Freitag, 12. März 2021

Beresina

Was sich tut


Die Geschichte des Franzosenkaisers Napoleon, vor allem aber die Schlacht bei Austerlitz war das Spezialgebiet der Lehrers André Hilary, auf dem ihn kaum jemand übertraf. Alle Episoden der Schlacht, alle maßgeblichen Gestalten waren ihm bis in die letzten Einzelheiten vertraut, Kolowrat und Bagration, Kutusow, Bernadotte, Miloradovich, Soult, Murat und andere mehr und doch, mußte er bekennen, im Fazit lief die bleibende Erkenntnis auf die Feststellung hinaus: Die Schlacht wogte hin und her. Zu einem ähnlichen Resultat war bereits Tolstoi gelangt. In Moskau allerdings räumte man die Niederlage der Österreicher, nicht aber die der russischen Armee ein. Im März organisierte der Graf Ilja Rostow im Englischen Klub einen Empfang zu Ehren Bagrations, der den Russen als der eigentliche Sieger von Austerlitz galt. Fürst Andrej Bolkonski, der sich während der Schlacht in der Nähe Bagrations aufhielt, hatte allerdings andere Eindrücke. Unbestritten machte Bagation zu Pferd eine gute Figur, daß er einen Überblick über des Geschehen hatte oder es gar dirigierte, davon aber konnte nicht die Rede sein. Militärische Planungen wurden noch nie auch nur in einer einzigen Detail erfüllt. Kutusows Genialität besteht darin, abwarten zu können und ein Gespür dafür zu entwickeln, was sich unbemerkt tut, und was man aktiv besser nicht tut. Seine große Stunde schlägt, als er Napoleons Rückzug soweit wie möglich tatenlos nur zuschaut. Der aufklärende Ansatz, menschliches Denken könnte den Verlauf der Dinge klären, ist längst versickert. Der Mensch denkt zwar verstärkt, lenkt aber weiterhin nicht. So wie Niels Bohr zufolge nur der die Quantentheorie versteht, der verstanden hat, daß sie nicht verstehbar ist, versteht nur der die Menschheit, der, ohne zu verstehen, ein Gespür dafür entwickelt, was sich tut. Tolstoi kann auf das wenn auch blasse und schwankende Bild eines im Verborgenen aktiven Gottes nicht verzichten, Luhmann rühmt die Kunst des Blindflugs. Im zweiten und letzten Epilog von Krieg und Frieden verläßt Tolstoi die Erzählung und betreibt über fünfzig Seiten hin eine Kritik der Geschichtswissenschaft, die Gesellschaftswissenschaft war noch nicht geboren. Tolstoi hantiert naturgemäß ein wenig ungeschickt an der noch verschlossenen Tür.

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