Freitag, 26. März 2021

Bäuerliches Leben

Hin und her


Der Dichter hat durchaus Sinn für die einfachen Leute, auch wenn sie im Werk nicht dominant sind. Da sind etwa die ausgewanderten Verwandten in den USA, der Schuster Evan in Wales, der Schneider Moravec in Prag, so gut wie alle Bewohner der Ortschaft W. zur Zeit seiner Kindheit, mit Ausnahme der Bauern, deren hervorstechendes Merkmal in seiner Erinnerung die Trunksucht war. Vollends entfremdet haben sie sich ihm in Zeiten der EU, deren Überweisungen sie, wie er in einem Interview bemerkt, schweinisch reich gemacht haben. Eine Romantisierung des bäuerlichen Lebens ist nicht mehr möglich. Eine ganz andere Bedeutung hatte hundert Jahre zuvor die das überwältigende Gros der russischen Bevölkerung stellende Bauernschaft in Tolstois Werk. Niemand, der Krieg und Frieden auch nur einmal gelesen hat, wird die Szene vergessen haben, als Natascha Rostowa am Abend eines Jagdtages mit ihrem Bruder beim zurückgezogen auf dem Land lebenden Onkel eingekehrt ist. Im Verlauf des Abends greift der Onkel zur Gitarre. Die musikalisch und tänzerisch begabte, bisher nur an Hofbälle und Arien gewöhnte Natascha spürt in ihrem Inneren sogleich ein Echo der ihr unbekannten volkstümlichen Weisen und beginnt wie selbstverständlich zu tanzen, wie sie noch nie getanzt hat. Orlando Figes‘ Buchtitel Natasha‘s Dance greift die Szene auf und entdeckt in ihr den verborgen Grund der russischen Kultur. Peter des Großen rigide Europäisierung hatte die dünne Oberschicht dem bäuerlichen Rußland weitgehend entfremdet. Tolstois Helden, Natascha, Pierre Besuchow, Lewin und nicht zuletzt auch Tolstoi selbst sind begabt, eine einheitliche russische Kultur zu sehen und bestrebt, sie wieder herzustellen. Peter der Große hatte Rußlands Elite nach Europa versetzt, Paris war ihre eigentliche Hauptstadt, man sprach Französisch, Russisch war nur noch die Sprache des Gesindes. Napoleons Einmarsch in Rußland hatte unmittelbar die Wiederbesinnung auf Rußland und das russische Leben zur Folge. Die große russische Literatur ist erst nach dem Rückzug aus Europa entflammt. Nur bestimmte und inzwischen erheblich geschrumpfte Kreise werden die Oktoberrevolution und ihre Folgen als einen zweiten Schub der Europäisierung werten. Nach wie vor sind Rußland und Europa nicht eins, wie es zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts für eine kurze Zeit schien.

Samstag, 20. März 2021

Revisor der Schöpfung

Kirchenbann


Im neunzehnten Jahrhundert, im Vormärz, trieb die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag schöne Blüten und es schien, als könne alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Ist es die Ungläubigkeit, daß tatsächlich geschehen ist, was geschah, die uns immer wieder zur Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zurückkehren läßt, so als ließe sich, wenn wir nur recht hinschauen, die Sache noch wenden, und das trotz augenfälliger Schwächen mancher Autoren? Sebalds Austerlitz diagnostiziert kolportagehafte Züge bei Balzac, Benn unangebracht Pläsierliches bei Fontane. Tolstoi allerdings, der Gigant der Erzählliteratur des Jahrhunderts, bietet kaum ernstliche Angriffsflächen. Zumal in Krieg und Frieden, Война и миръ, ist es, als ginge er sorgfältig und unter Vermeidung aller schriftstellerischen Sperenzchen in einer Prosa mit herbem Ewigkeitsklang die Schöpfung, the playground of the Lord, noch einmal durch, vor allem, aber nicht ausschließlich die den Menschen, dem vermeintlichen Protagonisten, betreffenden Passagen. Er erkennt das Herrliche, das Schlechte und das Ambivalente, festgemacht etwa an Natascha Rostowa und den anderen Rostows, an Pierre Besuchow, Marja Bolkonskaja und den anderen Bolkonskis als den Guten, an Anatole Kuragin und den anderen Kuragins als den Schlechten, an Dolochow als dem Zwiespältigen. Immer wieder wird das Seelenleben Einzelner sorgfältig buchstabiert, sei es nun das reiche Herz der Fürstin Marja, als es zur Liebe erwacht, sei es das gänzlich leere Gemüt der Gräfin Elena. Die Wege der Einzelnen lassen sich also recht gut verfolgen, auch wenn sie nicht ohne Überraschungen sind, ergeben sie doch Sinn, der Weg der Menschheit aber ist dunkel. Schon bei der Zahl zwei wird es unübersichtlich, Adam und Ewa, dann Kain und Abel, Mord und Todschlag, offenbar passen die Menschen nicht zueinander. Noch undurchsichtiger die größeren Gruppierungen bis hin zur Gesellschaft der Gesellschaft. Das Gesellschaftsleben der Elite, exemplarisch verkörpert von Anna Pawlowna Scherer und dem Fürsten Wassili Kuragin, ist nichts als sinnloser Leerlauf, Pierre Besuchow nimmt eifrig teil an dem Treiben, versteht aber rein gar nichts, er ist ein Meister des Nichtverstehens dort, wo es nichts zu verstehen gibt. Daneben verläuft, so notiert Tolstoi, ungerührt das reale Leben der Menschen mit ihren wesentlichen Interessen wie Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Ausruhen, mit ihren Interessen am Denken, an der der Wissenschaft, der Poesie, der Musik, der Liebe, Freundschaft, Haß und Leidenschaft. Die Menschheit hat ihr Geschick keineswegs in der Hand, sie wird von unsichtbaren Kräften geleitet, Krieg ebenso wie Frieden ist ihr Geschick. Tolstois Revision der Schöpfung hat einen sichtbaren Erfolg im Kirchenbann, der über ihn, den Revisor, verhängt wird. Was die Entwicklung anbelangt, so hätte vieles kommen und anders kommen können, eine auf immer mehr Warenproduktion, Handel und Akkumulation sich ausrichtende Gesellschaft war im weitgehend agrarisch orientierten Rußland noch nicht erahnbar, noch weniger das Intermezzo der zu Sowjetbürgern gewordenen Russen, die auf eine Entfesselung der Produktionskräfte setzen würden.

Unsere kleineren Brüder

In memoriam Igmu

Der Herr befiehlt den bösen Geistern hineinzufahren in die Sauherde, an die zweitausend sollen es gewesen sein, die den Abhang hinab gestürzt und ersoffen sind in der Flut. Ist unserem Herrn nicht ein böser Kunstfehler unterlaufen bei der Heilung des Gadareners, zweitausend Schweine ohne jede Schuld für die Heilung eines Irren? Der Dichter rechtet nicht mit dem Herrn er mokiert sich. Die drei abrahamitischen Religionen haben durchweg die gleiche Struktur, Gott der Herr über allem, dann der Mensch als sein Ebenbild und dann der Rest zum Verzehr und als erbauliche Dekoration. Als gegen 1750 langsam der Rückzug des Herrn begann, änderte das wenig. Descartes sah in den Tieren gefühllose Automaten, gegen Vivisektion jeglicher Art war nichts auszusetzen, Jessenins lyrische Erläuterung, bei den Tieren handele es sich um unsere kleineren Brüder, kam ihm noch nicht zu Ohren und er hätte sie auch nicht ernst genommen. Im Schöpfungsmythos der Navajos spielen unter anderem Insekten eine tragende Rolle. Gegenüber der christlichen Missionsarbeit waren die Leute aus Yootó Hahoodzo (Neumexiko) und Hoozdo Hahoodzo (Arizona) immun. Ein Schöpfergott, der sich hinsetzt, wo immer er auch sitzen mochte, und in sieben Tagen die Welt erbaut, um sich dann exklusiv nur noch um die Menschen zu kümmern, das erschien ihnen als der Gipfel des Absurden. Gegenargumente gibt es kaum.

Samstag, 13. März 2021

Durch’s Gebirge

Auf dem Kopf
 
Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg, auf der Liste der gelungensten Eingangssätze sollte dieser ganz oben stehen. Die Schwindel.Gefühle sind ein Gebirgsbuch beginnend mit dem Satz: Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36 000 Mann über den großen St. Bernhard. Zweimal, auf dem Weg von Wien nach Venedig, überwindet der Erzähler selbst das europäische Hochgebirge, im Zug und bei Nacht, so daß er sich nicht anstrengen muß und auch wenig zu sehen bekommt. Die erste Fahrt hatte, wie er sagt, kaum eine Spur in seinem Gedächtnis hinterlassen, die zweite noch weniger, geschwinder als er es je für möglich gehalten hätte verging ihm über seinen Aufzeichnungen die Zeit, und er kam erst wieder zu Bewußtsein, als der Zug von Mestre aus auf dem Eisenbahndamm die Lagune überquerte. Das sah für den Maler Tiepolo sicher anders aus, als er in bereits vorgerückten Alter 1750 von Venedig über den Brenner gezogen ist, um dann über Tels hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durch das Illertal ins Unterland zu nehmen. Tiepolos Reise geht dem Erzähler durch den Sinn, als er sich selbst, nachdem er die Höhe von Oberjoch mit dem Bus erreicht hatte, auf den Abstieg nach W. begibt, zunächst den Alpsteigtobel hinab nach Krummenbach. Im Tobel standen gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten die Hänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Ähnlich erlebt Lenz den Gang durch’s Vogesengebirge. Das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel hingen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Erleben ist nicht das richtige Wort, er geht gleichgültig dahin. Es war ihm unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Das geht, man spürt es gleich auf dieser ersten Seite, über bloße Schwindelgefühle weit hinaus.

Freitag, 12. März 2021

Beresina

Was sich tut


Die Geschichte des Franzosenkaisers Napoleon, vor allem aber die Schlacht bei Austerlitz war das Spezialgebiet der Lehrers André Hilary, auf dem ihn kaum jemand übertraf. Alle Episoden der Schlacht, alle maßgeblichen Gestalten waren ihm bis in die letzten Einzelheiten vertraut, Kolowrat und Bagration, Kutusow, Bernadotte, Miloradovich, Soult, Murat und andere mehr und doch, mußte er bekennen, im Fazit lief die bleibende Erkenntnis auf die Feststellung hinaus: Die Schlacht wogte hin und her. Zu einem ähnlichen Resultat war bereits Tolstoi gelangt. In Moskau allerdings räumte man die Niederlage der Österreicher, nicht aber die der russischen Armee ein. Im März organisierte der Graf Ilja Rostow im Englischen Klub einen Empfang zu Ehren Bagrations, der den Russen als der eigentliche Sieger von Austerlitz galt. Fürst Andrej Bolkonski, der sich während der Schlacht in der Nähe Bagrations aufhielt, hatte allerdings andere Eindrücke. Unbestritten machte Bagation zu Pferd eine gute Figur, daß er einen Überblick über des Geschehen hatte oder es gar dirigierte, davon aber konnte nicht die Rede sein. Militärische Planungen wurden noch nie auch nur in einer einzigen Detail erfüllt. Kutusows Genialität besteht darin, abwarten zu können und ein Gespür dafür zu entwickeln, was sich unbemerkt tut, und was man aktiv besser nicht tut. Seine große Stunde schlägt, als er Napoleons Rückzug soweit wie möglich tatenlos nur zuschaut. Der aufklärende Ansatz, menschliches Denken könnte den Verlauf der Dinge klären, ist längst versickert. Der Mensch denkt zwar verstärkt, lenkt aber weiterhin nicht. So wie Niels Bohr zufolge nur der die Quantentheorie versteht, der verstanden hat, daß sie nicht verstehbar ist, versteht nur der die Menschheit, der, ohne zu verstehen, ein Gespür dafür entwickelt, was sich tut. Tolstoi kann auf das wenn auch blasse und schwankende Bild eines im Verborgenen aktiven Gottes nicht verzichten, Luhmann rühmt die Kunst des Blindflugs. Im zweiten und letzten Epilog von Krieg und Frieden verläßt Tolstoi die Erzählung und betreibt über fünfzig Seiten hin eine Kritik der Geschichtswissenschaft, die Gesellschaftswissenschaft war noch nicht geboren. Tolstoi hantiert naturgemäß ein wenig ungeschickt an der noch verschlossenen Tür.

Samstag, 6. März 2021

Volle Züge

Zurück

 
Der Nachtzug von Wien nach Venedig war diesmal, mitten in den Ferialmonaten, dermaßen überfüllt, daß er die ganze Fahrt über stehen oder zwischen den sich türmenden Koffern kauern mußte mit der Folge, daß er nicht in den Schlaf, sondern in die Erinnerung versank, Erinnerungen an die erste, sieben Jahre zurückliegende Italienreise. Geschwinder als er es je für möglich gehalten hätte verging ihm über seinen Aufzeichnungen die Zeit, und er kam erst wieder zu Bewußtsein, als der Zug von Mestre aus auf dem Eisenbahndamm die Lagune überquerte. Alles in allem war die Fahrt kommoder als die im fast leeren Nachtzug sieben Jahre zuvor. Der Zug, der Jan Pradera an seinen neuen Arbeitsplatz bringen soll, ist sicher nicht weniger überfüllt. An einem Sitzplatz im Abteil, sofern es Abteile gibt, ist Pradera auch nicht gelegen. Er sitzt im Gang auf seinem Rucksack und raucht Zigaretten, mit aller Vorsicht, um niemanden Textilschäden oder gar Brandwunden zuzufügen. Auch Praderas Sinnen ist auf die Vergangenheit gerichtet, von Erinnerung an vergangene Zeit kann aber nicht gesprochen werden, eher von einem noch nicht abgeschlossenen, noch fortwährenden Augenblick am 8. Januar des Jahres 1967, den es gilt rückgängig zu machen. Dostał się pod koła, pokatulkało go i kaput, er geriet unter die Räder, wurde zerquetscht und kaputt. Alle Passagiere reden von dem Vorfall auf den Gleisen des Breslauer Bahnhofs, vom Unfalltod Zbigniew Cybulskis, der versucht hatte, auf den schon fahrenden Zug aufzuspringen, wie er es schon hunderte Male getan hatte, eigentlich immer, wenn sich die Gelegenheit ergab, es war sein Markenzeichen. Pradera beteiligt sich nicht an dem Palaver der Reisenden. Er hat zwei das Geschehene auslöschende Szenarien vor Augen. Einmal ist er selbst gerade auf den Zug aufgesprungen und reicht Cybulski die helfende Hand. Dann wieder sieht er sich mit ausgebreiteten Armen auf dem Bahnsteig, und verhindert lachend, daß Cybulski den Zug noch erreicht. Przeklęty bądz, żegarze, w którym czas nie może być cofniony, verflucht sei die Uhr, die die Zeit nicht zurücklaufen läßt. Für einen kurzen Augenblick, für wenige Stunden, für einen Tag, wenn es hoch kommt, das muß doch möglich sein. Maßlos aber wäre die Erwartung, die Uhr könne sieben Jahre zurücklaufen. Salvatore Altamura unterrichtet Adroddwr über das Treiben der GRUPPE LUDWIG, an eine rückwirkende Löschung der sinnlosen Taten der beiden jungen Leute denkt niemand.

Mittwoch, 3. März 2021

Reduktionsphilosophie

Platoniker


Die Philosophie nahm ihren Beginn nicht in Seminarräumen, sondern unter freiem Himmel, vorzugweise unter dem Himmel über Athen. Nicht wenige der frühen Vertreter des Fachs waren Exzentriker, denen die Liebe zur Weisheit auf den ersten Blick nicht anzusehen war, man denke etwa an Diogenes. Auch in unseren Tagen ist kein Ort von der Möglichkeit einer philosophischen Begegnung ausgeschlossen, am wenigsten die Bahnhöfe. Ein Dutzend Sandler und eine Sandlerin waren im Innsbrucker Bahnhof versammelt. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser-Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich diese teils kaum erst aus dem bürgerlichen Leben ausgeschiedenen, teils ganz und gar zerrütteten Tiroler Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug oder aber sie winkten voller Verachtung ab, weil sie den Gedanken, den sie gerade noch im Kopf gehabt hatten, nicht mehr in Worte fassen konnten. Nicht auszudenken, welche Gedankenperlen uns auf diese Weise entgangen sind. Konstantin Lewin stellt sich der philosophischen Frage auf aufwendige Weise, er liest, so ist es belegt, Platon, Spinoza, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, die von ihm als materialistisch eingestuften Philosophen liest er nicht. Bei all dem geht es ihm weniger um die Philosophie als solche oder das Ding an sich, sondern um Hinweise für das eigene Leben. Er experimentiert mutig, indem er bei Schopenhauer den Willen durch die Liebe ersetzt, aber auch dieser Versuch nimmt einen enttäuschenden Verlauf. Die Erlösung findet er nicht bei den großen Philosophen. Für die Familie leben, so wie die Väter und Großväter gelebt haben, das ist ein notwendiger, aber auch nicht hinreichender Ansatz. Erlösung bringt das aufgeschnappte Wort eines Muschiks: Für die Seele leben, Gott wird es vergelten. Pierre Besuchow scheint weniger anspruchsvoll als sein Nachfolger Lewin, auf Platon und seine Nachfolger, auf umfängliche Lektüre läßt er sich nicht ein, zunächst, wenn auch nicht auf Dauer, befriedigt das Freimaurertum seine philosophischen Ansprüche. Aber auch nach der Ernüchterung erklimmt er nicht die Leiter der großen Philosophie. Schon das übliche Treiben der Menschen, zumal in den Städten, ist ihm, wie dann auch Lewin, unverständlich, vollends verwirrt bis zur Orientierungslosigkeit läßt ihn das Kriegsgeschehen dastehen. Da begegnet ihm als ein Geschenk des Himmels Platon leibhaftig, ein Platon, der sich als ein entschiedener Vorplatoniker, ja, als ein prähistorischer Prävorsokratiker erweist. Platon Karatajew redet nur in festen Wortgefügen, ohne Aussage, ohne Ziel. Widersprüche fallen ihm nicht auf, bekümmern ihn nicht. Er läßt den Worten freien Lauf, bedenkt nicht weiter, was er sagt. Für Besuchow führt die Begegnung mit Platon K. zu einem, wie man heute sagen würde, Reset des Weltverständnisses. Er findet zurück zur Nichthinterfragbarkeit der Quelle des Lebens, zum philosophischen Nullpunkt, von dem alles ausgeht, zu Menschen, die nicht den Weg genommen haben, den die Menschheit genommen hat und den sie nicht hätte nehmen sollen. Hundert Jahre später notiert Cioran in der verschärften Nachfolge Tolstois, die Menschheit hätte nie über den Status eines Hirtenvolks hinauswachsen dürfen.