jeden Morgen hat er geschworen, heute an den Schreibtisch und ans Werk zugehen, um dann doch wieder einer Einladung der Marquise X oder des Grafen Y zu folgen. Er mußte die Zeit, seine Zeit, auch in dieser Hinsicht verlieren, um sie dann wieder einholen zu können. Antonio Delfini, den Giorgio Agamben einen großen italienischen Scrittore italiano des Novecento nennt, beschreibt seine Lage ganz ähnlich: Se avessi avuto altri amici, o non li avessi affato, sarei diventato un gran narratore, prima dalla caduta del fascismo; e dopo lo sarei rimasto. Ma è probalile che se non avessi avuto gli amici che ho avuto, io non avrei mai scritto un racconto o un quasi racconto. Was zunächst nach Klage und Anklage klingt, erweist sich als Dilemma ähnlich dem des Helden Bernhards in Beton, der in der Anwesenheit seiner Schwester nicht schreiben kann, in ihrer Abwesenheit aber schon gar nicht.

Delfinis bekanntestes Buch ist Il ricordo della basca. Es handelt sich um eine Sammlung von zehn (dieci) Erzählungen und einer Einleitung, Introduzione, die, leicht übertrieben, auf die gleiche Seitenzahl kommt wie die zehn Erzählungen zusammen. Tatsächlich handelt es sich um eine zwanzig Jahre nach den Erzählungen geschriebene Autobiographie in Kürze, ähnlich furios vorgetragen wie Modianos Un pedigree und vielleicht die schönste Erzählung unter den Erzählungen. Delfini hat nicht spät angefangen mit dem Schreiben, aber er hat wenig geschrieben. Die Introduzione vermittelt den Eindruck, als habe er in seinem Leben überhaupt wenig anderes getan, als, mit wenigen Ausnahmen, nichts zu schreiben. Agamben benennt Delfini als Zeuge für seine linguistische Theorie, wonach eine Sprache erst zu sich kommt, wenn sie jede Bedeutung verliert. Er selbst, Agamben, sei hingerissen von Büchern, die er nicht versteht, die er nur so verständnislos wie ekstatische buchstabiere. Delfini schließ die Erzählung Il ricordo della basca aus dem Erzählband Il ricordo della basca mit einem Vers in baskischer Sprache, einer Sprache, die, abgesehen von einigen Basken, niemand versteht und somit eine ideale, nur ekstatisch buchstabierbare Sprache im Sinne Agambens: Ene izar maitea ene charmagarria ichilik zureikhustera ytennitzaitu leihora: koblatzen dudalarik zande lokharturik: gabazko ametsa bezala ene kantua zaitsula. Delfini mußte noch nicht mit der hinterhältigen Möglichkeit der automatischen Übersetzung rechnen, die dann doch einen, wenn auch möglicherweise irreführenden Abglanz des Verses vermittelt: Mein lieber Stern, mein bezaubernder kleiner Stern schloß meine Sicht zum Fenster. Während ich träume, schläfst du ein: du singst mich wie einen Traum.

Ewiges Leben

Gespräche ohne Worte

Gespräche verlaufen meistens so, daß der Gesprächspartner mehr oder weniger ausführlich vorträgt, während der Dichter schweigt oder doch seine Worte dem Leser verschweigt. Ab und zu kommt es zu Gesprächen ganz ohne Worte, so etwa in der alten Pariser Nationalbibliothek in der Rue Richelieu, wo meistens ein gepflegter älterer Herr neben ihm sitzt, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitet und inzwischen an den Buchstaben K gelangt ist, so daß er das Werk nicht wird zu Ende bringen können. Worte werden zwischen den beiden Nachbarn nicht gewechselt, sie sind auch nicht zulässig im Lesesaal, Marie Verneuil schiebt dem Dichter nur stumm einen Kassiber zu, um sich dann im Arkadencafé mit ihm zu unterhalten. Der Buchstabe K mag gut lesbar auf den Karteikarten gestanden haben, die der Kirchengeschichtler freilich mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllt. Woher die Kenntnis der schon an die Ewigkeit grenzenden Dauer der Arbeit stammt, bleibt im Dunklen.

Im Wartesaal des deutschen Konsulats in der Via Solferino trifft der Dichter aus eine sechsköpfige Artistenfamilie, Vater Mutter, Großmutter und drei Töchter, in deren Gesellschaft ihm die beträchtliche Wartezeit wie im Flug. Als Liebhaber der Malerei Pisanellos hat der Dichter den Vater an dem wunderbaren, formvollendeten und weitkrempigen Strohhut, den er in der Hand drehte, sogleich zweifelsfrei als San Giorgio erkannt, die Camouflage als Giorgio Santini nur eine zusätzliche Bestätigung. Wie aber weiß er von dem Namen Santini? Alles wird ihm daran gelegen sein, den Zauber der Artistenfamilie, der drei Mädchen in Sommerkleidern aus feinstem Batist mit Windrädchen, Teleskop und Sonnenschirm nicht durch triviale Erkundigungen und banales Gespräch zu zerstören, zudem fragt man einen Heiligen nicht einfach nach seinem Namen, und er wird seinerseits mit seinem Namen nicht renommieren. Der Dichter könnte den zwergwüchsigen Konsularbeamten, zu dem er endlich vorgelassen wird, um Auskunft gebeten haben, der Datenschutz war damals noch nicht so penibel entwickelt wie heute. Wie es sich schließlich herausstellte, hießen sie &c., lautet der Text, und das bedeutet ganz einfach: Genaueres über die Art der Verständigung werden wir nicht erfahren.

Donnerstag, 1. August 2019

Verständigung

Sprachabstimmung

Agamben zitiert eine Notiz aus Benjamins Begriff der Geschichte, wonach Sonntagskinder die Sprache der Vögel verstehen. Es ist wohl eine überkommene, von Benjamin nur weitergereichte Erkenntnis. Sebald ist an einem Donnerstag geboren, und so stellt sich die Frage, wie der Gedankenaustausch mit den Dohlen und der weißköpfigen Amsel in den Anlagen vor dem Wiener Rathaus zustande kommen konnte. Eine besondere Nähe von Donnerstag und Sonntag und eine darauf beruhende Verwechslung, Donnerstagskind als Sonntagskind, ist auszuschließen. Unter der, nicht gegebenen, Bedingung, daß der Donnerstag Donntag hieße, wäre allenfalls eine akustische Überlagerung denkbar. Wenn man sich also nicht in der Vogelsprache unterhalten kann, dann vielleicht in der Menschensprache, aber selbst mit sogenannten sprachbegabten Vögeln ist eine gehaltvolle Konversation nicht möglich. Er habe einiges geredet, formuliert der Dichter denn auch vorsichtig, die Vögel werden einen Beitrag in ihrer eigenen Sprache geleistet haben. Man kennt das aus den Gesprächen mit seiner Katze, jeder redet auf den anderen ein, ohne daß man einander verstehen würde, und doch wird bei dem Wortwechsel ein gewisser gemeinsamer Verständnisbereich freigelegt. Die Sprache wird bei Mensch und Tier tradiert von den Eltern auf die Kinder und so fort, für die Menschen ist sie ist das Rückgrat der Geschichte, der mögliche Beginn von Geschichte oder doch der Illusion von Geschichte als Ergänzung der Evolution. Dohlen und Amseln haben keine Geschichte, nur das bloße gefiederte Leben, nur das bloße, das nackte Leben, kein Grund der Geringschätzung.

Herz der Finsternis

Wahl der Sprache

Den Weg ins professorale Lehramt hatte der Dichter sich vorwiegend über Schriftsteller geebnet, die ihm moralisch oder literarisch oder moralisch und literarisch mißfielen, Logis im Landhaus hat er nur literarischen Freunden gewährt, Autoren, die im literarischen Erzählwerk auftreten, Chateaubriand, Swinburne, Conrad, bleiben unbenotet. In der Prosa geht es immer um den Autor, sein Leben, weniger um sein Werk. Conrad erfährt dabei die ausführlichste Behandlung, sein Lebensverlauf wird geschildert, die Kindheit und Jugend als Józef Konrad Korzeniowski in Polen, der frühe Tod der Eltern, der rätselhafte Entschluß, Kapitän zu werden, die Zeit in Frankreich, die erste Zeit in England, einsam unter lauter Engländern und Engländerinnen, die ersten Seefahrten, schließlich die Bewerbung als Kapitän auf einem Flußdampfer auf dem Kongofluß. In verkürzter, gewohnt eleganter Form wird der erste Teil des ersten Kapitels von The Heart of Darkness paraphrasiert, zum zweiten und dritten Kapitel dringen wir nicht vor und zumal nicht zur Gestalt des Kurtz, der inzwischen den meisten als Marlon Brando aus Coppolas Filmadaption vertraut ist. Die Vita erfaßt nicht Conrads letzte Lebensphase, die des immer berühmter werdenden Autors. Die Frage, ob Sebald die meist im Zentrum der Romane stehenden vertrackten moralischen Konstellationen geschätzt hat, bleibt unbeantwortet, beeindruckt hat ihm in jedem Fall die Schilderung der Greueltaten im Kongo, deren Folgen noch heute in Belgien eine auffallende Verkrüppelung und Häßlichkeit der Bevölkerung erkennen läßt, wie man sie anderwärts nur selten antrifft.

Einsam unter lauter Engländern und Engländerinnen. Bertrand Russell berichtet nach einem Besuch beim von ihm bewunderten und inzwischen berühmten Conrad, er habe nichts Seemännisches oder Englischen an sich, spreche das Englische mit hartem slawischen Akzent und sei ein polnischer Aristokrat bis in die Fingerspitzen. Gleichwohl schreibt er seine zahlreichen Romane und Erzählungen allesamt in englischer Sprache. Obwohl polnischer Aristokrat, war ihm seine Kindheitssprache womöglich zu fern gerückt, das ihm von früh an vertraute Französisch war nicht die Sprache seiner aktuellen Umgebung. Ähnlich war Beckett nach der Übersiedlung zum Französischen gewechselt, zum Vorteil seiner Literatur, mag man urteilen. Auch Nabokow, den die Angelsachsen Sebald neben Conrad gern als verpaßtes Vorbild vorhalten, war in Amerika zum Englischen übergegangen, ohne den Vorrang des Russischen in Frage zu stellen. Das Deutsche hatte während des jahrelangen Aufenthalts in Berlin keinerlei Attraktion auf ihn ausgeübt. Deutsch, so schein es, ist eine Sprache, die man wegen der damit verbundenen Strapazen nicht gern erlernt, die man andererseits, wenn sie einem geschenkt wurde, verständlicher Weise auch nicht gern wieder herausrückt.